Orinoko Arkady Fiedler Titel der polnischen Originalausgabe: „Orinoko” Ins Deutsche übertragen von Erwin Thiemann Illustriert von Eberhard Binder-Staßfurt Alle Rechte für die deutsche Ausgabe beim Verlag Neues Leben, Berlin 1960 3. Auflage, 1964 Begegnung auf dem Meer Zwei volle Tage segelten wir nun schon mit östlichem Kurs. Die unbewohnte Insel, die meinen jungen indianischen Gefährten Arnak und Wagura und mir lange Zeit Zuflucht geboten hatte, lag weit hinter uns. Zweimal war die rote Scheibe der Sonne genau vor uns aus dem Ozean getaucht. So weit das Auge reichte, war kein Schiff zu entdecken, und leer umgab uns die See. Das steigerte unsere Hoffnung. Wind und Wellen kamen aus nordöstlicher Richtung, und obwohl ungeübte Hände die Segel bedienten und widrige Strömungen uns entgegenstanden, kroch unser Schoner nicht wie eine Schildkröte dahin, sondern machte gute Fahrt.  Den ganzen ersten und auch den zweiten Tag ließen wir das Festland, das als gezackter Streifen im Süden zu erkennen war, nicht aus den Augen. An der Küste dieses Teils von Südamerika, genauer gesagt von Venezuela, zogen sich hohe Gebirge hin. Manauri und seine Indianer hielten Ausschau nach einem bestimmten Berg, an dessen Fuß ihre Dörfer lagen, wie sie mir versichert hatten. Sie nannten ihn den Geierberg. „Werdet ihr aus so großer Entfernung den Berg erkennen?’ fragte ich, und meine Stimme drückte Zweifel aus. „Uns trennen viele Meilen vom Festland, und von hier sieht eine Spitze wie die andere aus.” „Den erkennen wir, Jan. Unseren Berg kennen wir genau”, antwortete Manauri auf arawakisch, und meine jungen Freunde, Arnak und Wagura, die vier Jahre als Sklaven bei den Engländern verbracht hatten, übersetzten mir wie üblich die Worte des Häuptlings ins Englische. „Vielleicht sollten wir näher an die Küste heranfahren”, schlug ich vor. „Nein, das ist nicht nötig”, rief Manauri. „Wir könnten auf Klippen stoßen und Schiffbruch erleiden. Den Geierberg erkennen wir ganz bestimmt. Er ist so auffällig, daß er schon von weitem ins Auge springt.” Fast inbrünstig suchten unsere Augen jenen Berg, den Vorboten besserer Tage. Wir waren überzeugt, daß in den Dörfern der Arawaken unsere Not ein Ende finden werde. Nach der Flucht aus der grausamen spanischen Sklaverei auf der Insel Margarita sollten meine indianischen Freunde endlich zu den Ihren zurückkehren. Auch die sechs Negersklaven, die sich bei uns befanden, würden sicher bei dem Stamm Schutz und Gastfreundschaft finden. Und ich, der ich als Schiffbrüchiger von den Wellen an den Strand einer unbewohnten Insel gespült worden war und dort mit zwei jungen Arawaken fast eineinhalb Jahre wie Robinson gelebt hatte, hoffte, mit Hilfe der Indianer ohne Schwierigkeit vom südamerikanischen Festland zu den englischen Inseln im Karibischen Meer zu gelangen. Ich war sicher, daß die Indianer meine Hoffnungen nicht enttäuschen und von ganzem Herzen bereit sein würden, mir zu helfen — verband uns doch seit den schrecklichen Erlebnissen der letzten Tage eine treue Freundschaft! Ein Kampf auf Leben und Tod lag hinter uns. Die wütenden Verfolger der entflohenen Sklaven waren mit einem schnellen Schoner auf unserer Insel gelandet. Etwa achtzehn mit Gewehren ausgerüstete Spanier, die außerdem mehrere für die Jagd auf menschliches Wild abgerichtete Hunde mitgebracht hatten, glaubten, daß sie die wehrlosen Sklaven leicht überwältigen und ein-fangen würden. Doch diesmal sollten sie sich getäuscht haben. Ich übernahm das Kommando, gab den Geflüchteten Waffen und ließ es nicht zu, daß sie elend zugrunde gingen. Nicht nur tiefe Anteilnahme an ihrem Unglück hatte mich dazu veranlaßt, ich verteidigte gleichzeitig auch meine Haut. In erbitterten Begegnungen mit den Verfolgern mußten elf von uns ihr Leben lassen, zum Schluß aber behielten wir doch die Oberhand. Es war uns gelungen, alle Spanier zu töten und ihren Schoner zu erbeuten. Nun durchschnitten wir mit dem eroberten Schiff die Wellen des Karibischen Meeres. Nach dem errungenen Sieg waren wir frohen Muts und trachteten, den heimatlichen Strand der befreiten Indianer zu erreichen. War es unter diesen Umständen verwunderlich, daß wir mit so großer Ungeduld nach dem Geierberg Ausschau hielten, dem Zeichen der endgültigen Rettung — und daß mancher von uns während dieser beiden Tage verstohlen einen Blick zurückwarf, ob die rachgierigen Spanier nicht erneut hinter uns her wären? Doch das Schicksal war uns gnädig. Das Meer lag wie leergefegt da, der Horizont blieb ungetrübt, und der Wind blies günstig. Am Abend des zweiten Tages ließ ich die Segel reffen, um in der Dunkelheit nicht auf ein Riff zu laufen. Das Ruder vertraute ich Manauri und Arnak an, die sich in der Bedienung abwechselten. Die Nacht verlief ruhig. Als der dritte Morgen dämmerte, erhob sich plötzlich großes Geschrei auf Deck. „Die Spanier!” hallte es unheilverkündend über das Meer, als erschüttere ein unerwarteter Donnerschlag die Luft. „Sie machen Jagd auf uns!” „Fliehen wir!” „Die Verfolger sind da!” Wer noch im Schlaf lag, war mit einem Satz auf den Beinen. Ich sprang schnell ans Ruder. Hier stand Arnak, der Wache hatte. „Dort drüben, dort sind sie!” schrie er mir zu und deutete mit der Hand nach Norden. Hinter ihm standen die übrigen Indianer. Sie hatten sich eben erst den Schlaf aus den Augen gerieben. Alle blickten in die be-zeichnete Richtung, und auf ihren Gesichtern spiegelte sich Entsetzen. Die Nacht neigte sich dem Ende zu. Der Himmel verblaßte, und die Dämmerung ließ bereits die Oberfläche des Meeres und die Schaumkronen der Wellen erkennen. In der verschwimmenden Ferne tauchten gespenstische Konturen auf und verschwanden wieder. Ja, es war ein Schiff, eine große Brigantine. In dem Halbdunkel nahm sie riesenhafte Ausmaße an. Gleich uns fuhr sie mit östlichem Kurs, nur lag sie weiter draußen. Wenn das Halbdunkel die Augen nicht täuschte, war sie ungefähr eine Dreiviertelmeile von uns entfernt, vielleicht auch etwas weniger. „Alle Segel setzen!” schrie ich und ergriff das Ruder. Arnak übersetzte meinen Befehl. Sofort stürzten Manauri, Wagura und der Neger Miguel zu den Segeln und rissen durch ihr Beispiel die andern Männer mit. „Arnak, du bleibst bei mir!” rief ich dem Indianer zu, um für alle Fälle einen Dolmetscher zur Hand zu haben. Wir waren erbärmliche Seeleute! Was für ein Glück, daß ich einst mehrere Monate auf einem Kaperschiff zugebracht hatte. Doch die Arawaken, als Küstenbewohner seit Generationen eng mit dem Meer verbunden, fanden sich rasch in den Geheimnissen des Schoners und seines Takelwerks zurecht. Bald blähten sich die Segel, die wir über Nacht zur Hälfte gerefft hatten, in ihrer ganzen Größe. Das Schiff glitt schneller da-hin, und das Wasser lief laut gluckernd die Bordwände entlang. Als ich den Bug dem Land zudrehte, um von der Brigantine wegzukommen, faßte uns der Wind, der bisher fast von vorn geweht hatte, mehr von backbord, und das steigerte unsere Geschwindigkeit noch mehr. „Glaubst du, daß sie uns entdeckt haben?” fragte mich Arnak, der die Brigantine aufmerksam beobachtete. „Wahrscheinlich nicht. Noch ist es nicht richtig hell, und das Schiff hält immer noch den alten Kurs.” „Vielleicht sind sie gar nicht hinter uns her?” „Das hoffe ich auch. Es kann Zufall sein, daß sie unseren Weg kreuzen.” „Ob es ein Spanier ist?” „Wer soll das wissen!” Nachdem unsere Segel gesetzt waren, versammelten sich alle, die dabei geholfen hatten, auf dem Hinterschiff in der Nähe des Ruders. „Du fährst auf die Küste zu?” fragte Manauri besorgt. „Ja, damit wir möglichst weit von der Brigantine wegkommen”, erklärte ich ihm. „Dort ist das Meer sehr unsicher. Unter dem Wasser lauern viele Riffe.” „Wir haben keine andere Wahl, Manauri, wir müssen unser Glück auf die Probe stellen. Nimm ein paar Leute mit guten Augen, stellt euch auf dem Bug auf und beobachtet das Wasser. Sobald ihr etwas entdeckt, gebt mir ein Zeichen, nach welcher Seite ich steuern soll.” Der Häuptling eilte mit einigen Männern zum Bug, die übrigen halfen in der Takelage. Durch das Fernrohr konnte ich bereits deutlich ausmachen, daß wir wirklich eine spanische Brigantine vor uns hatten. Als es heller wurde, entdeckte uns der Spanier und nahm sofort Kurs auf den Schoner. War es bloße Neugier, die ihn auf uns zusteuern ließ, oder gehörte die Brigantine tatsächlich den Verfolgern aus Margarita? Vielleicht hatten sie beobachtet, daß wir abdrehten, und dieses Manöver hatte ihren Verdacht geweckt? Wie immer dem auch war, wir mußten ihnen entrinnen. Die Wendung der Brigantine löste bei uns begreifliche Aufregung aus. Die Absicht der Spanier war klar: Sie wollten uns aus der Nähe betrachten und feststellen, wer wir seien. Gelang ihnen dieses Vorhaben, war das gleichbedeutend mit unserem Untergang. Die Indianer und Neger in meiner Nähe warfen mir besorgte Blicke zu, als ob sie Hilfe oder Rat suchten. „Macht euch keine Sorgen!” rief ich mit schallender Stimme. „Sie holen uns nicht ein!” „Wieso bist du so sicher, Jan?” fragte Manauri. „Die Brigantine hat einen großen Tiefgang. Die Spanier werden es nicht wagen, uns in die Untiefen zu folgen. Deshalb halte ich mit dem Schoner auf das Land zu.” „Und wenn sie es wagen? Wenn es unsere Verfolger sind?” „Dann verlassen wir das Schiff und verbergen uns an Land. Aber dazu kommt es nicht. Seht nur hin! Wir sind schneller als sie. Bald werden wir die Brigantine hinter uns lassen.” Unser Schoner war lang und schmal, er ähnelte einem geschmeidigen Hecht, während die breite und schwerfällige Brigantine eher an eine Schildkröte erinnerte. Es gehörte wirklich nicht viel Scharfblick dazu, um zu merken, daß sich der Abstand zwischen den beiden Schiffen ständig vergrößerte, besonders als wir nahe der Küste wieder unseren ursprünglichen Kurs aufnahmen. Plötzlich war die Luft von einem geheimnisvollen Pfeifen er-füllt. Gleich darauf sauste ungefähr achtzig Meter neben unserer rechten Bordwand eine Kanonenkugel ins Meer und ließ eine Wasserfontäne aufsteigen. Erst danach vernahmen wir den dumpfen Knall des Abschusses. Die Spanier hatten das Feuer auf uns eröffnet. Auf dem Schoner waren alle wie gelähmt vor Entsetzen. Die Negerin Dolores, der die Ereignisse auf der Insel etwas den Geist verwirrt hatten, stieß einen gellenden Schrei aus, begann zu wehklagen und beruhigte sich erst, als die Indianerin Lasana sie behutsam in die Arme nahm und auf sie einsprach wie auf ein Kind. „Arnak”, sagte ich laut und beherrscht, damit alle sehen sollten, wie ruhig ich war. „Hole mit einigen Freunden alle unsere Waffen an Deck. Die Musketen, die Büchsen und die Pistolen. Alle werden geladen. Bringt auch die Säbel mit!” Arnak übersetzte meine Worte sofort ins Arawakische. Ein Indianer fragte: „Sollen wir auch Pulver heraufbringen?” „Natürlich”, erwiderte Arnak. „Auch Kugeln?” „Selbstverständlich.” Der Indianer schien nicht gerade sehr aufgeweckt zu sein, denn er stellte noch weitere Fragen und ließ so unnötig Zeit verstreichen. Da es mir aber auf jede Minute ankam, machte mich die Trödelei ungeduldig, und ich schrie den Indianer an: „Ihr sollt alles heraufbringen, was zum Schießen benötigt wird. Wie willst du ohne Pulver und ohne Kugeln schießen? Du bist mir der richtige Schütze!” „Werden wir mit den Musketen schießen?” „Ob wir schießen werden oder nicht, kann ich dir nicht sagen, auf alle Fälle aber ist es gut, wenn die Waffen geladen sind.” In der Eile hatte ich arawakisch gesprochen. Sicher hatte ich die Worte entsetzlich verstümmelt, aber ich hatte gesprochen und auch das vorangegangene Gespräch zwischen Arnak und dem Indianer leidlich verstanden. Ich, ein Engländer, genau gesagt ein virginischer Engländer polnischer Herkunft, sprach also arawa-kisch? Wie war das nur möglich? In diesem Augenblick schlug die zweite Kugel der Brigantine ins Wasser. Sie lag unserem Schiff bedeutend näher als die erste, aber auch sie konnte mein Erstaunen nicht dämpfen. Hatte ich doch bis zu diesem Zeitpunkt nicht die geringste Ahnung, daß ich die arawakische Sprache verstand. Woher kamen nur die Kenntnisse dieser indianischen Sprache? Mit Zauberei hatten sie nichts zu tun, im Gegenteil, die Erklärung war überaus einfach. Während des mehr als einjährigen Zusammenlebens mit Arnak und Wagura auf der einsamen Insel hatten wir uns ständig des Englischen bedient, das beide ziemlich gut verstanden. Untereinander aber sprachen die jungen Indianer ausschließlich arawa-kisch, ohne sich durch meine Anwesenheit stören zu lassen. Auf diese Weise wurde mein Gehör unwillkürlich mit dem Klang der fremden Sprache vertraut, und zwar so gründlich, daß ich mit der Zeit unbewußt einzelne Ausdrücke und später ganze Sätze aufnahm und verstand. Ich hatte dem nie Beachtung geschenkt, mir das Arawakische ganz unbemerkt, sozusagen hintenherum, angeeignet, um es jetzt, da es dringend gebraucht wurde, anzuwenden. Übrigens war das in der allgemeinen Aufregung, die auf dem Schoner herrschte, niemandem aufgefallen außer mir selbst. Als die Waffen gebracht wurden, ließ ich sie vor meinen Augen laden und griffbereit hinlegen. Währenddessen schickten uns die Spanier von Zeit zu Zeit eine Kugel herüber. Zum Glück trafen sie nicht. In der frischen Morgenbrise flog der Schoner mit vollen Segeln schnell dahin. Als die Sonne aufging, war klar zu erkennen, daß wir der Brigantine an Geschwindigkeit überlegen waren. Wir hatten uns bereits so weit von unserem Verfolger entfernt, daß uns seine Kugeln nicht mehr erreichten. Sie fielen immer weiter hinter uns ins Meer. Bald darauf mußten unsere Verfolger wohl eingesehen haben, daß ihre Bemühungen vergeblich seien, denn sie stellten das Schießen ein, änderten ihren Kurs und fuhren weiter aufs Meer hinaus. Uns allen fiel ein Stein vom Herzen, die Spannung wich übermütiger Freude. Wagura, dieser junge Spaßvogel, sprang plötzlich auf und begann zu singen und zu tanzen. Obwohl es auf dem Deck sehr eng war, störte das jetzt keinen, und alle — Manauri und seine Indianer genauso wie die Neger — ließen ihrem Frohsinn freien Lauf. Sie vollführten die possierlichsten Sprünge, und ihre fröhlichen Gesänge wurden von Lachsalven unterbrochen. Die einzigen, die nicht an dem Vergnügen teilnahmen, waren die Frauen. Sie hatten drei Feuer entzündet und waren damit beschäftigt, uns ein Frühstück zu bereiten. Auch Arnak schloß sich aus und blieb an meiner Seite. Ihn hatte ich wohl am meisten ins Herz geschlossen. Er war ein sehr tüchtiger und mutiger Indianer mit scharfem Urteilsvermögen, in seinen Zügen aber lag trotz seiner Jugend — er mochte vielleicht zwanzig Jahre alt sein — ständig ein Ausdruck traurigen Nachsinnens. Ich stand noch immer am Ruder. „Warum vergnügst du dich nicht mit den anderen?” Meine Worte enthielten einen wohlwollenden Vorwurf. „Ist dir nicht froh zu-mute?” „Doch, ich freue mich, Jan. Warum aber tanzt du nicht?” gab er zur Antwort. Der Gedanke, daß ich so tanzen könnte wie die andern, schien für ihn sehr unterhaltsam zu sein, denn der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht. „Ich tanze nicht, weil ich das Ruder halte.” „Wenn du Lust hast zu tanzen, so übergib es mir. Ich werde dich vertreten”, versuchte er mich zu necken. „Meinst du, ich wäre schon zu alt für einen Tanz?’ „Zu alt nicht mit deinen siebenundzwanzig Jahren, aber auf jeden Fall äußerst... äußerst. . .” „Was äußerst?” „Sicher äußerst sehenswert.” „Hier, nimm das Ruder. Gleich werde ich dir zeigen, wie man bei uns in den virginischen Wäldern tanzt!” Dazu kam es aber nicht, denn die Frauen riefen uns zu, daß die Stärkung fertig sei. Die Tänzer hielten inne, und alle ließen sich in fröhlicher Stimmung irgendwo auf dem Deck nieder, wo sie gerade Platz fanden. Die Brigantine, deren Vorderschiff bereits unter dem Horizont verschwunden war, bildete den Mittelpunkt der Gespräche. Es wurden die verschiedensten Vermutungen ausgetauscht, da es rätselhaft blieb, warum zum Teufel die Spanier uns angegriffen hatten. Viele meiner Gefährten stießen die geballte Faust in die Richtung des spanischen Schiffes und schickten ihm eine Verwünschung oder eine höhnische Bemerkung nach. Lasana, die junge Witwe des von den Spaniern getöteten Negers Mateo, brachte mir in einem Flaschenkürbis heißen Brei, der aus zerriebenem Mais zubereitet war, und stellte ihn in der Nähe des Ruders auf das Deck. Sie hatte auch einen hölzernen Löffel mitgebracht und legte ihn dazu. Die Indianerin war schlanker und etwas größer als ihre Stammesgefährtinnen. Ihre Bewegungen waren gewandt und anmutig, und die ganze Gestalt strahlte einnehmende Schönheit aus. Die Menschen an Bord begleiteten sie mit bewundernden Blicken und bezeigten ihr in jeder erdenklichen Weise ihre freundschaftliche Gesinnung. Ich nannte sie im stillen die „Zauberpalme”. In ihrem schmalen, zarten Gesicht fesselten besonders die Augen. Groß und schwarz, von ungewöhnlich langen Wimpern überschattet, leuchteten sie in feuchtem Glanz und waren trotz der bei den Indianern üblichen Zurückhaltung so ausdrucksvoll, daß man die ganze Seele in ihnen zu sehen glaubte. Vor allem aber waren es lebhafte und kluge Augen; sie verrieten die Fähigkeit zu starken Gefühlen und ließen erkennen, daß dieses junge Wesen selbständig zu denken vermochte. Ihr einjähriges Kind, das sie ständig bei sich trug, hatte sie auf dem Rücken festgebunden. Das bedrückende Empfinden, daß ihr Mann Mateo vor kurzem getötet worden war, hatte sie bisher einsilbig und niedergeschlagen sein lassen. Jetzt aber konnte auch sie sich der Wirkung der allgemeinen Fröhlichkeit nicht entziehen und lächelte mir freundlich zu. Nachdem sie den Maisbrei abgestellt hatte, betrachtete sie abwechselnd mein Gesicht und meine Hände, die das Ruder hielten, wobei sie ihr Wohlgefallen nicht zu verbergen suchte. Da meine Hände eine rätselhafte Begeisterung in ihr hervorzurufen schienen, fragte ich Arnak und Wagura, die in der Nähe standen, was Lasana wohl an ihnen entdeckt haben könnte. Als Antwort trat sie näher an mich heran, legte keck ihre Hände auf die meinen und sagte mit melodisch klingender Stimme: „Starke Hände, gute Hände. Man kann ihnen vertrauen.” Ich empfand lebhaft den warmen und freundschaftlichen Druck ihrer kleinen Finger. „Gib acht!” rief ich aus. „Du hältst mich so fest, daß ich das Ruder nicht bedienen kann.” „Sollte sich ein starker Mann so leicht fesseln lassen?” fragte sie gleichsam besorgt. „Von einer so schwachen Hand wie der meinen? Oder bist du vielleicht doch schwach?” Schalkhaft betrachtete sie ihre Hände, die immer noch auf den meinen ruhten, und blickte dann ernst zu mir auf. „Dir gegenüber bin ich vielleicht wirklich schwach”, gab ich zu. Da sah sie mir so herzlich und vertraut in die Augen, daß ich ganz verlegen wurde und ein Gefühl hatte, als liefen mir Schauer über den Rücken. „Nein, du bist nicht schwach”, stellte sie dann fest, nachdem sie mich von oben bis unten prüfend gemustert hatte. „Woran erkennst du das, Zauberpalme?” „Ich sah es in deinen Augen. Sie sprühten wie die eines Jaguars. Doch wie hast du mich eben genannt?” „Zauberpalme.” Sie sann einen Augenblick nach, dann sagte sie: „Wenn du mir einen so schönen Namen gibst, mußt du ein ganz kühner Jäger sein.” Sie sprach diese Worte in lobendem Tonfall und mit uner-forschlichem Gesichtsausdruck, in dem Schalkhaftigkeit und Ernst im Widerstreit lagen und nicht erkennen ließen, wer von beiden die Oberhand behalten würde. „Warum muß ich deshalb kühn sein?” „Weil ... du keine Furcht vor einer Indianerin zeigst.” Sie brach in lautes, wohlklingendes Lachen aus und ließ mich los. „Dazu gehört Kühnheit?’ fragte ich. „Ich glaube, ja.” „0 nein! Ein gutes Auge und ein wenig gesunder Verstand genügen, um. . .” Da hatte Lasana plötzlich einen neuen belustigenden Einfall. Sie klatschte vor Freude in die Hände, wandte sich an Arnak und Wagura, die unsere fröhliche Unterhaltung übersetzten, und rief ihnen zu: „Sagt ihm, daß ihn in unseren Dörfern eine große Überraschung erwartet, eine sehr liebe Überraschung!” „Da bin ich aber neugierig, was das sein könnte?’ antwortete ich. „Wir geben ihm das schönste Mädchen zur Frau. Sie soll seine starken, guten Hände kennenlernen!” In Anbetracht des süßen Leckerbissens, der mir in Aussicht gestellt wurde, tat ich übertrieben erfreut und wiegte den Kopf. „Gefällt dir das vielleicht nicht?” spottete Lasana und spielte die Gekränkte. „Doch, das würde mir schon gefallen, wenn es, wie du gesagt hast, das schönste Mädchen wäre. Aber gibt es denn keine Palmen in euren Dörfern?’ Ich verlieh meiner Stimme einen bekümmerten Unterton. Alle in der Runde waren ziemlich ratlos, denn sie konnten sich nicht erklären, was Palmen mit Mädchen zu tun haben sollten. „Palmen? Natürlich gibt es Palmen. Kokospalmen und auch andere”, erklärte Wagura. „So”, rief ich entzückt aus, „dann gibt es bestimmt auch die eine Palme!” „Welche denn?” „Die Zauberpalme.” Alle brachen in Lachen aus, auch Lasana. „Du bist sehr freigebig, Zauberpalme”, fuhr ich fort und wandte mich der jungen Frau zu, „du versprichst das schönste Mädchen aus eurem Dorf. Mir fällt dabei ein Sprichwort ein. Meine Mutter, die aus einem Land weit jenseits des Meeres stammte, hat es oft gebraucht. Wollt ihr es hören?” „Wir wollen, Weißer Jaguar”, entgegnete Lasana und betonte dabei besonders den Namen, um mir mit gleicher Münze heimzuzahlen. „Das Sprichwort besagt, daß es besser ist, einen kleinen Vogel in der Hand zu halten als einen großen auf dem Dach zu sehen.” Ich warf Lasana einen bedeutungsvollen Blick zu. Als Arnak das Sprichwort übersetzt hatte und Lasana klargeworden war, worauf es sich bezog, rief sie mit geheuchelter Empörung: „Du nennst mich also einen kleinen Vogel?” „Das ist nur ein Sprichwort”, verteidigte ich mich. „Du ... bist doch eine Adlerin.” Während wir so unsere Späße trieben und übermütig plauderten, segelten wir unbehelligt in östlicher Richtung weiter. Längst war die feindliche Brigantine hinter dem Horizont verschwunden, und das Meer lag wieder öde vor uns. Je höher die Sonne emporstieg, um so unerträglicher wurde die Hitze, und die freudige Erregung der Morgenstunden wich allmählich der üblichen Tagesruhe. Jeder von uns suchte ein schattiges Plätzchen auf, von denen es auf dem Schoner nicht allzu viele gab. So vergingen die Mittagsstunden. Die Sonne neigte sich bereits gegen Westen, als auf Deck von neuem freudiger Lärm entstand. Alle rannten zum Bug des Schiffes und blickten angestrengt nach vorn. Dort tauchten in weiter Ferne aus dem bläulichen Dunst im Osten die Umrisse eines Berges auf, der ganz eigenartig geformt war. Die eine Seite fiel steil zum Meer ab, während die andere nur ganz allmählich anstieg, so daß der Berg wie der riesige, sich dem Himmel entgegenstreckende Schnabel eines Papageis oder eines Raubvogels aussah. „Der Geierberg!” hörte ich begeisterte Stimmen rufen. Ich bediente wieder das Ruder, als der Häuptling und nach ihm Arnak, Wagura, Lasana, die Indianer und die Neger herankamen. Auf ihren Gesichtern lag so viel Glück und Freude, daß auch ich von der allgemeinen Erregung erfaßt wurde. Der Häuptling Manauri sprach einen einzigen Satz: „Wir kommen näher.” Wieviel menschliches Schicksal ging von diesen einfachen Worten aus, wie schwer wogen sie! Die Qual langjähriger Sklaverei, die wie ewige Nacht auf diesen Menschen gelastet hatte, war vorbei. Nach den schrecklichen Erlebnissen auf der Insel Margarita und nach der verwegenen Flucht aus den Händen ihrer Peiniger sahen die unglücklichen Indianer, die einst gewaltsam aus ihren Dörfern verschleppt worden waren, endlich das unbestreitbare Zeichen der Freiheit vor sich: den Geierberg, an dessen Fuß ihre heimatlichen Dörfer lagen. Ich winkte Arnak, er möge das Ruder übernehmen, und lief zu Manauri. Von tiefem Gefühl übermannt, fielen wir uns nach Art der weißen Menschen in die Arme. Die Freude, die das Gesicht des Häuptlings ausstrahlte, machte ihn um vieles jünger; er sah jetzt kaum älter als zwanzig Jahre aus. Gleich darauf hatte er sich wieder in der Gewalt. Sein Blick wurde fest, und als er sich neben mich setzte, lag ein Ausdruck zäher Beharrlichkeit auf seinem Gesicht, dessen Züge zugleich eine Bitte widerzuspiegeln schienen. „Jan”, eröffnete Manauri feierlich das Gespräch. „Ich wende mich heute mit den gleichen Worten an dich wie vor einigen Tagen. Du erinnerst dich doch?” „Sprich.” „Wir wissen, wer du bist und wie du bist. Du bist unser Bruder, und wir alle hängen an dir. Nur dir verdanken wir unsere Rettung. Deine Erfindungsgabe und deine Schußwaffen haben die Spanier, unsere Verfolger, bezwungen. Deine Freundschaft hat uns dem Leben zurückgegeben. Du bist ein großer Krieger deines Landes. Zu den Deinen aber kannst du noch nicht zurückkehren, denn deine mächtigen Feinde könnten dich auch dort verfolgen. Deshalb bitten wir dich, alle, die wir hier sind: Bleibe bei uns. Bleibe für immer.” Die Umstehenden unterstützten diese Worte durch freudigen Beifall. „Ich danke euch allen herzlichst für die angebotene Gastfreundschaft, doch so leid es mir tut, ich kann sie nicht annehmen”, erklärte ich mit aller Entschlossenheit. „Ich kann nur solange bei euch bleiben, bis ich mit meinen Vorbereitungen für die Reise zu den englischen Inseln fertig bin. Kann ich dabei auf eure Hilfe zählen, Manauri?” „Du bist unser Bruder”, antwortete der Häuptling, „wir werden tun, was immer du verlangst.” Das verlassene Dorf AIs wir den Geierberg entdeckt hatten, war er noch viele Meilen von uns entfernt. Erst Stunden später, kurz vor Sonnenuntergang, näherten wir uns seinem Fuß. Bis zum ersten Dorf der Arawaken, das an einer Lagune auf der anderen Seite des Berges lag, hätten wir bei günstigem Wind und guten Sichtverhältnissen noch zwei Stunden segeln müssen. Da aber der Wind immer mehr abflaute und die Dämmerung hereinbrach, blieb uns nichts anderes übrig, als so weit wie möglich an den Berg heran-zufahren und in der Nähe der Küste einen Ankerplatz für die Nacht zu suchen. Obwohl die Indianer hier jeden Meter des Meeresgrundes kannten, wollten sie lieber den Morgen abwarten und den Schoner bei Tageslicht in die Bucht einlaufen lassen.  Als wir endlich vor Anker lagen, war es bereits dunkel geworden, nur die Sterne erstrahlten in mildem Licht. Außer den Kindern dachte niemand an Schlaf. Die Gedanken an den morgigen Tag hielten alle wach, die Indianer, die Neger und auch mich. Noch vor Einbruch der Dunkelheit hatten die Indianer Ausschau gehalten, ob Fischerboote oder sonstige Zeichen menschlichen Lebens auf dem Wasser oder auf dem Land zu entdecken wären; doch hatten sie ihre Augen vergeblich angestrengt. „Das ist sonderbar”, vertraute sich mir Manauri an. „Ich erinnere mich genau, wie das früher war. Jeden Abend fuhren Fischer aufs Meer hinaus.” „Sicher haben sie das auch heute wieder getan”, antwortete ich. „Dann müßten sie doch zu sehen sein.” „Wahrscheinlich haben sie uns bereits entdeckt, bevor wir sie sehen konnten, und da sie den Fremden auf dem Schoner nicht trauten, haben sie ihre Boote in der Bucht in Sicherheit gebracht.” „Sollte das möglich sein?’ Der Häuptling versank in Nachsinnen. Die Menschen auf Deck hatten es sich gemütlich gemacht. Sie lagen oder saßen in Gruppen beisammen und unterhielten sich leise. Wenn sie schwiegen, konnte ein aufmerksames Ohr jeden Laut vom Festland her vernehmen, da das Ufer höchstens hundert bis hundertzwanzig Meter entfernt war. Außer den nächtlichen Stimmen aus dem Dickicht war in gleichmäßigen Abständen das träge Rauschen einer Welle zu hören, die langsam im Sand verrieselte. Wie ich mich noch bei Tageslicht überzeugt hatte, ähnelte das Buschwerk dem, das ich auf der Insel der Verwegenen kennengelernt hatte. Es war kein eigentlicher Wald, sondern hohes, trockenes, mit Stacheln übersätes Strauchwerk, aus dem die mir so bekannten Spitzen von Kakteen und Agaven hervorstachen und das hier und da von einer hochstämmigen Palme oder von einem anderen Baum überragt wurde. Die nächtlichen Stimmen waren beinahe die gleichen, wie ich sie aus den Büschen meiner Insel vernommen hatte, nur drangen sie tiefer ins Bewußtsein. Sie erfüllten mein Herz mit unsagbar erregenden Gefühlen und entzündeten meine Phantasie Das konnte auch gar nicht anders sein, denn diese Laute klangen aus einem mächtigen, geheimnisvollen, irgendwo in der Tiefe des undurchdringlichen Urwalds verborgenen Land, wo die Wirbel großer Ströme tosten, wo unbekannte Stämme wilder Eingeborener hausten, wo die grausamen Spanier und Portugiesen Niederlassungen gründeten und allen mit unerbittlichem Schwert ihr „Recht” und ihren Glauben aufzwangen. Mit einem Wort, es waren die Stimmen eines Landes, das Unheilvolles verhieß und mit unbekannten Abenteuern und Gefahren drohte. Manauri, Arnak und Wagura saßen in meiner Nähe. Da mich die Neugier plagte, wollte ich gern erfahren, was mir der nächste Tag bringen werde und welchen Menschen ich begegnen sollte. Ich begann daher Manauri über die arawakischen Siedlungen auszufragen. Wie groß war mein Erstaunen, als ich erfuhr, daß es hier nur fünf arawakische Dörfer gäbe. „Nur fünf? Mehr Dörfer gibt es nicht?” fragte ich ungläubig. „Nein, hier gibt es nur fünf Dörfer.” „Die müssen aber sehr bevölkert sein.” „In einigen leben viele Menschen, in anderen weniger. In meinem Dorf, das zu den größten gehörte, wohnten zu meiner Zeit ungefähr drei mal hundert Indianer.” „Dreihundert Krieger?” „Nicht doch! Insgesamt dreihundert: Krieger, Greise, Frauen und Kinder.” „Und wie viele waren es in allen fünf Dörfern zusammen?” „Fast zehn mal hundert.” „Mit Frauen und Kindern?” „Ja, mit Frauen und Kindern.” Ich wollte meinen Ohren nicht trauen und sagte zu Manauri: „So wenige seid ihr nur? Du machst einen Scherz.” „Nein, Jan, ich scherze nicht.” „Das ist der ganze Stamm der Arawaken? Ich glaubte, ihr wäret viel stärker.” „Du hast dich auch nicht geirrt. Unser Stamm ist viel stärker. Die Arawaken sind ein großes Volk, aber die meisten leben nicht hier, sondern weit im Süden, in einer Gegend, die Guayana genannt wird. Der Weg dorthin dauert über einen Monat.” „Über einen Monat? Das wären ungefähr fünfhundert Meilen.” „Es können fünfhundert Meilen sein, vielleicht auch mehr. Um zu den Arawaken dort zu gelangen, muß man den großen Ibirinoko überwinden, und von da sind es noch viele Tagemärsche nach Süden bis zu den Siedlungen unseres Volkes.” „Den Ibirinoko?” „Ja, das ist die indianische Bezeichnung für den Fluß, den die Spanier Orinoko nennen.” „So lebt hier nur ein kleiner Teil deines Volkes?” „So ist es, hier lebt nur ein kleiner Teil.” Im ersten Augenblick fühlte ich mich durch diese Nachricht beunruhigt, denn ich befürchtete, daß sich unter so wenigen Menschen nicht genügend mutige Seefahrer finden würden, die bereit wären, mich zu den englischen Inseln im Karibischen Meer zu bringen. Manauri aber erklärte, ich solle mir keine Sorgen machen, denn es gebe hier genügend Seefahrer, die mir helfen könnten. Anschließend erzählte mir der Häuptling, wieso es dazu gekommen war, daß hier im Norden, weit von den eigentlichen Siedlungen des Stammes entfernt, ein kleiner Teil der Arawaken sein Leben fristete. Vor fünf oder sechs Generationen — also vor weit über hundert Jahren — waren unter den Arawaken im Süden Zwistigkeiten ausgebrochen, die zu Bruderkämpfen geführt hatten. Über die Ursache des Streits sei heute nichts mehr bekannt. Die volkreichen Dörfer am Essequibofluß behielten die Oberhand und setzten ihren Gegnern arg zu. Am meisten hatten die am Pomerunfluß lebenden Angehörigen des Stammes darunter zu leiden, weshalb sie eines Tages ihre Habe auf Schiffe luden und entlang der Küste nach Norden fuhren, um sich neue Heimstätten zu suchen. Sie waren lange unterwegs, da ihnen entweder die Unwirtlichkeit der Küste oder das feindselige Verhalten fremder Stämme den Zutritt verwehrte. Endlich fanden sie in der Nähe des Geierberges eine Gegend, die ihren Wünschen entsprach, und ließen sich hier nieder. Zwar hatten sie auf beiden Seiten kriegerische karibische Stämme als Nachbarn, doch lagen deren Wohn-sitze weit weg. Auch hatten sich die Kariben bei einigen Über-fällen blutige Köpfe geholt und ließen sich nicht mehr blicken. Erst die letzten Jahre hatten neue Sorgen gebracht, spanische Piraten und Sklavenjäger waren öfter in die Dörfer am Geierberg eingefallen und bildeten eine große Gefahr für die Arawaken. „Und du, Manauri”, unterbrach ich seinen Redefluß, „du bist Häuptling über alle Arawaken hier im Norden?” „Nein. Jedes der fünf Dörfer hat seinen Häuptling, und ich bin einer von ihnen.” „So steht also kein Stammeshäuptling über euch?” „Doch, den haben wir. Er heißt Koneso. Aber er hat nicht sehr viel zu bestimmen, nur in Dingen, welche die Allgemeinheit betreffen.” „Wem steht denn die eigentliche Entscheidungsgewalt zu?” „Dem Häuptling des Stammes oder Dorfes; doch ist auch seine Macht begrenzt. Er muß sich nach dem richten, was die erwachsenen Männer in der Beratung beschließen.” „Und wenn nun in meinem Fall die Versammlung beschließt, daß ihr mir nicht helfen sollt, weil ich einer anderen, euch feindlich gesinnten Rasse angehöre?” Der Häuptling war empört. „Jan”, rief er aus, „du bist unser Freund und Befreier, und die Versammlung besteht aus Menschen, die Verstand und Herz haben! Ein solcher Beschluß wäre eine undenkbare Schande, da müßten Geistesgestörte in der Versammlung sitzen.” „Nehmen wir an, daß dein Vertreter in den Jahren, die du in der Sklaverei verbracht hast, Gefallen an der Herrschaft gefunden hätte und dir nun als Feind gegenüberträte, mir natürlich erst recht. Oder hältst du das für unmöglich?” Manauri mußte es wohl für möglich halten, denn er schwieg plötzlich. Wenn ich auch sein Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, so erriet ich, daß ihn etwas bedrückte. Sicher quälten auch ihn gewisse Bedenken. Nach einer Weile sagte er: „Du denkst da an recht komplizierte Möglichkeiten. Nein, Jan, dir wird bei uns weder Unrecht geschehen, noch wirst du Undank ernten. Und sollte der Stamm — was einfach unmöglich ist — dir wirklich Gastfreundschaft und Hilfe versagen wollen, so steht eines so fest wie die Tatsache, daß dieses Meer hier oder jener Berg dort existiert, und das sind wir, das ist unsere Treue. Wir alle an Bord dieses Schiffes sind dir auf Leben und Tod ergeben. Nimm diese Worte so, wie ich sie aus-spreche: auf Leben und Tod. Wenn es sein muß, auch gegen den Willen des Stammes!” Seine Worte klangen so überzeugend, daß mein Vertrauen zu diesen Menschen noch größer wurde. Uns verbanden die stärksten Bande, die Menschen miteinander verbinden können: Wir waren Brüder geworden im gemeinsamen blutigen Kampf um unser Leben. Als Arnak und Wagura die Worte des Häuptlings übersetzten, fügten sie noch eigene Treuebekenntnisse hinzu und erklärten, daß sie mich in keiner Not verlassen würden. Ich kannte meine jungen Freunde lange genug, um ihren Worten Glauben schenken zu dürfen. Wenn es sein müßte, würden sie mir sogar bis in die Hölle folgen. Mit solchen Gefährten konnte ich allen Gefahren des unbekannten Landes entgegentreten, dessen geheimnisvolle Laute zu uns herübertönten. Bald drang ein Brummen durch das nächtliche Dunkel, bald knisterte es, bald klang es wie Kreischen. Manchmal waren die Geräusche so grausig und beunruhigend, als sollten sie uns entsetzen und abschrecken. Nach einiger Zeit tauchte der Mond aus dem Meer empor und erhellte die Landschaft rings um das Schiff. Die Umrisse des Geierberges begannen sich vom Himmel abzuheben, deutlich traten die dunklen Flecke des Buschwerks am Hang hervor, und der Berg schien uns ständig näher zu kommen. Dieser Anblick versetzte die Indianer in Erregung und rief ihnen die Nähe der heimatlichen Dörfer noch stärker ins Bewußt-sein. Da die Nacht hell zu werden versprach, beschlossen Manauri, Arnak, Wagura und einige andere, mit den Booten, die wir im Schlepptau führten, an Land zu fahren und das nächstgelegene Dorf aufzusuchen. Dort wollten sie unsere Ankunft melden und vor Tagesanbruch wieder auf den Schoner zurückkehren. Ich beabsichtigte, mich ihnen anzuschließen. Die Indianer wollten sofort aufbrechen, aber Manauri verschob die Fahrt um eine Stunde, denn er wollte helleres Mondlicht abwarten. „Sollen wir Waffen mitnehmen außer den Messern?” fragte mich Arnak. „Musketen brauchen wir nicht, Pistolen könnten wir einstecken”, antwortete ich. „So werde ich drei Pistolen bereitlegen: für dich, für Wagura und für mich.” Mein Gespräch mit Manauri hatte diesen mehr beeindruckt, als er zugeben wollte. In ihm waren Befürchtungen wach geworden, die bisher auf dem Grund seiner Seele geschlummert hatten. Wie würden ihn seine Stammesbrüder nach so viel Jahren aufnehmen? Diese Frage war beunruhigend. Während wir abwarteten, bis der Mond höher stieg, vertraute der Häuptling Lasana leise seine Sorgen an und machte kein Hehl aus seinen Zweifeln. Das war ein Zeichen, wie hoch er ihre Meinung einschätzte. Sie standen ganz in meiner Nähe, und obwohl sie ihre Stimmen dämpften, drangen viele ihrer Worte unwillkürlich an mein Ohr. Manches davon konnte ich verstehen. Plötzlich hörte ich meinen Namen nennen. Manauri hatte ihn ausgesprochen und setzte der jungen Frau eindringlich etwas aus-einander. Leider tat er es so leise, daß mich seine Stimme nicht erreichte. Erst die letzten Worte, die er fordernd und zugleich bittend vorbrachte, konnte ich verstehen. „Tu es für mich, Lasana, du mußt es tun!” Dann trat Stille ein. Lasana hüllte sich in Schweigen und schien zu erwägen, ob sie „es” tun könne. Nach einiger Zeit ließ der Häuptling ein halb unterdrücktes ungeduldiges Zischen hören. „Warum schweigst du?” drang er in Lasana. „Wozu überlegst du noch lange, wo die Sache doch völlig klar und gar nicht so schwer für dich ist?” „Du irrst dich, Manauri”, antwortete die Frau. „Du rätst mir schlecht. Die Sache ist nicht leicht für mich.” „So begreif doch, Lasana, wieviel von dir abhängt!” Die folgenden Sätze konnte ich nicht verstehen, dann aber wurden die Worte des Häuptlings wieder laut und drängend: „Wir alle brauchen seine Hilfe. Koneso war nie mein Freund, und Pirokaj steckte immer voller Neid, er war geradezu mein Feind. Ich fürchte ihre Niederträchtigkeit.” „Pirokaj, dein jüngerer Bruder?” „Ja, mein Bruder. Sicher ist er jetzt das Haupt unseres Dorfes. Koneso ist ein grausamer Tyrann, Pirokaj eine böse, giftige Natter. Ohne die Hilfe Jans kann es uns schlecht ergehen. Jan wird ihre Absichten vereiteln. Er muß mit uns beim Stamm bleiben.” „Warum sagst du ihm das nicht offen?” „Weil ich ihn nicht in unsere Angelegenheiten einweihen will.” „Ich sehe, du hast eine doppelte Zunge, Manauri.” Lasana sprach ruhig, aber in ihrer Stimme lag ein leichtes Zittern. „Eine doppelte Zunge? Was faselst du für unsinniges Zeug?” „In die Augen sagst du ihm, daß ihr ihn zu den englischen Inseln bringen wollt, und hinter seinem Rücken schmiedest du Pläne, wie wir ihn bei uns halten können.” „Ja, er soll bleiben, aber freiwillig! Freiwillig, hörst du, taubes Frauenzimmer? Und deshalb ist es deine Pflicht, ihn zu umgarnen, ihn in dich verliebt zu machen. Du allein bist dazu imstande. Ich habe gesehen, wie er dich angelacht hat.” „Das war doch nur Scherz.” „Du wirkst anziehend, und das ist kein Scherz! Das Wohl unserer Gruppe erfordert, daß du so handelst, wie ich es von dir verlange. Er muß bei uns bleiben.” „Was soll ich denn tun?” „Bestricken sollst du ihn, verstehst du? Ihn besessen machen!” Lasana unterdrückte ein Lachen. „Fordern und befehlen ist leicht, du kühner Häuptling”, spottete sie scheinbar belustigt. „Aber wie soll man es ausführen? Ihn bestricken? Wenn du Dinge voraussiehst, die uns angeblich in unserem Dorf erwarten, so gib mir einen guten Rat, wie man einen Menschen wie ihn besessen macht.” „Du bist anziehend, verlockend. Ich habe es schon einmal gesagt.” „Aber ich will nicht den Lockvogel spielen. Ich ... ich bin kein Köder.” „Du möchtest ihn also nicht zum Mann haben?” Lasana blieb vor Empörung stumm. Ich befand mich in der unangenehmen Situation, alles mit angehört zu haben. Die beiden wären nie auf den Gedanken gekommen, daß ich sie verstehen könnte. Eine übermütige innere Stimme raunte mir zu, ich sollte ihnen diesen Streich mit Gleichem vergelten und sie in ihrer Sprache anreden. Doch unterdrückte ich die Versuchung und hielt meine Zunge im Zaum. In diesem Augenblick begann die erzürnte Lasana Manauri mächtig zu schelten. „Für wen hältst du mich eigentlich?” hörte ich sie sagen. „Warum demütigst du mich? Hast du vergessen, was vor kurzer Zeit geschehen ist? Es ist erst ein paar Tage her, daß Mateo, der Vater meines Kindes, sein Leben gelassen hat, und nun soll ich mich schon wieder nach einem anderen Mann umschauen wie eine Hündin?” „Du mußt das Wohl unserer Gruppe im Auge haben”, knurrte der Häuptling. „Reize mich nicht mit deinem ,Wohl unserer Gruppe'. Verlange nicht, daß ich mich lächerlich mache. Ich will seine Achtung nicht verlieren.” Es war kaum zu glauben! Da stand eine wilde Indianerin, knapp achtzehn Jahre alt, und erteilte nicht nur Lehren über Moral, sondern besaß auch ein ausgeprägtes Gefühl für die eigene Würde. Ich verspürte in der Tat große Lust, diese kleine, tüchtige Frau in die Arme zu schließen. „Findest du ihn so abscheulich?” fragte Manauri plötzlich. „Nein”, antwortete sie aufrichtig. „Na siehst du!” „Gar nichts sehe ich!” — Zur festgesetzten Zeit machten wir uns auf den Weg, zehn Indianer und ich. Wir fanden in zwei Booten gut Platz, und da das Meer ruhig war, bereitete die Überfahrt keine Schwierigkeiten. Als wir einer nach dem andern aufs Ufer sprangen, empfanden wir die Bedeutung dieses Augenblicks. Es schien uns, als ständen wir am Beginn eines neuen Abschnitts in unserem Leben. Nach jahrelangem, mühseligem Umherirren hatte mich das Schicksal nun an diese Küste Südamerikas verschlagen. Was hielt es wohl hier für mich bereit? Der Häuptling gab das Zeichen zum Aufbruch. Im Gänsemarsch glitten die Indianer lautlos dahin, nur meine Schritte waren schwer und geräuschvoll. Wegen der zahlreichen Giftschlangen, die besonders nachts sehr rege sind, hatte mir Manauri geraten, die Stiefel eines Spaniers anzuziehen. Auf meinen Einspruch, warum ich als einziger Stiefel tragen sollte, hatte er erklärt: „Du bist nicht hier zur Welt gekommen. Dir fehlt das angeborene Gefühl für Schlangen.” „Und ihr habt es, dieses Gefühl?” hatte ich ihm entgegnet. „Wir haben es. Wir fühlen die Nähe jeder Schlange im Unterbewußtsein.” Obwohl ich nicht mehr an Schuhwerk gewöhnt war, hatte ich den Rat befolgt und die Stiefel angezogen. Nun verursachte ich damit einen solchen Lärm, daß er eine Viertelmeile weit zu hören war. Es störte uns aber nicht weiter, denn wir waren ja in unserem Land, in der Nähe von Freunden. Der Weg führte ständig am Fuß des Geierberges entlang, zunächst unmittelbar an der Küste, später bog er in das Dickicht ab. Wir durchquerten das Buschwerk und erreichten die Bucht. Eigentlich war es keine Bucht, sondern eine Lagune, ungefähr eine halbe Meile breit und mit einem ziemlich breiten Ausgang zum Meer. Manauri hob die Hand, deutete auf das gegenüberliegende Ufer der Lagune und sagte leise: „Dort liegt das Dorf.” Weit drüben, über dem Rand des Wassers, hoben sich ein paar hüttenähnliche Gebilde ab, doch ließ sich aus dieser großen Entfernung trotz des Mondlichtes nichts Genaues erkennen. „Gibt es Hunde im Dorf?” fragte ich den Häuptling. „Und ob!” „Viele Hunde?” „Sehr viele.” „Warum hört man sie denn nicht?” Das sonderbare Schweigen machte auch Manauri und die anderen Indianer stutzig. Sollten die Hunde alle wie tot schlafen? Das war kaum möglich. Hunde bellen doch ab und zu, und das hätten wir hören müssen. Während die Indianer, die unruhig geworden waren, erregte Vermutungen austauschten, gingen wir weiter am See entlang. Das Gelände sah genauso aus wie bisher: Sand, stellenweise mit Strauchwerk bewachsen, hin und wieder ein Felsen. Manchmal setzten sich die Felsen bis in die Lagune fort und ragten als eigen-artige Steingebilde aus dem Wasser. Nach einigen Minuten hatten wir die Hälfte des Weges zurückgelegt und konnten bereits einzelne Hütten erkennen, die verstreut im Tal eines kleinen Flusses lagen. Lebenszeichen aber waren auch jetzt noch nicht zu entdecken. Mir erschien diese Ruhe so unnatürlich, daß ich unwillkürlich stehenblieb. „Von Hunden ist immer noch nichts zu merken”, sagte ich. „Nein, es sind keine Hunde da.” Manauri konnte seine Besorgnis nicht verbergen. „Die Hütten stehen, es ist das Dorf”, flüsterte Arnak. „Sie stehen dort, wo sie waren, aber es fehlt ihnen irgend etwas.” „Die Menschen! Es sind keine Menschen da”, rief ich aus. „Hier ist etwas nicht in Ordnung. Wir müssen vorsichtiger sein und uns gebückt heranschleichen.” Ich bedauerte nun, daß wir nicht mehr Feuerwaffen mitgenommen hatten, ja nicht einmal Pfeil und Bogen besaßen, doch daran ließ sich nichts mehr ändern. Wir mußten unbedingt das Geheimnis des schweigsamen Dorfes ergründen. Wagura näherte sich mir und flüsterte mit vor Erregung heiserer Stimme: „Was meinst du, Jan, ist ein Unglück geschehen?” „Etwas ist hier vorgegangen, das ist sicher. Das Dorf hat keine Einwohner mehr.” „Vielleicht waren die Spanier hier und haben alle mitgenommen? „Davon werden wir uns überzeugen, sobald wir die Hütten erreichen. Da wir uns so leise wie möglich bewegen mußten, konnte ich keine Rücksicht mehr auf Schlangen nehmen. Schnell zog ich die verteufelten Stiefel aus und atmete erleichtert auf. Wie angenehm kühlte das Erdreich die nackten Fußsohlen! Wagura verbarg die Stiefel in einem hohlen Baum am Ufer, und meine Qual hatte ein Ende. Auf dem Rest des Weges nutzten wir jeden Strauch zur Deckung aus und erreichten bald die erste Hütte. Ihre Wände bestanden aus Schilfrohr, das Dach war mit Blättern der Kokospalme gedeckt. Ein Blick genügte, um zu erkennen, daß die Hütte schon längere Zeit keinen Bewohner mehr hatte; denn sie war bereits ziemlich zerfallen. Die Schilfrohrwände klafften weit auseinander, und durch ein großes Loch im Dach beleuchtete der Mond das Innere. Manauri befahl Arnak festzustellen, wie es im Innern der Hütte aussehe, und während wir im Schatten des Buschwerks auf die Rückkehr des jungen Indianers warteten, fragte ich den Häuptling, ob er sich noch erinnern könne, wer diese Hütte bewohnt hatte.. „Natürlich kann ich mich erinnern. Mein Freund Mabukuli hat hier gewohnt.” „Er wurde nicht verschleppt, als euch die Spanier überfielen?” „Nein. Damals waren er und viele andere gerade unterwegs.” „Das bedeutet, daß er nach dem Überfall zurückkehren und hier weiterleben konnte?” „Das konnte er.” In diesem Augenblick tauchte Arnak wieder auf und berichtete, daß er in der Hütte nichts Verdächtiges gefunden habe. Einige unwichtige Gegenstände, wie Flaschenkürbisse, die als Wasserbehälter gedient hatten, und ähnliches, lägen noch auf dem Boden, und die Hütte mache den Eindruck, daß ihre Bewohner sie aus eigenem Entschluß verlassen hätten. „Spuren von Gewalt hast du nirgends entdeckt?” fragte der Häuptling. „Nein, nirgends.” Ringsum herrschte tiefe Stille. Alles deutete darauf hin, daß das ganze Dorf unbewohnt war. Als die Indianer ihre Verblüffung überwunden hatten, überkam sie eine tiefe Niedergeschlagenheit, von der, das war begreiflich, auch ich erfaßt wurde. Hinter der Leblosigkeit dieses indianischen Dorfes verbarg sich ein unheilverkündendes Geheimnis. Als wir auf die verlassene Hütte zugingen, warnte ich die Gefährten, sie unnötigerweise zu betreten. War es doch nicht ausgeschlossen, daß eine Seuche die Einwohner des Dorfes von ihren Heimstätten vertrieben hatte. Kurz darauf kamen wir an einer Brandstätte vorüber. Einer der Indianer erinnerte sich, daß die Hütte, die hier gestanden hatte, niedergebrannt wurde, als die Spanier das Dorf überfielen und ihn in die Sklaverei verschleppten. Diese Hütte war also schon vor langer Zeit vernichtet worden, während die Indianer, wie wir aus Spuren in den nächsten Hütten feststellen konnten, das Dorf erst vor ein oder zwei Jahren verlassen hatten. In dieser traurigen Umgebung tasteten wir uns vorsichtig bis ans Ende der Siedlung vor und stießen überall auf leere Hütten, die offensichtlich freiwillig geräumt worden waren. Die Hütten standen nicht dicht beisammen, sondern waren über dreihundert oder vierhundert Meter verstreut. Schließlich versperrte uns ein breiter, aber seichter Fluß, der in der Lagune mündete, den Weg. Wir ließen uns am Ufer im Schatten einiger Bäume nieder, um leise zu beratschlagen. „Eins steht fest”, erklärte ich, „hier hat weder ein Überfall stattgefunden, noch ist Blut vergossen worden.” Manauri pflichtete mir bei und sagte: „Nirgends sind Spuren eines Kampfes zu finden: kein zerbrochener Speer, keine Pfeile. Nichts.” „Aber wohin sollten sie denn gegangen sein?” gab Arnak zu bedenken. „Ich glaube, sie haben sich tiefer in den Wald zurückgezogen, weil sie an der Küste ständig gewärtig sein mußten, von den weißen Piraten überfallen zu werden , äußerte ich meine Meinung. Damit hatte ich allen Gefährten aus dem Herzen gesprochen. Wir klammerten uns an diese Möglichkeit, denn auf ihr ließen sich begründete Hoffnungen aufbauen, daß das Dorf weder einer Katastrophe noch einer todbringenden Krankheit zum Opfer gefallen war. „Sicher haben sie sich nicht allzuweit vom Meer entfernt, und wir werden sie am Tag leicht finden”, ergänzte Manauri. „Und die anderen vier Dörfer, wo liegen die?” fragte ich. „Auch an diesem Fluß, nur weiter oben.” „Weit von hier?” „Nein, nicht weit. Das nächste Dorf ist ungefähr zweimal zehn Pfeilschüsse entfernt.” „Zwanzig Pfeilschüsse, also kaum eine halbe Wegstunde. Das ist wirklich sehr nahe.” „Ja, es ist nicht weit.” Der Häuptling sah, daß sich meine Züge belebten, und erriet sofort den Grund. „Ich weiß, woran du denkst’, sagte er. „Man müßte sich überzeugen, wie es dort aussieht.” „Natürlich! Vielleicht sind eure Leute dorthin gegangen.” Prüfend betrachteten wir den Mond und die Sterne. Bis Mitternacht war es noch weit. Vor Tagesanbruch sollten wir wieder auf dem Schoner sein, doch wollten wir, wenn irgend möglich, vorher Klarheit über die Lage in den übrigen arawakischen Dörfern haben. Manauri bestimmte daher vier Indianer, die mit der Umgebung vertraut waren, schickte sie flußaufwärts und befahl ihnen, ihre Füße nicht zu schonen. Wir wollten hier auf ihre Rück-kehr warten. In der Nähe des Ufers war die Erde feucht, stellenweise sumpfig und mit üppig wuchernden Pflanzen bedeckt. In der Luft lag ein so durchdringender Geruch von schimmelnden Blättern und modernden Wurzeln, daß einem fast die Sinne zu schwinden drohten. Obwohl dieser Pflanzengürtel höchstens dreißig bis vierzig Schritt breit war, entströmten dem Dickicht so viele phantastische Laute, daß ich das Toben rätselhafter Ungeheuer zu vernehmen glaubte, die rasend vor Wut ihre gierigen Rachen aufrissen. Es klapperte, knisterte, quakte und kreischte, es stöhnte und klopfte, und von Zeit zu Zeit ertönte ein gräßliches Zischen, das bis ins Mark drang. Es schien, als hätten die Tore der Hölle fürchterliche Bestien ausgespien, die nun in diesen Büschen ihr Unwesen trieben. Selbst die Nächte der weiten Wildnis Virginias hatten ihre Stimmen, auch im trockenen Gestrüpp auf der einsamen Insel war es des Nachts lebendig geworden; doch verglichen mit dem, was wir jetzt an diesem Fluß über uns ergehen lassen mußten, war es nichts. Die an solches Lärmen gewöhnten Indianer schenkten dem Tumult kaum Beachtung. Ich aber rief aus: „Dieses Zischen ist ohrenbetäubend! Wer bringt es bloß hervor?” „Grillen und anderes Geschmeiß”, antwortete Manauri. Ein Geschöpf begann lauthals zu miauen. Unwillkürlich schauderte mich. „Ist das ein wilder Kater?” „Nein. Es ist ein Frosch, der irgendwo in den Blättern hockt.” Plötzlich setzte ein Pochen ein. Es klang, als dengele ein Schmied mit dem Hammer eine Sense. „Und was ist das? Etwa ein Vogel?” „Nein. Es ist auch ein Frosch, nur sitzt er diesmal im Wasser.” Jetzt ertönte ein dumpfes Kreischen und gleich darauf ein Klatschen im Fluß. Manauri lauschte ein Weilchen und überlegte. Schließlich sagte er: „Was das war, weiß ich nicht. Vielleicht eine große Wasserratte.” „Gibt es hier keine größeren Raubtiere?” „Auch die könnte es geben.” Er wandte sich um, ließ seinen Blick über das Dickicht schweifen und erklärte dann mit Bestimmtheit: „Nein, hier gibt es keine.” Dafür zeichnete sich der Ort durch eine andere, äußerst unangenehme Besonderheit aus:    Mücken    —    es    mußten Milliarden sein — umkreisten in Schwärmen die Menschen und stachen mit unvorstellbarer Blutgier. Die Indianer waren daran gewöhnt. Standhaft und geduldig ertrugen sie die Plage und schlugen immer wieder nach den Quälgeistern. Ich aber glaubte wahnsinnig zu werden. Schließlich entfernte ich mich etwa hundert Schritt von dem Ufergebüsch und stieg einen sandigen Hügel hinauf. Hier war der ganze Spuk wie weggeblasen. Ich war zufrieden, streckte mich behaglich in den Sand und wartete. Wallende kleine Wolken zogen am Himmel dahin, schoben sich ineinander und verhüllten von Zeit zu Zeit die Scheibe des Mondes. In solchen Minuten herrschte tiefe Finsternis. Obwohl mir der gute Manauri versichert hatte, daß es hier bestimmt keine Raubtiere gäbe, war ich zu sehr Jäger, um auch nur einen Augenblick zu vergessen, daß diese Wildnis allen möglichen blutdürstigen Lebewesen als Jagdrevier dienen könnte, und prüfte vorsichtshalber das Pulver auf der Pfanne meiner Pistole. Ich hatte gut daran getan. Während der Mond wieder einmal hinter einer Wolkenbank verschwand und mein forschender Blick das Dunkel zu durchdringen suchte, glaubte ich zwischen zwei Büschen eine verdächtige Bewegung wahrzunehmen. Täuschten mich etwa die Sinne? Nein, bestimmt nicht! Nun sah ich es ganz deutlich: dort drüben glitt ein Schatten dahin. Vorsichtig tastete ich nach der Pistole und richtete sie auf das Tier. Da kamen mir plötzlich Zweifel, ob ich durch meinen Schuß die ganze Umgebung alarmieren durfte, solange unsere Lage noch ungeklärt war. Nach den Bewegungen zu schließen, hatte mich das Tier nicht bemerkt. Seine ganze Aufmerksamkeit war dem Flußufer zugewandt, wo meine Gefährten ruhten. Es schien ziemlich groß zu sein, doch konnte ich seine Gestalt in der Dunkelheit nicht genau erkennen. Am ehesten hielt ich es für einen großen Affen. Noch immer war ich unschlüssig, ob ich schießen sollte oder nicht. Die Entfernung betrug höchstens zehn bis zwölf Schritt. Für alle Fälle spannte ich die Pistole, aber da hatten die wachsamen Ohren des Tieres das leise Knacken des Hahnes auch schon vernommen, und im Nu war es im Gebüsch verschwunden. Ich hatte genug von der Einsamkeit. Während ich zum Fluß hinabstieg, dachte ich über dieses reiche, verlockende und zugleich schreckliche Land nach, in das mich das Schicksal verschlagen hatte. Eine unerschöpfliche Vielfalt wilden Lebens brodelte im Buschwerk, und alle diese Tiere dünkten mich verwegen und schreiwütig. Ich erzählte den Gefährten, was ich auf dem Hügel beobachtet hatte, und sprach meine Vermutung aus, daß es ein Affe gewesen sei. „Ein Affe?” fragte Manauri verwundert. „Das ist unmöglich.” „Was könnte es sonst gewesen sein?” „Ein anderes Tier, vielleicht ein Tapir.” „Ist der Tapir groß?” „Ziemlich groß und etwas schwerfällig.” „Dies Tier schien gewandt zu sein und nicht schwerfällig.” „Vielleicht war es ein Puma. Hatte es ein helles Fell?” „Es war eher dunkel.” „So große Affen gibt es hier nicht! Auch halten Affen sich auf den Bäumen auf und kommen nur selten herunter.” Kurz danach kamen unsere Kundschafter zurück, und die schlimmen Nachrichten, die sie brachten, trafen uns schwer. Alle Siedlungen waren genauso verlassen wie dieses Dorf am See. Sie hatten keinen Menschen angetroffen, und die Hütten waren zum Teil schon zerfallen. „Da brauchen wir nicht erst in die Lagune zu fahren”, äußerte jemand mit entsagender Stimme. „Sondern? Was sollen wir tun?” „Wir segeln gleich weiter bis zum Pomerun. Dort treffen wir auf unsere Stammesbrüder.” „Dazu rate ich nicht”, wandte ich ein. „Denkt an gestern, denkt an das Schiff, das hinter uns her war. Wenn es bekannt wird, daß wir unsere Verfolger getötet und den Schoner erbeutet haben — und das wird bald bekannt, wenn es nicht schon geschehen ist — , dann werden die Spanier das ganze Meer nach uns absuchen, und es wird ihnen nicht schwerfallen, uns zu entdecken.” „Was rätst du uns also?” „Wir verbergen uns einige Wochen in der Bucht und kommen erst aus unserem Versteck hervor, wenn sich der Sturm etwas gelegt hat. Dann können wir zu eurem Pomerun aufbrechen.” „Jan spricht gut! Jetzt auf dem offenen Meer umherzuschaukeln heißt sich die Not auf den Leib hetzen. Es ist besser, wenn wir uns hier verbergen.” Es war Arnak, der mir beipflichtete. Auch Manauri stimmte zu. „Das ist richtig, auch ich bin dieser Meinung”, sagte er. „Außerdem halte ich es für notwendig, daß wir die Hütten am Tag noch einmal untersuchen. Vielleicht finden wir eine Erklärung, warum die Dörfer verlassen wurden.” Dieser Entschluß war bald gefaßt, und wir traten unverzüglich den Rückweg zum Schiff an. Wagura und zwei weitere Indianer sollten an Land bleiben und den Schoner in der Bucht erwarten. Sie begleiteten uns durch das Dorf bis zu dem Baum, in dessen Höhlung meine Stiefel verborgen waren. „Ziehst du sie an?” fragte mich Wagura. „Er zieht sie an”, sagte Manauri, ohne meine Antwort abzuwarten. Offenbar war er um mein teures Leben sehr besorgt. „Meinetwegen”, brummte ich und gab nach. Wagura lief zu dem Baum. Gleich darauf hörten wir einen Ausruf des Erstaunens und eilten zu ihm. „Die Stiefel sind weg!” rief er völlig fassungslos. Es war derselbe Baum; ich erkannte ihn an der Höhlung. Die Stiefel aber waren verschwunden. „Zum Teufel! Was soll das bedeuten?” schrie Manauri. „Ist es Zauberei?” „Ich habe die Stiefel gut verwahrt’, versicherte Wagura. „Jemand muß sie gestohlen haben.” „Jemand, der uns heimlich beobachtet hat’, sagte Arnak mit verängstigter Stimme und sah sich furchtsam um. Von Entsetzen gepackt, flüsterte einer der Indianer ganz verstört, er wisse, wessen Werk das sei: Der schreckliche Kanaima, der über alles herrsche, also auch über diese Wildnis, habe die Stiefel geholt. Sicher habe er alle Einwohner ermordet und wolle nun auch uns töten. „Schweig!” unterbrach ihn Manauri mit zornbebender Stimme. „Fasle nicht wie ein altes Weib!” „Er faselt nicht.” Ein anderer Indianer kam dem Gescholtenen zu Hilfe. „Oder willst du nicht sehen, Häuptling, was in diesen Dörfern geschehen ist? Hier muß sich etwas Furchtbares ereignet haben. Alle Bewohner sind fort! Wer hat sie ausgerottet? Wer hat sie verjagt?.. . Und nun diese Stiefel!” „Kanaima. Kanaima war es”, flüsterten bebende Lippen. „Laßt uns fliehen!” Immer häufiger erscholl dieser Ruf. „Der Ort ist verzaubert! Die bösen Geister werden uns töten! Kanaima!” Schnell wandte ich mich an Arnak und fragte ihn: „Wer ist dieser Kanaima?” „Ein fürchterlicher Geist der Rache. Alles Böse, das sich ereignet, ist sein Werk.” Einige waren so von abergläubischer Furcht erfüllt, daß sie tatsächlich davonlaufen wollten. Am schlimmsten stand es mit dem Indianer, der als erster den Namen Kanaima ausgesprochen hatte. Er war völlig von Sinnen und zitterte am ganzen Körper. Mir war das unbegreiflich, denn ich hatte ihn als furchtlosen Krieger kennengelernt, der sich erst vor wenigen Tagen, während der Auseinandersetzung mit den Spaniern, in das heißeste Kampfgetümmel geworfen hatte. Ich begann zu ahnen, welche entsetzlichen Fesseln des Aberglaubens und der Finsternis die Seelen dieser Menschen umspannt hielten. Manauri hatte Mühe, sie zur Besinnung zu bringen. Ich mußte wieder an mein Erlebnis auf dem Sandhügel denken, und als der Schatten des geheimnisvollen Tieres vor meinen Augen auftauchte, zuckte ich plötzlich zusammen. Sollte es möglich sein? Ohne Zweifel! Es war kein Tier, das ich gesehen hatte, es mußte ein Mensch gewesen sein! Nur ein Mensch konnte so aus-sehen, nur ein Mensch konnte sich so bewegen. „Ich hab's! Nun sehe ich klar”, flüsterte ich. Als ich den Gefährten meine Vermutung mitteilte, stimmten sie mir zu. Das Verschwinden der Stiefel war mit einemmal zu einer Angelegenheit geworden, die sie begreifen konnten, und die Schreckbilder der Geister zerstoben. Kanaimas Macht war zu Ende. Dafür erhob sich eine neue Gefahr vor uns: Ein unbekannter Mensch war aufgetaucht. War es ein Feind oder ein Freund? Wir hielten trotzdem an unserem Plan fest, das Schiff in der Bucht zu verbergen. Daß wir vom offenen Meer verschwanden, erschien uns im Augenblick unerläßlich und als die dringendste V orsichtsmaßregel. Da es höchste Zeit war, auf den Schoner zurückzukehren, durch-querten wir schnellen Schrittes das Dickicht, ohne von jemandem angegriffen zu werden. Einige hundert Meter weiter, wo das Buschwerk am dichtesten war, trennten sich Wagura und seine beiden Gefährten von uns. Wir ließen die Pistolen bei ihnen zu-rück und trugen ihnen auf, Augen und Ohren offenzuhalten und auf alles zu achten, was sich während unserer Abwesenheit im Dorf ereignen würde. Arasybo, der hinkende Indianer In der Morgendämmerung lichteten wir den Anker und setzten bei aufkommendem Wind die Fahrt fort. Der Hals der Bucht — ich wüßte nicht, wie ich die kaum achtzig Meter breite Öffnung der Lagune zur See hin anders bezeichnen sollte — war nicht sehr tief. Manauri und seine Indianer mußten gut aufpassen, um zwischen den unter Wasser lauernden Riffen und den Untiefen die richtige Durchfahrt zu finden. Zum Glück hatte der Schoner keinen großen Tiefgang, und so schlüpften wir glatt hindurch. Als die ersten Sonnenstrahlen den Berghang in rotes Licht tauchten, schwammen wir bereits im ruhigen Wasser der Lagune. „Hier kommt keine Brigantine durch!” rief Arnak. „Du hast recht. In der Lagune haben wir von See her nichts zu befürchten”, stimmten wir ihm bei. Im Südwesten zeichneten sich dunkel die Hütten des verlassenen Dorfes ab. Unsere Blicke glitten das Ufer entlang, ob nicht irgendwo ein Lebewesen zu entdecken sei — und wir fanden, was wir suchten. Unmittelbar am Wasser standen vier Gestalten und gaben uns Zeichen. „Das sind die Unsern, der Kleine da ist Wagura! Ich erkenne ihn!” rief Manauri überrascht. „Aber es sind vier, wenn mich nicht alles täuscht’, stellte ich fest. „Ja, es sind vier. Einer ist hinzugekommen”, bestätigte Manauri. Durch das Fernglas konnte ich unsere drei Gefährten genau erkennen, auch den vierten in ihrer Mitte, den Fremden. Es war ein Indianer. Die Unsern behandelten ihn freundschaftlich, das war deutlich zu sehen. Ich reichte Manauri das Glas. „Ah!” stieß er hervor, nachdem er einen Blick durch das Glas geworfen hatte, und war sichtlich beeindruckt. „Du kennst ihn?” fragte ich. „Ja, ich kenne ihn, er gehört zu unserem Stamm. Es ist Arasybo.” „So haben wir doch noch eine Spur des früheren Lebens gefunden?” Wir hielten auf die Stelle zu, an der uns die vier Indianer erwarteten. Da die Bucht hier ziemlich tief war, kamen wir bis auf ungefähr zehn Klafter ans Ufer heran und warfen den Anker aus. Die unverhoffte Begegnung erfüllte die Indianer begreiflicherweise mit großer Freude; doch gaben sie ihr weder mit Gesten noch in Worten Ausdruck, nur der Glanz ihrer Augen verriet die innere Erregung. Diese Zurückhaltung forderte der Brauch ihres Stammes. Arasybo war ein mittelgroßer, untersetzter Mann in den besten Jahren, der merklich hinkte. In seinen Augen lag etwas Lauerndes, Durchtriebenes. Da ich ihm aber nicht unrecht tun wollte, sagte ich mir, daß dieser nachteilige Eindruck wohl nur durch sein häßliches Aussehen hervorgerufen würde. Seine Augen lagen zu eng beieinander, was dem Gesicht einen boshaften Ausdruck verlieh, und zu allem Unglück schielte er auch noch. Seine Worte bestätigten zum Teil die von uns in der Nacht geäußerten Vermutungen. Die Arawaken hatten ihre Hütten kampflos verlassen, wenn auch nicht ganz freiwillig, sondern aus Furcht vor einem Überfall durch die Spanier. Die Sklavenhändler kamen nicht immer nur von der Seeseite. Ungefähr zwanzig Meilen westlich der Bucht, in einer bergigen Steppengegend, war vor einigen Jahren ein großer spanischer Rancho entstanden, La Soledad genannt. Viehzüchter, die mit ihren Herden aus der Stadt Cumana gekommen waren, hatten sich hier niedergelassen und mit dem Recht der Faust und des Schwertes erklärt, daß das gesamte Gebiet, nicht nur das Land, sondern auch alle Indianer, die es bewohnten, von nun an ihnen gehöre. Sie hatten verkündet, daß sie alle, die versuchen sollten, sich der neuen Ordnung zu widersetzen, rücksichtslos ausrotten würden. Das waren keine leeren Worte. Die Arawaken waren als erste dazu bestimmt, den Kopf unter das Joch der Konquistadoren zu beugen. Da sie zahlenmäßig zu schwach und zu schlecht bewaffnet waren, um einen Kampf aufnehmen zu können, hatten sie nur eine Möglichkeit der Rettung gesehen — die Flucht. Seitdem waren zwei Jahre vergangen. „Und ist ihnen die Flucht gelungen?” fragte ich. „Sie ist gelungen. Der Stamm hat sich nach Süden gewandt, um die alten Wohnsitze der Arawaken in Guayana zu erreichen. Der größte Teil wählte den Weg durch die Steppe zum Orinoko, den sie überqueren mußten, die anderen verluden ihr Gut auf Boote, segelten immer die Küste entlang und konnten, wenn auch nach langer Fahrt, direkt in die Mündung des Pomerun einfahren.” „Woher willst du wissen, daß sie ihr Ziel erreicht haben?” drang ich weiter in ihn. Arasybo runzelte die Stirn und überlegte. Nach einer Weile antwortete er: „Die auf den Schiffen hielten sich in der Nähe der Küste. Sie konnten also kaum untergehen oder sich verirren. Und die anderen, die durch die Steppe gezogen sind? Wären sie von den Spaniern aus La Soledad überfallen worden, so hätte ich bestimmt etwas davon gehört.” „Wieso bist du als einziger hier zurückgeblieben, Arasybo?” forschte ich weiter. Das Gesicht des Indianers verzog sich zu einer fürchterlichen Grimasse und nahm einen noch abstoßenderen Ausdruck an. Er tat mir leid. Wie konnte ein Mensch nur so häßlich sein, wenn er auch sicher nicht so schlecht war, wie er aussah. „Als ich eines Tages am Fluß jagte”, erklärte er mit rauher Stimme, „erwischte mich ein riesiger Kaiman am Fuß. Es war ein Kampf auf Leben und Tod. Mit letzter Kraft kam ich doch noch frei, hatte aber so viel Blut verloren, daß ich ohnmächtig wurde. Wie viele Tage ich so gelegen habe, weiß ich nicht. Am Abend vor dem Aufbruch fanden sie mich. Die Schiffe waren bereits abgefahren, und laufen konnte ich nicht, da mein Fuß gebrochen war. Der alte Medizinmann Karapana haßte mich, weil...” Unsicher geworden, brach er ab. „Also wie war das?” herrschte Manauri ihn an. Arasybo machte eine geringschätzige Handbewegung und verzog das Gesicht zum Zeichen, daß es keinen Zweck habe, darüber zu sprechen. „Rede! Weshalb haßte dich Karapana? Erzähle!” Manauri ließ nicht locker. „Auch wir sind keine Freunde von ihm. Also los!” „Er haßte mich, weil ich seine Beschwörungen und Zauberformeln kannte. Er fürchtete, ich könnte seine Macht untergraben. So hetzte er Koneso gegen mich auf. Dieser verbot, mich zu tragen, und verurteilte mich zum Hierbleiben, was einem Todesurteil gleichkam. Dann brachen sie auf und überließen mich meinem Schicksal. Meine Angehörigen stellten mir etwas Eßbares bereit und mußten mit den anderen fort. Trotz allem aber bin ich wieder gesund geworden. Wie ihr seht, kann ich gehen.” Offenbar hielt er die Anspielung auf das Gehen für einen guten Scherz und versuchte zu lachen, doch verzog sich sein Gesicht lediglich zu einer bösartigen Fratze. „Koneso ist also immer noch Häuptling?” knurrte Manauri zornig. „Und Karapana ist bei ihm?” „Häuptling war er die ganze Zeit und steckte immer mit Karapana zusammen”, bestätigte Arasybo. Unsere Lage war also klar. Noch nie lag wohl in dem Wort „klar” soviel grausame Ironie wie in unserem Fall. Klar war, daß wir allein waren und nicht auf Hilfe rechnen konnten. Klar war, daß der Stamm der Arawaken in unbekannte Fernen gezogen war. Nach ihm zu forschen würde bedeuten, den Wind auf dem Feld suchen zu wollen. Vor allem aber war mein Plan gescheitert, bald zu den englischen Inseln aufzubrechen. Ohne die Hilfe des Stammes konnte ich nichts unternehmen, und Manauri und dessen Leute fieberten nach all den Jahren in der Sklaverei geradezu darauf, zu den Ihren zurückzukehren. Sie würden sich unter keinen Umständen, am allerwenigsten jetzt, zu neuen gefährlichen Fahrten in das Karibische Meer überreden lassen. Dem Häuptling gegenüber erwähnte ich meinen Plan mit keinem Wort, denn ich wußte im voraus, wie seine Antwort ausfallen würde: „Komm mit uns in unsere Dörfer und sei unser Gast. Es soll dir an nichts fehlen, und wir werden sehen, wie wir dir helfen können.” Auch die Indianer befanden sich in einer unangenehmen Lage. Die Gegend war unsicher, die raubgierigen Spanier waren zudem gefährliche Nachbarn. Längere Zeit hier zu verweilen hieße sich selbst die Schlinge um den Hals zu legen. Arasybo hatte die Grausamkeit der Spanier in La Soledad in den schwärzesten Farben geschildert. Ihre Macht sei groß, und mit unbarmherziger Faust hielten sie alle nieder. Ständig seien sie unterwegs, tauchten bald hier, bald dort auf und hätten viele Cumanagotos in ihren Diensten. „Was sind das für Menschen?” wollte ich wissen. „Die Cumanagotos sind der Nachbarstamm im Westen”, erläuterte Manauri. „Es sind wilde und blutdürstige Gesellen, die ständig Händel suchen und ihre Gegner, wenn sie ihrer habhaft werden, auffressen.” „Ist so etwas möglich? Hier gibt es Menschenfresser?” rief ich entsetzt aus. „So wahr ich lebe!” beteuerte der Häuptling. „Sie haben uns früher arg zugesetzt, es sind wahre Kariben.” „So schlechte Menschen sind die Kariben?” „Sie sind schlecht und wild. Es gibt viele karibische Stämme, aber alle rauben und plündern, weil sie keine Lust haben, Felder zu bebauen.” „Und ihr? Ihr seid keine Kariben?” fragte ich mißtrauisch. Manauri, Arasybo und alle übrigen waren wie gelähmt bei dem Gedanken, daß jemand sie zu den Kariben zählen könnte. „Nein!” schrie Manauri. „Ich sehe, du weißt es noch nicht: Wir, die Arawaken, sind ein anderer Stamm, wir treiben Ackerbau und leben nicht nur im Wald.” „Aha, das habe ich mir gleich so vorgestellt.” Mit diesen Worten trachtete ich sie wieder zu besänftigen. In Gedanken zu Arasybos Bericht über die Spanier in La Soledad zurückkehrend, sagte ich mir, daß er sicher manches etwas ausgeschmückt und übertrieben habe, um größeren Eindruck zu machen. Die Frauen hatten uns ein reichliches Frühstück zubereitet, es war die erste Stärkung auf dem Festland. Arasybo, der sich tatsächlich als kühner Krokodiljäger erwies, hatte das Fleisch eines Kaimans dazu geliefert. Ich gestehe, daß es mir ausgezeichnet mundete. Es erinnerte an Kalbfleisch, nur roch es ein wenig nach Schlamm. Gleich nach dem Frühstück ließen wir uns im Schatten einer der Hütten nieder, um Beratung zu halten. Auch die Frauen nahmen daran teil. Im wichtigsten Punkt, daß es nötig sei, diese Gegend so schnell wie möglich zu verlassen und dem Stamm nach Süden zu folgen, waren wir alle der gleichen Meinung. Bei der Frage, welchen Weg wir einschlagen sollten, ob auf dem Festland oder über das Meer, tauchten plötzlich verschiedene Ansichten auf. Ich bestand auf dem Seeweg. Einmal tat es mir leid, das von den Spaniern erbeutete schöne Schiff verlassen zu müssen, und zum andern glaubte ich, daß mir der Schoner später für die Fahrt vom Pomerun zu den englischen Inseln gute Dienste leisten könnte. Meine Gefährten dagegen waren anderer Anschauung. Sie fürchteten das Meer. Die gefährliche Begegnung mit der spanischen Brigantine am Tag vorher hatte einen großen Eindruck bei ihnen hinterlassen und sie gelehrt, vorsichtig zu sein. Nun bestanden sie hartnäckig darauf, den Landweg einzuschlagen. „Ob mit Schoner oder ohne, wir werden dir immer helfen”, versicherte Manauri. „Verlaß dich auf uns, Jan. Du wirst zu deinen englischen Inseln zurückkehren.” „Ich glaube euch und verlasse mich auf euch”, antwortete ich. „Wir haben aber so viel nützliches Gut, daß wir einfach nicht alles tragen können. Denkt nur an die mehr als dreißig Flinten, an die vielen Pistolen, an das Pulver und das Blei. Was fangen wir damit an? Können wir auf diese wertvollen Dinge verzichten? Wir müssen doch auch genügend Vorräte an Nahrungsmitteln mitnehmen.” Was Arasybo über den Rancho La Soledad und Manauri über die Cumanagoto-Indianer erzählt hatten, gab mir einen Vorgeschmack von der Wildheit dieses Landes und von seinen Gefahren. Hier trat der Mensch als größter Feind des Menschen auf, und zwar in besonders räuberischer Gestalt. Für die Arawaken stellten die Feuerwaffen, die wir mit uns führten, einen mächtigen Bundesgenossen in ihrem Kampf ums Dasein dar. Wir durften sie unter keinen Umständen aufgeben. Wie aber sollten wir all diese Dinge über so große Entfernungen transportieren, zumal wir außer dem Proviant noch eine Menge anderer unentbehrlicher Sachen besaßen? Doch auch dafür hielt Manauri einen guten Vor-schlag bereit. „Wir nehmen nur das mit, was wir ohne Schwierigkeiten fortbringen”, verkündete er. „Das andere vergraben wir hier. Wenn wir unser Ziel erreicht haben, wird der Stamm Krieger entsenden, die alles abholen.” „Und was soll mit dem Schoner geschehen?” warf ich ein. „Den wirst du nicht mehr brauchen, und auch wir benötigen ihn nicht. Auf alle Fälle aber werden wir ihn verbergen. In den Felseinschnitten der Lagune finden wir leicht ein Versteck. Solltest du später doch einmal ein Schiff brauchen, so schaffen wir den Schoner entlang der Küste in die Mündung des Pomerun. Du siehst, nichts wird verlorengehen.” „Nein, wir werden nichts verlieren.” Mit diesen Worten billigten die Indianer den Vorschlag ihres Häuptlings. Da die Ausführungen des Häuptlings eine gewisse Berechtigung besaßen, wurde beschlossen, daß wir am folgenden Tag auf- brechen sollten. Vorher wollten wir unser ganzes bewegliches Gut ans Ufer bringen und an einer geeigneten Stelle vergraben, wo es vor Feuchtigkeit geschützt war. Als die Beratung ihrem Ende zuging, bemerkte ich eine leichte Erregung unter den Versammelten. Sie flüsterten lebhaft miteinander und sahen immer wieder zu den etwas abseits liegenden Hütten hinüber. Endlich erblickte auch ich den Grund ihrer Unruhe. Es war Arasybo, der hinkend auf uns zukam und ein Paar spanischer Stiefel — die Ursache unserer nächtlichen Aufregung — in den Händen hielt. Er hatte eine feierliche Miene aufgesetzt wie ein Priester, der das Allerheiligste vor sich her trägt. Als er uns erreicht hatte, schritt er auf mich zu, ohne den Ausdruck seines Gesichts zu verändern. Die Indianer bewahrten tiefes Schweigen und starrten Arasybo an, als wohnten sie einer wundertätigen Zeremonie bei. Wagura, immer zu Späßen aufgelegt, durchbrach mit halblautem Lachen die Stille und raunte mir ins Ohr: „Die Stiefel sind hinter dir her, diesmal entkommst du ihnen nicht.” Inzwischen war Arasybo bei mir angelangt und legte die Stiefel mit salbungsvoller Gebärde zu meinen Füßen nieder. Und was für Stiefel! Schwer, unheimlich groß, hart wie Folterwerkzeuge und mit Schäften bis an die Knie. Wenn die Sonne schien, mußte man in ihnen schwitzen wie im Fegefeuer. „Das ist Kanaima!” rief ich scherzend und deutete auf die Stiefel. Dazu machte ich ein gequältes Gesicht, als ob es mir Schmerzen bereite, den Namen des rachsüchtigen Geistes auszusprechen, der die Indianer verfolgt. Arnak und Lasana lachten laut, Manauri aber wahrte auch jetzt seine Würde und zuckte mit keiner Wimper. Einige andere runzelten bei der bloßen Erwähnung des schrecklichen Dämons bereits wieder die Stirn. „Wir wollen nicht, daß du aus Leichtsinn ums Leben kommst”, ergriff der Häuptling das Wort und sah mich an. „Du bist unser Bruder, ein sehr wertvoller Bruder, und hier wimmelt es von Schlangen. Stimmt es, daß hier giftige Schlangen sind?” fragte er die Versammelten und blickte in die Runde. „Natürlich gibt es hier Schlangen, sogar sehr viele!” Alle bejahten eifrig die Frage Manauris. Der fuhr unnachgiebig fort: „Unsere Häuptlinge erkennen wir am Federschmuck des Kopfes, dich werden wir am Schmuck deiner Beine erkennen, an den Stiefeln.” „Sie sind doch so unbequem, man schwitzt sich in ihnen zu Tode, außerdem sind sie viel zu schwer!” Ich setzte mich zur Wehr, so gut ich konnte. „Manche Last im Leben ist schwer zu tragen, und doch muß es sein”, belehrte mich Manauri mit mahnender Stimme. „In diesen Stiefeln wirst du stattlich aussehen und sicher einherschreiten, du wirst geehrt werden und unüberwindlich sein.” „Aber gequält und traurig”, seufzte ich und rang die Hände. „Laßt mich doch endlich mit den Stiefeln in Ruhe!” Manauri jedoch war nicht im entferntesten geneigt, mich in Ruhe zu lassen. Er dachte gar nicht daran nachzugeben. Höflich, aber mit unbeweglichem Gesichtsausdruck und einem harten Glanz in den Augen sagte er: „Ich bitte dich, Jan, zieh diese Stiefel an! Sie werden das Zeichen deiner Würde sein.” Der gute Manauri hatte mir also die fragwürdige Rolle eines Häuptlings zugedacht und sah in den gräßlichen Stiefeln das Symbol meiner Herrschaft. Der Teufel sollte ihn holen! Das interessanteste aber war, daß auch die andern Indianer, wie ich merkte, seine Entscheidung billigten und sich gleichfalls in den Kopf gesetzt hatten, es sei meine ehrenvolle Pflicht, die Stiefel zu tragen. Wie konnte ich sie von diesem Unsinn abbringen? Nur Arnak und Lasana hatten keine Grillen im Kopf. Sie bewahrten ihre Ruhe, vergnügten sich aber köstlich über meine Nöte mit den Stiefeln. Sie schwiegen und machten keine Anstalten, mir zu Hilfe zu kommen. Wagura, dem Dritten im Bunde, funkelten die Augen vor Vergnügen. Er begann zu kichern und flüsterte mir englisch zu, wobei er die Worte mit Absicht dehnte: „Die Stiefel haben dich eingeholt, Jan. Nun wird der Weiße Jaguar Stiefel tragen.” Der Spötter hatte sich erinnert, daß mich Lasana Weißer Jaguar genannt hatte. Einzig Arasybo bildete eine Ausnahme in diesem Kreis. Noch immer stand er reglos neben den Stiefeln und sah mich durchdringend an. Sein starrer Blick ruhte auf meinem Mund, schien aber gleichzeitig in meine Augen und meine Gedanken eindringen zu wollen. Bis in die Runzeln des Gesichts zeichnete sich seine Willensanstrengung ab. Was wollte er von mir? In seinen Augen lag etwas Verlangendes. Plötzlich kam mir die Erleuchtung! Verschmitzt lächelnd wandte ich mich an den Häuptling: „Du hast doch gesagt, daß die Stiefel mir gehören?” „Es sind deine, Jan”, beeilte er sich zu versichern. „Sie gehören dir.” „Das ist gut so”, sagte ich zufrieden, hob die Stiefel auf und hielt sie Arasybo hin. „Nimm, ich schenke sie dir!” Ich lächelte ihm freundlich zu. Im ersten Augenblick wollte Manauri zornig aufbrausen. Da aber Arnak, Wagura und Lasana in lautes Gelächter ausbrachen, in das auch ich einstimmte, und Arasybo sich blitzschnell niederhockte und mit affenartiger Geschwindigkeit die Stiefel anzog, blieb ihm nichts anderes übrig, als gleichfalls zu lachen und die ganze Angelegenheit als Scherz hinzunehmen. Nachdem sich die Runde beruhigt hatte, erklärte er daher: „Gut, Jan, in diesem Fall will ich nachgeben, doch mußt du mir zwei Dinge versprechen. Beide sind zu deinem eigenen Vorteil.” „Wenn sie zu meinem Vorteil sind, bin ich einverstanden”, versicherte ich. „Was soll ich also versprechen?” „Erstens sollst du den Erdboden gut beobachten und dich vor Schlangen in acht nehmen, und zweitens, auch das ist ernst, wirst du, sobald wir unser Dorf erreichen, die Uniform des spanischen Hauptmanns anziehen, die in deinem Besitz ist, und — die Stiefel.” „Die Uniform nehmen wir mit?” fragte ich beunruhigt. „Wir nehmen sie mit’, entschied er kurz. „Gut, ich werde sie tragen, aber nur während des Einzugs ins Dorf.” „Das genügt. Dafür wirst du sie jedesmal anziehen, wenn uns andere Häuptlinge besuchen”, antwortete er in aller Ruhe. Um des lieben Friedens willen und um ihm seine großspurigen Pläne nicht zu verderben, ging ich auch darauf ein. Die spanischen Stiefel waren Arasybo viel zu groß, doch darauf achtete er gar nicht. Angeblich erleichterten sie ihm das Gehen. Wir überlegten, was wir mit ihm machen sollten. Arasybo selbst behauptete, daß ihm sein Hinken auch bei schnellen Märschen nicht hinderlich sei, und forderte, auf keinen Fall zurückgelassen zu werden. Die Indianer dagegen schüttelten den Kopf; sie hegten Befürchtungen, daß er ihnen unterwegs Schwierigkeiten bereiten könnte, und deuteten an, daß er in der Nähe des Geierbergs auf die Krieger warten solle, die kommen würden, um die restlichen Sachen zu holen. Mit diesen möge er dann nach Süden zurückkehren. Als Arasybo das hörte, verkrampfte sich sein Gesicht in wilder Verzweiflung, und in seinen Augen glimmten Funken des Hasses oder des Wahnsinns auf. „Unrecht!” stieß er röchelnd hervor, unfähig, andere Worte zu finden. „Unrecht!” Er war aufs äußerste erregt, und mir schien es an der Zeit, einzugreifen und ihm beizustehen. „Manauri!” rief ich laut, um den herrschenden Lärm zu übertönen. „Ist es notwendig, daß Arasybo hier bleibt, um unsere Sachen zu bewachen?” „Es wäre gut, wenn er zurückbliebe”, antwortete der Häuptling. „Ich möchte wissen, ob es unbedingt notwendig ist?” „Unbedingt?” Unter meinem scharfen Blick wurde er schwankend. „Unbedingt müßte es nicht sein.” „So geht es auch ohne ihn?” Meine Worte klangen fordernd. „Es geht auch ohne ihn.” „Und du!” Ich wandte mich an Arasybo. „Bist du sicher, daß du den Anstrengungen des Marsches gewachsen bist?” „Ich falle nicht um, ich werde den Marsch nicht aufhalten”, wimmerte der Hinkende. „Mein Bein ist ausgeheilt, es ist nur kürzer. Die Stiefel helfen mir auch.” „Gut’, sagte ich. „Wir nehmen ihn mit. Es wäre unmenschlich, ihn hier zurückzulassen.” Es war niemand dagegen, denn im Grunde wünschten ihm alle das Beste. Arasybo schielte zu mir herauf, und über sein verzerrtes Gesicht huschte ein Ausdruck des Dankes. Ein seltsamer, bedauernswerter Mensch! Nun begannen wir mit der dringendsten Arbeit, mit dem Entladen des Schiffes. Die Indianer, von denen die meisten jeden Winkel der Lagune genau kannten, zogen den Schoner in der Nähe eines steil abfallenden Felsens ans Ufer heran. Am Fuß des Felsens, kaum dreißig Schritt vom Wasser entfernt, befand sich eine Höhle. In ihr verbargen wir alle Sachen, die wir nicht mitnehmen konnten. Es kam ziemlich viel zusammen, denn wir brachten nicht nur einen Teil der sorgsam eingefetteten Waffen hierher, sondern auch verschiedene Geräte sowie Mais und Dörrfleisch, das wir auf dem Schoner gefunden hatten. Zum Schluß schleppten wir die gesamte Takelage des Schiffes in die Höhle. Als es Abend wurde, waren wir mit der Arbeit fertig und verschlossen den Eingang mit Steinen und Buschwerk, so daß kein Fremder hier etwas vermuten konnte. Den Schoner verankerten wir zwischen den schroffen Felsen eines schmalen, aber tiefen Einschnitts im Westteil der Lagune. Wir waren überzeugt, daß ihn in diesem engen Schlauch das Auge eines Nichteingeweihten kaum entdecken konnte. Unsere drei Boote zogen wir an Land und versteckten sie kieloben im Gebüsch. Der Untergang der Spanier ir verbrachten die Nacht am Ufer der Lagune und traten bei Sonnenaufgang unseren weiten Weg an. Obwohl wir nur das Notwendigste mitnahmen, trug jeder von uns einen großen Packen auf dem Rücken. Außer den Bogen, Speeren und Keulen der Indianer führten wir drei Musketen, drei Kugelbüchsen und fünf Pistolen nebst der entsprechenden Menge Pulver und Kugeln mit. Ferner gehörten eine Anzahl Äxte, Messer und Spaten zu unserer Ausrüstung sowie viel Proviant, um unterwegs keine Zeit für die Jagd verschwenden zu müssen. Endlich schleppten wir noch etwas Stoff und spanischen Flitterkram mit uns, wovon das beste Stück die Paradeuniform war, die ich bei großen Zeremonien tragen sollte. Wir marschierten zunächst den Fluß entlang, der in die Lagune mündete. Während der Morgenstunden kamen wir durch die verlassenen Siedlungen der Arawaken, in denen es genauso traurig aussah wie in dem Dorf an der Bucht. Gegen Mittag rasteten wir, verließen dann das Flußtal und stiegen mühsam eine hohe Bergkette hinan, die parallel zur Küste verlief. Als es Abend wurde, hatten wir den höchsten Punkt überschritten und blickten in eine Landschaft hinab, die nicht mehr so zerklüftet war und deren sanfte Hügel ein leichteres Vorwärtskommen versprachen. Unsagbar erschöpft schlugen wir unser Lager auf. Arasybo hatte den ganzen Tag tapfer durchgehalten. Die Vegetation hier war ziemlich dürftig, was für Gegenden mit trockenem Klima charakteristisch ist. Es gab wenig Bäume, und das Buschwerk war mit Stacheln übersät, die einem immer wieder die Haut aufrissen. Von höherem Wild war keine Spur zu entdecken. Unter der spärlichen Vogelwelt vermißte ich die Papageien, die mir auf der Insel so liebe Freunde gewesen waren. Nur die Geier kreisten in Scharen über den Bergen, und ich zerbrach mir den Kopf, nach welcher Beute die Aasfresser in dieser unfruchtbaren Gegend Ausschau hielten, wenn nicht nach uns, nach den Menschen! Plötzlich tauchte unter den schwarzen Vögeln ein anderer, sehr seltener Geier auf, der herrlich gefärbt war. Sein Hals leuchtete schneeweiß, den Kopf zierte ein grelles Rot. Die Indianer jubelten, als sie ihn sahen, und verfolgten aufmerksam seinen Flug. Wie mir Arnak erklärte, galt dieser Vogel als der Urvater aller Geier und war der Held vieler indianischer Sagen und Legenden. Der erste Sonnenstrahl des folgenden Tages fand uns bereits wieder auf dem Marsch. Nachdem wir von den Bergen herabgestiegen waren und das Hügelland durchquert hatten, öffnete sich vor uns eine weite, fruchtbare Steppe. Die sanften Bodenwellen waren mit hohen Gräsern bewachsen, hier und da lugte Buschwerk aus Einschnitten und Talsenken hervor, sogar Bäume gab es. Es waren Palmen mit ganz eigenartigen Blättern, wie ich sie noch nirgends gesehen hatte. Diese Blätter waren weder länglich wie die der Kokospalme, die an Mädchenzöpfe erinnern, noch glichen sie den federförmigen Blättern, sondern sahen aus wie riesige gespreizte Menschenhände oder eine Art Fächer. Die Palmen boten einen fröhlichen Anblick und waren in Abständen von mehreren hundert Schritten über die Steppe verstreut. Nirgends bildeten sie einen größeren Hain und stellten kein Hindernis für den Blick dar, den man viele Meilen im Umkreis schweifen lassen konnte. „Prachtvoll! Ein bezauberndes Meer aus Gras! Sein Ende ist gar nicht abzusehen!” rief ich entzückt aus, als ich von einem Hügel über die schier unermeßliche Landschaft schaute. „Das sind die Llanos, wie die Spanier sie nennen”, sagte Manauri lächelnd. „Du möchtest ihr Ende sehen, Jan? Bis dorthin ist es sehr, sehr weit. Wenn wir immer gerade nach Süden gehen, erreichen wir nach zehn Tagen den Orinoko. Dort am Wasser stehen die Bäume dichter, aber jenseits des Flusses erstrecken sich wie-der die gleichen Llanos. Mehr als zehn Tagemärsche gibt es nur Gras und wieder Gras, bis zu den Berghängen, wo dichtes Strauch-werk wuchert und der Urwald beginnt. Anders wäre es, wenn wir uns nach Osten wendeten.” „Wie sieht es dort aus?” „Dort hört das Gras bereits nach zwei, drei Tagen auf und macht dem Urwald Platz, der das ganze Mündungsgebiet des Orinoko bedeckt und bis ans Meer heranreicht. Er überzieht auch das Land südlich des Flusses mit ununterbrochenem Grün. Dieser Urwald ist so riesengroß, daß niemand seine Grenzen kennt. Man sagt, daß ein halbes Menschenleben nicht ausreichen würde, um sein Dunkel zu durchqueren. Riesige Flüsse bahnen sich darin ihren Weg, und die Indianerstämme, die in den Tiefen des Waldes hausen, sind gar nicht zu zählen. Die einzelnen Stämme unterscheiden sich sehr. Es gibt friedliebende und grausame; manche gleichen mehr wilden Bestien als Menschen, andere sind wohlhabend, und wieder andere leben im tiefsten Elend. Es verbergen sich dort auch Stämme, die mehr Gold besitzen, als wir Mais haben, und sich Hütten aus purem Gold bauen. . .” „Du meinst sicher den Reichtum der Inkas”, unterbrach ich ihn. „Die Spanier haben dieses Volk längst unterjocht und alles Gold gestohlen.” „Die meine ich nicht. Der Stamm, von dem ich spreche, wurde bisher noch nicht unterworfen und heißt Manoa, genau wie die Stadt, die er aus purem Gold erbaut hat.” „Das klingt sehr nach einem Märchen!” „Vielleicht ist es ein Märchen, doch wer will es wissen? Unter den Arawaken ist so mancher Raubzug der Spanier aus längst vergangenen Zeiten überliefert, und so ist es auch bekannt, daß sie den Caronifluß hinaufgezogen sind, um Manoa zu erobern und das Gold zu erbeuten. Fest steht, daß sie in die Stadt eingedrungen sind, doch ist kaum einer zurückgekommen"„Und der goldführende Caroni existiert wirklich?’ „Natürlich existiert er, Jan. Er mündet von Süden her in den Orinoko, bevor sich dieser in viele Arme gabelt und Tausende Inseln entstehen läßt. Ja, er ist freigebig, der Urwald im Süden, dieser furchtbare Urwald voller Geheimnisse!” „Euer Pomerun fließt auch durch diesen Urwald?” „Ja, nur näher der Mündung des Orinoko, ungefähr zehn bis zwölf Tagemärsche südlich davon. Die Arawaken haben ihre Felder den endlosen Waldgebieten im Süden abgerungen.” Während wir uns über ferne Flüsse und den rätselhaften Urwald unterhielten, dessen tropische Pracht mich lockte, obgleich ich mir schwer eine Vorstellung davon machen konnte, tauchten wir in das hohe Gras der Llanos ein. Die Regenzeit der Sommermonate war gerade vorüber, und die Gräser wucherten üppig. Stellenweise überragten sie unsere Köpfe, meistens reichten sie uns bis zur Hüfte, strichweise waren sie nur kniehoch. Nach indianischem Brauch gingen wir im Gänsemarsch, und wer an der Spitze war, bahnte für die folgenden den Pfad, indem er die Halme vor sich mit einem langen Messer abschnitt, wenn sie zu dicht standen. Als die Sonne über den Horizont emporstieg, verbreitete sich eine angenehme Wärme, doch bereits zwei, drei Stunden später setzte uns die schier unerträgliche Hitze arg zu. Der bis dahin azurblaue Himmel nahm eine bleifarbene, nebelhafte Färbung an, Windstöße jagten über die Steppe wie Wellen über das Meer. Manauri, der an der Spitze ging, verhielt plötzlich, gab durch Zeichen zu verstehen, daß wir uns ruhig verhalten sollten, und winkte mich zu sich heran. „Sieh dir das an.” Er deutete auf die Erde und tat einige Schritte nach vorn. Dort waren frische Spuren zu sehen, ein Zeichen, daß vor kurzer Zeit Tiere vorbeigezogen waren.- Nach den Fährten im Gras zu urteilen, mußten es größere Tiere gewesen sein, und zwar eine ganze Herde. „Gibt es hier Bisons?” fragte ich den Häuptling. Es zeigte sich, daß weder Manauri noch seine Gefährten wußten, was Bisons sind. Als ich sie ihnen beschrieb, erklärten sie, daß solche Tiere in der Gegend überhaupt nicht zu finden seien. „Was könnten es dann für Bestien sein? Welch neues Rätsel taucht hier wieder auf?” Die mit der hiesigen Natur engvertrauten Indianer zerbrachen sich vergebens den Kopf und konnten sich nicht einig werden. Die Spuren kreuzten unseren Pfad in schräger Linie und führten ungefähr in der gleichen Richtung weiter, in der auch wir uns bewegten. Da es also keine große Abweichung bedeutete, folgten wir der Fährte. Wir hatten kaum hundert Schritt zurückgelegt, als ich den Kot eines der Tiere auf der Erde bemerkte. Nun wurde mir alles klar: Hier zog eine Rinderherde entlang. Sie konnte nicht weit sein. Gleich darauf entdeckten wir sie etwa eine Meile vor uns. Es waren mehr als fünfzig Tiere, die langsam durch den Llano zogen. „Frisches Fleisch!” Die Augen des Häuptlings leuchteten. „Wo eine Herde ist, dort können auch Spanier sein”, entgegnete ich. Meine Warnung klang jedoch nicht sehr entschieden; denn wie allen andern, so lief auch mir das Wasser im Mund zusammen. Wir faßten den Entschluß, ein oder zwei Tiere zu erlegen, doch schien es uns sicherer, die Fährte zu verlassen und uns der Herde von der Seite zu nähern. Aufmerksam suchten wir mit den Augen die Umgebung ab, ob auch keine Menschen in der Nähe seien. „Jan, was ist das?” stieß Arnak plötzlich hervor und deutete in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ungefähr zwei Meilen entfernt erspähten wir einen eigenartigen dunklen Punkt, der sich bewegte. Sollte es eine zweite Herde sein? Ich hatte kaum das Fernrohr ans Auge gesetzt, als sich das Geheimnis klärte: Dort hinten jagten mehrere Reiter im Galopp über die Steppe. Ich schrie den Gefährten meine Beobachtung zu. Zwar folgten die Reiter nicht unserer Spur, sondern der des Viehs, doch war das ein geringer Trost, denn ebendeshalb mußten sie nach kurzer Zeit auf uns stoßen. Es blieb nur eine Möglichkeit, dieser Begegnung zu entgehen. „Schnell zur Seite!” rief ich. „Im Gänsemarsch, damit man an der Spur nicht erkennen kann, wie viele wir sind!” Ich brauchte kein zweites Mal zu rufen, denn alle hatten begriffen, welche Gefahr uns drohte. Die Spitze unserer Kolonne bog nach links ab und verließ die Fährte der Herde. Während des Laufens eilten Arnak, Wagura, Manauri und der Neger Miguel zu mir. „Wie viele sind es?’ brüllte der Häuptling. „Nicht viele. Sechs oder sieben.” „Spanier?” „Ja! Arnak, Wagura, sind eure Büchsen geladen?” „Sie sind geladen.” „Seht nach dem Pulver auf den Pfannen. Wer trägt die Pistolen?” „Ich!” rief Miguel. „Nimm sie aus dem Sack und verteile sie!” Zum Glück waren die Pistolen immer schußbereit. Wir brauchten also keine Zeit mit dem Laden zu verlieren und mußten uns nur überzeugen, ob genügend Pulver aufgeschüttet war. Der Llano war an dieser Stelle eben wie ein Tisch, es gab weder Hügel noch Mulden, und zu allem ärger war gerade hier das Gras nicht sehr hoch. Die Halme reichten uns kaum bis an die Knie. Hätten wir mehr Zeit gehabt, wäre es uns bestimmt gelungen zu verschwinden, doch blieb uns eben nicht die Möglichkeit dazu. Wir waren kaum zweihundert Schritt von der Fährte entfernt, als uns die Spanier bereits bemerkten. Offensichtlich hatten sie es eilig, die Herde zu erreichen, denn sie jagten noch immer im Galopp dahin. Unsere weitere Flucht wäre sinnlos gewesen, sie hätte nur unerwünschten Verdacht hervorrufen können. Ich ließ daher die Gruppe halten und Atem schöpfen. „Jeder soll seine Waffe verbergen, so gut er kann”, sagte ich. „Es ist besser, wenn die Spanier sie nicht entdecken.” „Und die Bogen? Die Speere?” „Die behaltet ihr in den Händen, aber so, wie die Indianer sie auf dem Marsch zu tragen pflegen, unauffällig, nachlässig.” Ich verbarg die Muskete im Gras neben meinen Füßen, verdeckte die im Gürtel steckende Pistole mit dem Lendenschurz und band mir, damit die Reiter meine hellen Haare nicht erblickten, schnell ein rotes Tuch um den Kopf, wie es die Matrosen tragen. Da ich nackt war und mehrere Indianer ähnliche Tücher wie ich trugen, unterschied ich mich durch nichts von meinen Begleitern. Mein Gesicht war bartlos; seit ich auf dem Schoner ein Rasiermesser gefunden hatte, rasierte ich mich jeden Tag, die Haut war braungebrannt, fast bronzefarben, kurz, ich sah wie ein Indianer aus, nur um eine Schattierung heller. Die Reiter hatten sich uns auf eine Viertelmeile genähert, zügelten die Pferde und ritten nach kurzem Zögern auf uns zu. Sie kamen ganz nahe heran, betrachteten uns neugierig, hielten aber nicht an, sondern setzten ihre Pferde wieder in Galopp. „Indios’, brummte einer von ihnen. Als sie sich bereits etliche Pferdelängen entfernt hatten, rief einer den andern etwas zu, worauf alle erstaunt zu uns herüberblickten. Ihren Ritt aber verlangsamten sie nicht und eilten der Herde nach. „Sieben sind es”, äußerte Wagura. „Glaubst du, daß sie zurückkehren?” „Das kann möglich sein”, entgegnete ich, „es sah jedenfalls so aus, als hätten sie bei uns etwas Besonderes entdeckt.” Ich ordnete an, schneller zu marschieren, um so weit wie möglich von der unliebsamen Gesellschaft wegzukommen. Es nützte aber nicht viel, denn bei der reinen Luft waren die Llanos auf Meilen im Umkreis gut zu übersehen, und ich mußte bald einsehen, daß es ein Ding der Unmöglichkeit war, den Reitern entrinnen zu wollen. Noch rechnete ich damit, daß sie uns in Ruhe weiterziehen lassen würden, aber auch das trat nicht ein. Nachdem die Spanier bei der Herde anlangten, versperrten sie ihr den Weg und zwangen sie umzukehren. Dann begannen sie das Vieh auf uns zuzutreiben. Sie taten dies sehr hitzig, so daß sich die Entfernung zwischen ihnen und uns verringerte. Es dauerte kaum eine halbe Stunde, und sie hatten uns wieder erreicht. Sie brachten die Herde etwa hundert Meter seitlich von uns zum Stehen und kamen auf uns zugeritten. Wir hatten uns wieder so aufgestellt wie zuvor. Die Schußwaffen lagen griffbereit im Gras verborgen, die Lasten hatten wir abgelegt, um in unserer Bewegungsfreiheit nicht behindert zu sein, und waren auf alles vorbereitet. „Buenas dias”, knurrte einer der Näherkommenden, ein riesenhafter Spanier mit schwarzem Bart und dem Gesichtsausdruck eines grimmigen Konquistadors. Aus seinem Gürtel schaute eine prachtvolle Pistole heraus, deren silberner Griff mit zahlreichen Edelsteinen besetzt war. Sicher war er der Anführer. „Buenos dias”, antworteten einige unterwürfige Stimmen aus unserer Mitte. Die Reiter hielten in einer Reihe, und zwar so nahe, daß uns die Köpfe ihrer Pferde fast berührten. Sie betrachteten uns mit eindringlicher, verächtlicher Neugier, wie man einen toten Gegenstand oder gar ein verendetes Tier betrachtet. Aus ihrem Schweigen und den zudringlichen Blicken, die sie über uns hingleiten ließen, spürte ich förmlich die grenzenlose Verachtung, die dem Gefühl der Überlegenheit der Herren über die Sklaven entsprang. Der neugierigste unter ihnen war ein Indianer. Er sah genauso hochmütig auf seine Stammesverwandten herab wie die Spanier und war auch wie diese mit einem Hemd und einer weiten Hose bekleidet. In der rechten Hand hielt er eine lange Peitsche, und um seine Augen zog sich ein Ring aus schwarzer Farbe, der seinem Gesicht einen teuflischen Ausdruck verlieh. Mit Ausnahme jenes Indianers trugen alle Reiter schwarze Bärte. Auch der jüngste von ihnen, ein etwa sechzehnjähriger junger Bursche, war bartlos und betrachtete uns — recht verwunderlich für einen Spanier — mit anderen Augen, ohne jenen grausamen Hochmut, fast freundlich. Jeder der Reiter besaß eine lange Lanze, die sichtlich zum Treiben der Herde diente, vier hatten Büchsen, dreien hingen Degen an der Seite, und allen schauten Pistolen aus dem Gürtel, wie ich genau feststellte. Sie waren also gut bewaffnet und um so gefährlicher, als vier von den Pistolen zwei Läufe besaßen, was bedeutete, daß man mit jeder von ihnen zwei Gegner niederstrecken konnte. „Siehst du den Indianer?” flüsterte Manauri, und Arnak übersetzte mir die Frage. „Er ist vom Stamm der Cumanagotos.” „Er ist einer von diesem grausamen Stamm? Woran erkennst du das? „An dem schwarzen Ring um die Augen. Es ist das Zeichen dieses Stammes.” „Sicher gehören sie alle zum Rancho La Soledad?” „Bestimmt.” Endlich beendete der Anführer, es war der mit der silbernen Pistole, die stumme Betrachtung und fragte barsch: „Wohin wollt ihr?” Obwohl er spanisch sprach, konnte ich den Inhalt seiner kurzen Frage leicht erraten. „Wir wollen weit über den Orinoko”, antwortete Manauri, der Wahrheit entsprechend. „Zum Pomerun, dort leben unsere Stammesbrüder.” „Und was sucht ihr so weit im Norden?” „Wir haben viele Jahre unter dem Geierberg gelebt, nun wollen wir uns mit unserem Stamm vereinigen.” Diese und die vorangegangene Antwort machten einen guten Eindruck und schienen die Neugier des Bärtigen zu befriedigen, doch rührte er sich nicht von der Stelle und starrte uns mit lüsternen Augen an wie der Hund einen Knochen. Plötzlich stellte er eine neue Frage: „Was habt ihr denn in den Säcken?” „ Lebensmittel. ” „Was sonst noch?” „Verschiedene Kleinigkeiten.” „Was für Kleinigkeiten?” „Was für Kleinigkeiten?” Die Worte dehnend, wiederholte der Häuptling die Frage, dann antwortete er: „Wir haben Dinge darin, die der Indianer in seinem Alltag braucht, um leben zu können. . . Flaschenkürbisse, Schnüre. . .” „Drücke dich genauer aus! Was habt ihr darin?” drang der Spanier in ihn. Noch sprach er, ohne die Stimme zu erheben, doch klangen die Worte schärfer als bisher, und es war zu merken, daß er zusehends ungeduldiger wurde. In diesem Augenblick hob der Cumanagoto die Peitsche, holte weit aus und ließ sie über unsere Köpfe hinwegsausen. Es wurde zwar niemand getroffen, doch gab es einen so scharfen Knall, daß die Kinder zu weinen begannen. „Und was ist das?” rief der Spanier und berührte mit der Lanzen-spitze einen der umherliegenden Säcke, aus dem der Stiel eines Spatens herausragte, der nicht genügend verdeckt worden war. „Das”, erklärte Manauri ruhig, „das ist zum Umgraben der Erde.” „Und das braucht ihr auch alle Tage? Ihr Indianer benötigt ein so seltenes Gerät?” „Wir brauchen es, Herr. Wir sind Arawaken.” „Ich verstehe nicht, was das eine mit dem andern zu tun hat.” „Wir sind Bauern”, verbesserte sich der Häuptling. „Und woher habt ihr den Spaten?” Die Stimme des Spaniers war jetzt scharf wie die Schneide eines Messers. „Wo habt ihr ihn gestohlen?” „Wir haben ihn nicht gestohlen.” „So ist er euch vom Himmel gefallen?” „Vom Himmel nicht’, entgegnete Manauri mit sanfter, geduldiger Stimme. „Das Meer hat ihn uns geschenkt.” Ich bewunderte die Geistesgegenwart des Häuptlings. Die Spanier aber wurden durch sein beherrschtes Wesen gereizt. „Das Meer?” knurrte der Bärtige. „Willst du mich zum Narren halten?” „Wie könnte ich dich zum Narren halten, o Herr”, sagte Manauri scheinbar verängstigt. „Während eines Sturmes zerschellte ein englisches Schiff unweit unserer Lagune, und das Meer hat viele Gegenstände an die Küste gespült.” „Die Tücher auf euren Köpfen hat auch das Meer an Land gespült?” Der wütende Spanier hob plötzlich die Lanze und tat, als wolle er den Häuptling durchbohren. Manauri zuckte mit keiner Wimper, meine Hand aber fuhr zum Gürtel und umspannte den Griff der Pistole. Fast zu ungestüm war diese Bewegung, doch hatte sie keiner der Reiter bemerkt. Zum Glück stieß der Spanier nicht zu, sondern schrie nur: „Du lügst, Hundsfott! Diese Tücher sind neu, sie waren nicht im Seewasser!” „Nein, sie waren nicht im Wasser”, bestätigte der Häuptling. „Du hast recht.” „So hast du also gelogen?” „Ich habe nicht gelogen.” „Bist du nur dumm, oder bist du so frech?” Manauri war die Ruhe selbst, er ließ sich einfach nicht aus dem Gleichgewicht bringen. „Ich bin nicht frech”, erwiderte er, „ich sage nur, was sich zugetragen hat. Als wir die Tücher fanden, waren sie trocken, denn sie waren in einem wasserdichten Kasten eingeschlossen, den die Wellen nach dem Untergang des Schiffes an den Strand geworfen haben. Das ist alles, Herr, wirklich alles!” Leider war es noch nicht alles, was die Spanier wissen wollten, und die eigentliche Not sollte erst beginnen. Der Bärtige fragte schneidend: „Wann ist das mit dem Schiff passiert?” „Das ist noch nicht lange her... Drei Monate vielleicht.” Der Spanier warf einen unheilverkündenden Blick nach der Seite, wo unsere Neger standen, und knurrte: „Und die dort, wo sind die her?” Seine Züge belebten sich, sein Gesicht nahm einen raubgierigen Ausdruck an, und ich bemerkte, daß diese Frage die wichtigste für ihn war. Vielleicht war es ihm von Anfang an nur um die Neger gegangen. „Das sind Angehörige unseres Stammes”, antwortete Manauri mit der gleichgültigsten Miene. „Es sind eure Sklaven?” Wütend zog der Spanier die Brauen zusammen. „Seit wann besitzen die Indianer Sklaven?” „Wir besitzen keine Sklaven”, entgegnete der Häuptling. „Sie sind freie Menschen und gehören genauso zum Stamm wie wir.” „Ach so, es sind also Indianer?” rief der Bärtige. „Nur die Haut ist etwas nachgedunkelt, wie?” „Nein, Herr, es sind Neger, aber sie haben aufgehört, Neger zu sein, und sind Arawaken geworden.” Diese umständliche Erklärung rief bei den Spaniern eine Lachsalve hervor. „Höre auf, uns zu täuschen!” drohte der Spanier. „Wir haben uns lange genug unterhalten. Sage jetzt die Wahrheit, sonst machen wir mit euch allen kurzen Prozeß! Von welcher Hazienda sind diese Sklaven entlaufen?” „Herr, habe ich dir nicht gesagt, daß ein englisches Schiff an unserer Küste zerschellt ist?” In der demütigen Stimme Manauris schwang ein leichter Vorwurf. „Und diese Neger haben sich allein aus dem Sturm gerettet?” „So wahr ich lebe!” „Von dem englischen Schiff, das untergegangen ist?” „So ist es.” Der Spanier zögerte einen Augenblick, er schien zu überlegen. Jäh ritt er an die Neger heran, zog die silberne Pistole aus dem Gürtel und wandte sich mit geheuchelter Freundlichkeit an Dolores: „Sage mir, wie du heißt, gute Frau?” „Dolores”’, antwortete sie erschrocken. „Auf welcher Hazienda hast du gedient?” Dolores, deren Geist leicht in Verwirrung geriet, war fast von Sinnen vor Angst und folgte mit irrem Blick der Hand mit der Pistole. Schließlich brachte sie doch so viel Verstand auf, daß sie sich erinnern konnte, was Manauri von dem englischen Schiff erzählt hatte, und sagte, ohne aus der Rolle zu fallen: „Ich war auf dem Schiff, Herr. .. Ich habe mich gerettet.” „Und deine Gefährten, diese Neger hier? Sie stammen auch von dem Schiff?” „Ja, so ist es’, keuchte die Ärmste, der vor Angst der Schweiß aus den Poren trat. „Was für ein Schiff war das, ein englisches oder ein spanisches?” „Ein englisches, o Herr, ein englisches.” „Und du warst nie als Sklavin bei Spaniern?” Der entsetzten Frau wurde es immer schwerer, die Täuschung fortzusetzen, doch stieß sie hervor: „Nein, niemals!” Der Spanier hüllte sich in Schweigen. Nach einer Weile brüllte er mit drohender Stimme: „Dolores, sage mir, wo du Spanisch gelernt hast!” Die in die Enge getriebene Frau begann zu schluchzen und konnte kein Wort mehr hervorbringen. Nun wandte sich der Bärtige dem Häuptling zu, wobei er wie zum Vergnügen immer wieder mit der Pistole anlegte. Ich ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen und war entschlossen, ihm eine Kugel in den Schädel zu jagen, sobald er den Hahn spannen würde. Der eingebildete Tollkopf ahnte gar nicht, daß sein Leben nur an einem seidenen Faden hing. „Und du, wo hast du Spanisch gelernt?” herrschte er den Häuptling an. „Wie heißt du eigentlich?” „Manauri.” „Woher kannst du Spanisch?” „Der Padre Missionar hat es mich gelehrt. Er lebte lange Zeit in unserem Dorf.” „So bist du Christ?” „Natürlich. Ich bin Christ.” „Bekreuzige dich!” „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.” Manauri konnte es, er bekreuzigte sich richtig. Alle Sklaven auf der Insel Margarita hatten die Religion ihrer Herren annehmen müssen. „Es ist gut’, entschied der Spanier. „Ihr Indianer seid frei und könnt euch zum Teufel scheren. Diese fünf Negersklaven aber und die Negerin nehmen wir mit uns. Sie stehen uns zu.” „Aber Herr”, rief Manauri flehend. „Es sind keine Sklaven. Sie wurden in den Stamm aufgenommen und sind uns gleichgestellt.” „Es sind Sklaven!” brüllte der Bärtige. „Und du schweig, wenn dir dein Leben lieb ist!” Manauri duckte sich, als habe ihn die Drohung heftig erschreckt. Als ich diese Unterwürfigkeit sah, war ich entsetzt. Ich erinnerte mich, wie tapfer sich diese Indianer vor kurzem auf der Insel geschlagen hatten. Damals hatte ich die Überzeugung gewonnen, daß sie nicht zu zähmende Kämpfernaturen seien, die Phantasie und Herz genug besaßen, um selbst die Hölle zu bezwingen, wenn es sein müßte. Und nun mußte ich dieses peinliche Bild in mich aufnehmen. Dieser eingeschüchterte, fügsame Haufen dort, das waren armselige Schlucker, angstgelähmte, elende Kreaturen, beherrscht vom Gebrüll eines wütenden Spaniers, unfähig, die Augen zu heben, viel weniger die Hände. Sollten ihre Seelen das Joch der Sklaverei noch nicht abgeschüttelt haben? Ich war zutiefst erschrocken, doch war es nicht die Gewalttätigkeit des Gegners, die mir Entsetzen einflößte, sondern die Schwäche der Unsern. Ich hegte Zweifel, ob sie überhaupt los-schlagen würden, wenn ich das Zeichen zum Angriff gab. Was war mit Arnak und Wagura, die mir in vielen Monaten tapfer zur Seite gestanden hatten? Würden auch sie mich enttäuschen? Besorgt blickte ich zu ihnen hinüber und entdeckte auch hier nur Ergebenheit und rätselhafte Fügsamkeit. Sollten auch sie mich im Stich lassen? Die Lage wurde immer bedrohlicher, das Unwetter kam immer näher. „Es sind unsere Leute”, bat Manauri für die Neger und setzte verzweifelt hinzu: „Füge ihnen kein Unrecht zu. Reiße uns nicht auseinander, Herr. Wir gehören zusammen. Es sind freie Menschen.” „In diesem Land gibt es keine freien Neger, das weißt du genau!” schrie der Spanier. „Diese hier sprechen Spanisch. Daraus geht hervor, daß sie Sklaven auf einer Hazienda waren und von dort geflohen sind. Nehmt sie fest!” befahl er seinen Leuten. Die Reiter trabten auf die Neger zu, um sie zu überwältigen und von den anderen zu trennen. Dolores stieß einen gehenden, unmenschlichen Schrei aus. „We must kill them all!” raunte ich Arnak und Wagura zu. Sie zwinkerten mir zu, zum Zeichen, daß sie verstanden hatten. „Sagt den andern, daß sie sich bereit halten sollen.” „Sie sind schon bereit, Jan”, versicherte Arnak. Ich schenkte dieser Versicherung nicht viel Vertrauen; doch blieb mir keine Zeit mehr zu Erklärungen, und ich beschränkte mich auf die mahnenden Worte: „Achtet gut auf alles, was ich tue! Bei der Gruppe der Neger herrschte großer Tumult. Ich trat unbemerkt aus der Reihe und rief, so laut ich konnte: „Haltet ein!” Ich hatte englisch gerufen, doch übten die Worte auch so ihre Wirkung aus. Diese energische, befehlende Stimme, die aus dem Kreis der Indianer kam, ließ die Reiter verwundert stutzen und brachte sie geradezu aus der Fassung. Alle blieben ruckartig stehen, wie vom Blitz getroffen. Sie waren zunächst stumm vor Erstaunen, daß ein Indianer sie so anzuschreien wagte, und starrten mich entgeistert an. Erst nach einer Weile erholte sich ihr Anführer von der Über-raschung und wandte sich grollend und zugleich erheitert an mich: „Was bist denn du für ein Köter?” Da ich ihn nicht verstehen konnte, mußte Manauri die Worte ins Arawakische übersetzen und Arnak aus dem Arawakischen ins Englische. Auf diese Weise hatten sie bereits eine anständige, weniger beleidigende Form angenommen, als sie mich erreichten. „Ich bin Engländer, befand mich auf dem gesunkenen Schiff und wurde von der See an den Strand gespült”, erklärte ich. „Mein Name ist John Bober.” „Eine sehr interessante Begegnung, Herr Engländer”, sagte der Spanier gespreizt und strich sich mit böswilligem Wohlgefallen den schwarzen Bart. „Was glaubst du wohl, wohin dich der Teufel geführt hat, in welchem Land du dich jetzt befindest?” „Ich nehme an, in Venezuela.” „Stimmt, in Venezuela, also in einem spanischen Land, in dem du als Engländer ein zwar ehrenvoller, aber ungebetener Gast bist.” „Ich bin gezwungenermaßen hier, nicht aus freien Stücken.” „Quien sabe! Wer kann es wissen! Übrigens bist du ein eigenartiger Engländer: nackt, verwildert wie jeder Indio, dazu noch barfuß, ohne Stiefel.” „Es ist bequemer so. Außerdem besitze ich Stiefel. Sieh sie dir an!” Ich wies auf die Stiefel, die ich Arasybo geschenkt hatte. Zwar trug der Hinkende sie schon lange nicht mehr, da er barfuß viel besser laufen konnte; doch hatte er seinen Schatz nicht weggeworfen und die Stiefel fürsorglich über die Schulter gehängt. Der Anblick der Stiefel schien Eindruck auf den Spanier zu machen, denn er schlug einen anderen Ton an: „Warum hast du uns vorhin so angeschrien? Was haben wir dir getan?” „Ihr wolltet mir meine Leute wegnehmen.” „Die Neger sind deine Sklaven?” „Sie sind nicht meine Sklaven, sondern unter meiner Obhut.” „Das verstehe ich nicht.” „Sie stehen unter meinem Schutz und gehören folglich zu mir.” „Willst vielleicht auch du behaupten, daß sie frei sind?” „So ist es.” „Du weißt doch, daß es in diesem Land keine freien Neger gibt, und das, was du sonst erzählst, ist albernes Zeug. Die Neger waren in spanischen Händen — wo sollten sie sonst Spanisch gelernt haben — und kehren nun in spanische Hände zurück.” „Das werden sie nicht, Senor! Es wäre offenkundige Gewalt.” „Gewalt? Du ungebetener Eindringling willst mich noch beleidigen?” „Nicht im geringsten! Mein Wunsch ist es, daß wir uns höflich begegnen. Ich habe schon sehr viel von dem guten Benehmen und dem Entgegenkommen der Spanier gehört, besonders Ausländern gegenüber, aber auch gegenüber den Indianern.” Der Bärtige betrachtete mich finster und war so von sich eingenommen, daß er den Spott in meinen Worten gar nicht heraushörte. „Ich wünschte, daß wir uns im guten einigten und freundschaftlich auseinandergingen.” „Ich habe doch bereits gesagt, daß die Indianer gehen können, wohin es ihnen beliebt. Ich gestatte es!” „Es handelt sich jetzt nur um die Neger. . „Die Neger? Das ist etwas anderes. Die gehören uns, und dabei bleibt es! Darüber brauchen wir nicht weiter zu verhandeln.” „Wenn du, o Senor, uns schon keinen Beweis spanischer Großmut geben willst, so bitte ich dich, wenigstens einer anderen Stimme gegenüber nicht taub zu bleiben.” „Und die wäre? “ „Die Stimme der Vernunft.” „Der Vernunft?” „Ja, der Vernunft. Beliebe zu zählen, und du wirst sehen, daß wir mehr sind als ihr. Sollte es zu einer Auseinandersetzung kommen, wird also unser Zorn entsprechend größer und nachdrücklicher sein, vielleicht auch schrecklicher, wer kann es wissen? Es ist daher besser, wenn du nachgibst und wir in Freundschaft auseinandergehen. ” Ich sprach sehr höflich, wie es zuvor die Indianer getan hatten, denn mir lag viel an einer friedlichen Einigung. Die Spanier aber begegneten meinen Bitten und Vorstellungen mit offenem Hohn und hielten die Warnungen für Ausbrüche eines frivolen Kerls, der seinen Ärger nicht verbeißen kann. Da sie von ihrer Würde und der Überlegenheit ihrer Waffen überzeugt waren, fand der Gedanke, daß wir ernsthaften Widerstand leisten könnten, in ihren hochmütigen Köpfen keinen Platz. „Elender Eindringling”, brauste der Spanier auf. „Nicht genug damit, daß du gesetzwidrig in dieses Land eingedrungen bist, nun drohst du uns Spaniern noch? Auch dich werden wir mitnehmen! Ja, du kommst mit uns!” „Ich gehe nicht mit euch! Besinne dich, Mensch!” Alle Worte waren vergebens, er wollte nicht hören. „Packt ihn!” schrie er seinen Leuten zu, gab dem Pferd die Sporen und sprengte auf mich los. Da er während unseres Gesprächs die Pistole in den Gürtel gesteckt hatte, war seine rechte Hand frei. Er versuchte, mich am Hals zu erwischen. Er kam aber nicht mehr dazu, denn nun ging alles blitzschnell: die Pistole aus dem Gürtel reißen, den Hahn spannen und dem Spanier aus nächster Nähe eine Kugel in die Brust schießen war eins. Er ließ nur ein Stöhnen hören und fiel nach hinten vom Pferd. Mit zwei Sprüngen war ich bei der Muskete, hob sie auf, und während ich sie in Anschlag brachte, sah ich mich um., von welcher Seite ein Angreifer käme. Es erschien aber kein Gegner, denn es gab keinen mehr, der hätte angreifen können. Was sich nach meinem Schuß in Bruchteilen von Sekunden ereignet hatte, ist schwer zu beschreiben. Wie der Blitz war es über die Spanier gekommen: ein Aufzucken, ein Zuschlagen. Wie aus einem Lauf krachten mehrere Schüsse, gleichzeitig zischten Pfeile durch die Luft, surrten Speere, trafen Keulen. Ganz unheimlich war die Wandlung dieser Menschen, die aus fügsamen Lämmern zu rasenden Wildkatzen wurden. Dieser Umschlag ihrer schein-baren Furcht in hemmungslose Wut war kaum zu begreifen. Die Reiter waren so überrascht, daß sie nicht einmal zu den Waffen greifen konnten. Von Kugeln getroffen, von Pfeilen und Speeren durchbohrt, fielen sie von den Pferden, kaum daß einer ein Röcheln von sich gab. Allein dem Cumanagoto war es gelungen, sein Roß herumzureißen und davonzupreschen. Aber er kam nicht weit. Der Neger Miguel, ein Meister im Werfen, schleuderte den Speer hinter ihm her, und der bohrte sich mit solcher Gewalt in die Schulter des Fliehenden, daß er vom Pferd gerissen wurde. Gleich sprangen mehrere Indianer hinzu und erschlugen den Getroffenen. Damit war der kurze, aber blutige Kampf zu Ende. Einen Augenblick trat tiefes Schweigen ein. Ich war ganz benommen von den sich überstürzenden Ereignissen, vor allem aber setzte mich die Gewandtheit und Schnelligkeit, mit der die Gefährten den Feind überwunden hatten, in grenzenloses Erstaunen. Das war eine Schar von Kriegern, wie man sie selten fand. Als ich sie in aufrichtiger Bewunderung betrachtete, kam mir die Erkenntnis, welche unüberwindliche Kraft in dieser Handvoll Menschen steckte, wieviel Wille zum Widerstand in dieser Gemeinschaft verborgen war. Wie groß war mein Irrtum, als ich an ihrem Mut gezweifelt hatte! An der Spitze solcher Kämpfer — es waren einundzwanzig — konnte man so manche Tat in diesem weiten Land vollbringen. Einige Pferde teilten das Schicksal ihrer Reiter, sie lagen tot im Steppengras. Das Tier des Indianers aber galoppierte in den Llano hinaus, als es seiner Last ledig geworden war. Da sprang Miguel, ohne zu überlegen, auf eines der überlebenden Pferde und jagte dem Ausreißer nach. Und wie er ritt, der brave Bursche! Bald hatte er das Tier eingeholt, ergriff es am Zügel und brachte es zu uns zurück. „Das hast du großartig gemacht!” Voller Freude lief ich auf ihn zu und drückte ihm die Hand. „Ihn hast du genau getroffen, und auch auf das Pferd verzichtest du nicht!” „Ha!” Miguel lachte. „Die Schnelligkeit hat uns gut verteidigt, uns Neger.” „Keine Spur bleibt zurück von den Spaniern”, stellte Manauri befriedigt fest. „Weder ein Lebender, der uns verraten könnte, noch ein Pferd.” „Was soll nun geschehen?” fragte mich Arnak. „Vor allen Dingen müssen wir die Leichen vergraben, und zwar möglichst tief, damit sich die Geier nicht ansammeln und Menschen herbeilocken.” „Und dann?” Ja, was dann? War es nach dem, was vorgefallen war, ratsam, den Weg durch die Llanos fortzusetzen? Früher oder später würde das Geschehene doch bekannt werden, und dann würde sich eine Meute an unsere Fährte heften, um die Spanier zu rächen. Dann gäbe es keine Aussicht mehr, mit einem blauen Auge davonzukommen. Oder sollten wir schnell zur Lagune zurückkehren und mit dem Schoner unser Ziel zu erreichen versuchen? Ja! Es blieb kein anderer Ausweg. Ohne zu zögern, teilte ich den Gefährten meine Ansicht mit, und diesmal erhob sich kein Widerstand. Alle hatten genug von der Wanderung durch die gefährliche Steppe und wollten ihr Geschick nun dem Meer anvertrauen, obgleich auch dort unangenehme Überraschungen nicht ausgeschlossen waren. Als wir in großer Eile mit dem Ausheben der Gruben begannen, um die Leichen zu bestatten, ereignete sich etwas Ungewöhnliches. Einem der Spanier, der wahrscheinlich nur einen Schlag erhalten hatte, kehrte das Bewußtsein zurück. Es war jener bartlose Jüngling, der zuvor nicht mit solcher Verachtung auf uns herab-gesehen hatte wie die andern. Jetzt bewegte er die Arme und hob den Kopf. Als meine Gefährten dies sahen, stürzten sie auf ihn zu, um ihn zu töten. Es gelang mir, mich vor den Verwundeten zu stellen, bevor sie ihn erreichten. „Nicht töten!” schrie ich. „Warum nicht?” riefen sie wütend aus. „Er ist unser Feind! Er ist ein Spanier!” „Ja, er ist ein Spanier, und deshalb brauche ich ihn!” „Wozu? „Ich werde alles über das Land und die Menschen aus ihm herausholen. Das ist sehr wichtig für uns.” Es wäre zwecklos gewesen, andere, menschliche Gründe anzuführen, die hätten sie jetzt nicht gelten lassen. Übrigens war ich nicht weit von der Wahrheit entfernt. Man sah dem Jungen an, daß er nicht dumm war — vielleicht konnte er mich im Spanischen unterrichten, dessen Kenntnis in diesem Land von großem Nutzen war. Die Indianer aber warfen wilde, haßerfüllte Blicke auf den jungen Spanier und gebärdeten sich wie Wölfe, denen die sicher geglaubte Beute noch einmal aus dem Rachen geschlüpft ist. „Wir töten ihn!” riefen sie verärgert und drängten herbei. Doch ich war nicht allein, meine bewährten Freunde Arnak und Wagura standen mir zur Seite und auch der Neger Miguel. Bald hatte Manauri die aufgeregten Menschen beruhigt. Als sie zur Vernunft gekommen waren, gaben sie mir recht und erkannten den Jüngling als meinen Gefangenen an. Auch die Erkenntnis, daß wir keine Zeit durch Streitigkeiten verlieren durften, hatte geholfen, die Gemüter zu besänftigen, und bald waren wir mit den vier Spaten, die wir besaßen, wieder bei der Arbeit. Jeweils nach einigen Minuten wurden die Grabenden abgelöst, und nach kaum zwei Stunden hatten wir die Leichen der Menschen und der Tiere in die Gruben gebettet und mit einer ausreichenden Schicht Erde bedeckt. Noch während der Arbeit hatten einige Indianer die Absicht geäußert, Jagd auf die Viehherde zu machen und einen Vorrat an Frischfleisch zu besorgen. Ich widersetzte mich ihrem Wunsch und erklärte, daß wir keine Minute versäumen dürften, um von hier wegzukommen. „Und was werden wir essen?” fragten sie. „Wir haben drei lebende Pferde, die nehmen wir mit.” Die Pferde kamen uns sehr zustatten. Sie trugen nicht nur den wieder bewußtlosen Gefangenen, sondern auch alle unsere Lasten. Wir marschierten nun viel leichter und eilten mit schnellen Schritten dem Meer entgegen. Lasana, die ihr Kind zu tragen hatte und weder reiten konnte noch wollte, fiel es schwer, Schritt zu halten. Als ich merkte, daß sie kaum noch mitzuhalten vermochte, bot ich ihr meine Hilfe an. Lachend erwiderte sie: „Du willst mein Kind tragen?” „Was ist daran sonderbar?” „Das ist Sache der Frau und nicht des Mannes.” „Dummheit!” „Sie würden dich auslachen, Weißer Jaguar, wenn du das Kind trügest.” Mein Angebot mußte nach den Anschauungen der Indianer wirklich unschicklich sein, denn die in unserer Nähe gingen und unser Gespräch angehört hatten, vergnügten sich köstlich. Ich aber beachtete ihre Sticheleien nicht, denn mir tat die junge Frau aufrichtig leid, da wir Hals über Kopf durch die Steppe hetzten, sozusagen im Dauerlauf. „Gib mir das Kind”, drang ich in sie und zog es fast mit Gewalt aus dem Bündel auf ihren Schultern. Sie war verwirrt und erfreut zugleich. In ihren Augen malte sich unfaßbares Erstaunen. Die Feuerwaffe Am nächsten Tag, die Sonne stand schon ziemlich tief, trafen wir an der Lagune am Fuße des Geierbergs ein. Wir fanden alles so vor, wie wir es verlassen hatten: das unbewohnte Dorf, den Schoner und die in der Höhle verborgenen Sachen. Da wir es eilig hatten, diesem unfreundlichen Landstrich den Rücken zu kehren, zogen wir, obgleich wir von dem anstrengenden Marsch sehr ermüdet waren, unser Schiff ans Ufer heran und begannen mit dem Beladen. Die größten Schwierigkeiten hatten wir mit den Pferden. Als wir sie endlich mit vereinten Kräften auf das Deck zerrten, schlugen die Tiere so fürchterlich aus, daß zwei von ihnen Knochenbrüche davontrugen. Das bedeutete aber keinen Verlust für uns, denn wir hatten sie von Anfang an dafür bestimmt, während der Reise verzehrt zu werden. Gegen Abend fiel ein kurzer, aber ergiebiger Regen, den ich mit großer Erleichterung begrüßte. Nun erst war ich sicher, daß unsere Spuren in der Steppe verwischt worden waren und jedem Verfolger die Suche nach uns sehr schwerfallen mußte. Mein junger Gefangener hatte das Bewußtsein wiedererlangt. Obwohl er an Armen und Beinen gefesselt war, ließen die Indianer kein Auge von ihm. Als der Spanier erkannt hatte, daß seinem Leben im Augenblick keine Gefahr drohte, war er ruhiger geworden, verfolgte aber unsere Vorbereitungen zur Ausfahrt mit ständig wachsender Angst. Je mehr Schußwaffen auf Deck getragen wurden, um so größer wurde sein Schrecken. Als ob ihm der Ernst seiner Lage erst jetzt bewußt geworden sei, begann er plötzlich laut zu schreien; seine Rufe klangen bald wie Klagen, bald wie Drohungen. „Was will er?” fragte ich. „Er will mit dir sprechen.” „Warum sagt ihr mir das nicht gleich?” Da die Pferde untergebracht waren und jetzt nur noch die Futtervorräte an Bord getragen wurden, konnten wir etwas verschnaufen. Ich rief daher Manauri und Arnak, die mir das Gespräch mit dem Gefangenen übersetzen sollten. „Wie heißt du?” redete ich ihn an. „Pedro Martinez.” „Bist du aus dem Rancho La Soledad?” „Ja, Herr.” „Die Menschen dort sind grausam, sie unterdrücken die Indianer. Du hast selbst gesehen, wie sie uns behandelt haben.” „Ich habe es gesehen, doch ich selbst habe die Indianer noch nie schlecht behandelt.” „Das sagst du, weil du dich in unserer Gewalt befindest und um dein Leben bangst.” „Ich sage es, weil es so ist’, versicherte er mit bebender Stimme und einem Ausdruck ohnmächtiger Verzweiflung in den Augen. Der Junge machte keinen schlechten Eindruck. „Welche Arbeit hast du im Rancho verrichtet?” Der Gefangene zögerte mit der Antwort. „Ich habe. . . überhaupt nicht gearbeitet.” „Du mußt doch irgend etwas getan haben? Oder hast du dich nur herumgetrieben?” „Ich war Gast bei meinem Onkel.” „Bei deinem Onkel?” „Ja, er ist der Eigentümer des Ranchos.” „Ach, so ist das. Wenn du also in La Soledad nicht gearbeitet hast, so sage uns, welcher Arbeit du sonst nachgehst?” „Ich arbeite überhaupt noch nicht, Herr. Ich bin Schüler.” „Schüler? Wie alt bist du denn?” „Siebzehn. Ich lerne im Kollegium der Dominikaner.” „In La Soledad?” „Nein, dort gibt es kein Kollegium. In der Stadt Cumana. Ich soll Arzt werden.” Dieser Pedro sah in der Tat nach einem Jüngling mit guter Bildung aus und konnte meinen Absichten sehr zustatten kommen. Er war eine wertvolle Beute. In diesem Augenblick sah er mit ratlosem Augenausdruck und nicht zu verbergenden Anzeichen von Angst zu mir auf. „Herr!” rief er mit erstickender Stimme. „Was wollt ihr von mir? Was soll mit mir geschehen?” „Es wird dir nichts geschehen. Du bist mein Gefangener und fährst mit uns.” Mit diesen Worten versuchte ich ihn zu beruhigen. „Wer seid ihr? Ihr wollt mich aufs Meer verschleppen!” „Jawohl, wir fahren aufs Meer hinaus, doch sei ohne Sorge.. .” „Ihr seid also Piraten?'! „Wie kommst du darauf?” „Du bist Engländer, Herr. Ihr verfügt über viele Schußwaffen und habt ein Schiff. . .” „Nein, wir sind keine Piraten.” „Wohin werdet ihr mich bringen? Auf die englischen Inseln?” fragte er voller Schrecken. „Nein, dorthin bringen wir dich nicht. Wenn wir auf dem Meer sind, wirst du erfahren, wohin wir segeln.” Plötzlich brach er völlig zusammen, war dem Weinen nahe und stöhnte: „Herr! Habe Mitleid mit mir, laß mich laufen! Gib mir die Freiheit zurück, ich bitte dich! Ich habe dir nichts Böses getan.” „Du nicht, das ist wahr, dafür aber deine Gefährten! Übrigens ist das jetzt Nebensache. Paß gut auf, Pedro. Du bist mein Gefangener und wirst es einige Monate bleiben. Du wirst mich in der spanischen Sprache unterweisen, weil ich sie brauche. Dafür werde ich dir später die Freiheit zurückgeben und dich zu deinen Angehörigen zurückschicken. Wenn du dich in dein Schicksal fügst, werden wir gut miteinander auskommen, und es wird dir kein Haar gekrümmt werden. Solltest du dich aber widerspenstig zeigen oder zu fliehen versuchen, so kann ich nicht für dein Leben einstehen.” Wir stellten Wachen aus und verbrachten die Nacht auf dem Festland. Sie verlief ruhig. Gestärkt durch mehrstündigen Schlaf, erhoben wir uns noch vor Tagesanbruch und gingen an Bord. Als wir vom Ufer abstießen, standen noch die Sterne am dunklen Himmel und verbreiteten ihr mildes Licht. Unsere drei Boote schleppten den Schoner vorsichtig zur Ausfahrt der Lagune. Da die Indianer dieses Wasser genau kannten, ging alles wie am Schnürchen. Bei Sonnenaufgang befanden wir uns bereits auf dem weiten Meer, und die ersten frischen Brisen fingen sich in unseren Segeln. Wir fuhren wieder die Küste entlang nach Osten und hofften, diesen Kurs einige Tage ungestört beibehalten zu können. Als sich die Segel wuchtig blähten, der Wind beständig geworden war und der Schoner in regelmäßigem Rhythmus die Wellen zerteilte, versammelte ich die Gefährten, um ihnen etwas zu eröffnen. „Ich danke euch für euer Vertrauen und bin stolz auf eure Freundschaft.” So ungefähr sprach ich zu ihnen. „Mit besonderem Stolz erfüllt mich, daß wir eine so gut aufeinander abgestimmte, kampferprobte Gemeinschaft geworden sind. Welch herrlichen Sieg haben wir in den Llanos errungen, mit welchem Mut und Geschick haben wir die spanische Meute vernichtet! Es war unbeschreiblich! Wir müssen aber daran denken, was wir tun können, damit uns der Sieg auch in der Zukunft treu bleibt. Diese erste Begegnung mit feindlich gesinnten Menschen muß uns eine Warnung sein, daß dieses Land gegenüber den Schwachen grausam und erbarmungslos ist. Wenn wir nicht zugrunde gehen wollen, müssen wir stark sein, sehr stark und sehr widerstandsfähig.” „So wahr ich lebe, das stimmt!” rief der Häuptling aus. „Wir besitzen viele Feuerwaffen”, fuhr ich fort, „auch an Pulver und Kugeln mangelt es uns nicht. Doch was nützt dieser Reichtum, wenn nur wenige von uns schießen können und mit der Waffe um-zugehen wissen? Außer mir gibt es nur zwei geübte Schützen unter uns; es sind Arnak und Wagura. Wir haben aber fast vierzig Büchsen und etwa genauso viele Pistolen. Welchen Schluß müssen wir daraus ziehen?” „Alle müssen schießen lernen”, antwortete Arnak. „Gerade das habe ich im Sinn. Jeder soll ein guter Schütze werden, und zwar so schnell wie möglich, noch während unserer Fahrt über das Meer. Jeden ruhigen Tag wollen wir dazu benutzen, um mit den Waffen zu üben.” Der Vorteil eines solchen Unterrichts lag auf der Hand, deshalb begrüßte Manauri meinen Vorschlag mit Begeisterung. Zu meiner Verwunderung bemerkte ich aber, daß viele der Anwesenden anderer Meinung waren als der Häuptling. „Was soll uns das nützen?” ließen sich einige vernehmen. „Bald erreichen wir den Pomerun, und dort bei unserem Stamm droht uns keine Gefahr mehr. Dort kommen wir mit den Bogen und den Keulen aus!” „Ob diese wirklich genügen?” warf Arnak ein. „Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht. Noch haben wir eine lange, unsichere Reise vor uns. Wer weiß, ob wir nicht schon morgen ein Abenteuer zu bestehen haben, das uns den Hals kosten kann.” „Ihr sagt, daß uns am Pomerun keine Gefahr mehr droht?’ fügte der Häuptling hinzu. „Warum sind denn die Spanier bisher immer stärker als wir und bringen uns Niederlagen bei? Weil sie über bessere Waffen verfügen. Büchsenkugeln töten besser als unsere Pfeile.” „Aber nicht im dichten Urwald!” rief ein Indianer. „Wo unsere Dörfer und die bestellten Felder liegen, dort gibt es keinen Urwald mehr, dort wurde er zurückgedrängt.” Ich wollte dem Streit ein Ende machen und bat um Ruhe. „Nach meiner Meinung’, erklärte ich, „nach der Meinung eines Menschen, der einen großen Teil der Welt gesehen hat und euch von ganzem Herzen alles Gute wünscht, gibt es keinen Zweifel, daß Pfeil und Bogen im dichten Urwald eine hervorragende Waffe sind. Die Gründe, die Manauri und Arnak anführen, sind aber noch gewichtiger: Wer nicht die Freiheit oder gar das Leben verlieren will, muß mit mehreren Waffen umgehen können, vor allem mit Feuerwaffen. Es ist eine alte Wahrheit auf dieser Welt, daß der die Oberhand behält, der die bessere Waffe besitzt.” Trotz aller Überzeugungsversuche beharrten viele auf ihrer Meinung und lehnten es ab, sich mit dem Gebrauch von Feuerwaffen vertraut zu machen. Wieder einmal stand ich vor einem auffallenden Charakterzug der Indianer, den ich bereits in den virginischen Wäldern Nordamerikas kennengelernt hatte. Sie waren nicht imstande, künftige Ereignisse in Erwägung zu ziehen, und legten der Zukunft gegenüber eine unglaubliche Sorglosigkeit an den Tag. Sie besaßen einfach nicht die Fähigkeit voraus-zuschauen, und das tat mir weh. Außer Manauri hatten sich nur fünf Indianer bereit erklärt, sich an den Feuerwaffen unterweisen zu lassen. Sie alle waren vertraute Freunde des Häuptlings, mit Ausnahme des hinkenden Arasybo. Und der hatte sich wahrscheinlich erinnert, daß ich mich damals für ihn eingesetzt und dem Vorschlag, ihn allein am Geierberg zurückzulassen, widersprochen hatte, und wollte mir nun seine freundschaftliche Gesinnung beweisen. Die übrigen neun Indianer zeigten keine Lust — bis auf Lasana, die plötzlich vortrat und erklärte, daß sie an den Schießübungen teilnehmen wolle. „Du? Du willst schießen lernen?” Ich machte große Augen. „Manauri hat mir erzählt, daß viele Indianerinnen ihre Männer auf Kriegszügen begleiten und genausogut mit den Waffen umgehen können wie jeder andere Krieger. In den Wäldern am Cu-yuni soll sogar ein Stamm leben, hörte ich, der nur aus Frauen besteht.” „Der muß aussterben”, äußerte Wagura sachkundig. „Ohne Männer... ” „Sieh an, welch ein Kenner!” Der Häuptling wiegte den Kopf und bedachte den Jüngling mit einem teils rügenden, teils anerkennenden Blick. „Nein, dieser Stamm muß nicht aussterben, denn die überaus kriegerischen Frauen fallen oft über die benachbarten Stämme her und nehmen solche klugen Jünglinge, wie du es bist, als Gefangene mit, die ihnen dienen müssen. Kommt später ein Mädchen zur Welt, schenken sie dem Gefangenen die Freiheit, wird aber ein Junge geboren, so ist der Säugling dem Tode verfallen, und der Gefangene muß weiter dienen.” „Das ist schrecklich!” rief Wagura entrüstet aus, wobei seine Augen im Gegensatz zu diesen Worten einen geheimnisvollen, träumerischen Glanz annahmen. Etwas abseits hielten indessen die fünf Neger eine Art Beratung ab. Sie hatten schon immer zu mir gehalten und waren jetzt, da sie gesehen hatten, mit welcher Entschlossenheit ich sie vor den Spaniern in Schutz nahm, bereit, für mich durchs Feuer zu gehen. Als sie merkten, daß mir die Indianer durch ihr Zögern Verdruß bereiteten, kamen sie auf mich zu, und Miguel erklärte: „Wir sehen ein, daß du recht hast, Jan. Wir alle wollen schießen lernen.” So hatte ich vorläufig zwölf Schüler und begann sofort mit dem Unterricht nach dem Grundsatz: Schmiede das Eisen, solange es warm ist. Ich nahm die silberne Pistole — ein wundervolles Beutestück — zur Hand und erklärte, wie so eine Waffe geladen wird und wieviel Pulver und Blei man dazu nimmt. Übrigens war ihnen das nicht völlig neu, denn während der letzten Tage unseres Aufenthalts auf der Insel hatten sie sich bereits ein wenig mit den Büchsen befaßt. Nach dieser Einführung übernahmen Arnak und Wagura die Aufsicht bei den nun folgenden Übungen. Der Wind blies stetig, und das Ruder bediente ein seekundiger Indianer. Als mein junger Gefangener sah, daß ich ohne Beschäftigung war, kam er auf mich zu und erklärte sich bereit, mit dem Spanischunterricht anzufangen. Er trug jetzt keine Fesseln mehr und konnte sich frei bewegen, wie es ihm beliebte. Man merkte ihm an, daß er sich in der Gefangenschaft ständig wohler fühlte. Zunächst berührte er den Kopf und sagte: „la cabeza”, dann deutete er auf die Hand: „la mano”, nun war das Schiff an der Reihe: „el navio”. So begann mein Unterricht. Pedro stellte sich durchaus geschickt an und verstand es, alles sehr anschaulich zu erklären, so daß ich mir nach einer Stunde eine größere Anzahl spanischer Wörter angeeignet hatte. Er war ein aufgeweckter Bursche. Als die andern ihre Übungen mit der Pistole beendet hatten, rief ich Arnak und Manauri herbei und hieß sie, Pedro zu fragen, ob er die Geographie Südamerikas gelernt habe. Ja, die habe er gelernt. Ob er schon einmal eine Karte dieser Länder gesehen habe? Auch die habe er gesehen. Ob er imstande sei, den Verlauf der Küste aufzuzeichnen, die wir entlangfuhren? Pedro war sich dessen nicht sicher, doch wollte er es versuchen. Unter den Sachen, die uns die ehemaligen Herren des Schiffes hinterlassen hatten, befanden sich so wertvolle Gegenstände wie eine Rolle Schreibpapier, Tinte und Gänsekiele. Ich ließ diese Dinge herbeibringen und forderte Pedro auf, gut zu überlegen und dann den uns gegenüberliegenden Teil der südamerikanischen Küste aufzuzeichnen. Der junge Spanier machte sich sogleich an die Arbeit. Zunächst zeichnete er mit einem Stückchen Blei ganz dünn die Konturen, verbesserte, was ihm nicht richtig erschien, und zog dann mit Tinte die Linien nach. Wie bezaubert folgten wir den Bewegungen seiner Finger; die Indianer hielten fast den Atem an. Außer dem Häuptling und Arnak hatten sich Wagura, Lasana und der Neger Miguel zu uns gesellt. Die Linie, welche die Küste darstellte, lief ungefähr hundertzwanzig Meilen genau nach Osten, bildete dann eine große Bucht, von der aus sie nach Südosten abbog und diese Richtung bis zum Rand des Papiers beibehielt. Vor der Stelle, an der die Küste den gewaltigen Einschnitt zeigte, lag die große Insel Trinidad, so daß dort eine Art Riesenlagune entstand, die sich im Norden und im Süden zur See hin öffnete. Golfo de Paria, schrieb Pedro in die Lagune hinein: Pariabucht. „Und wo befindet sich die Mündung des Orinoko?” fragte ich neugierig. „Meint ihr die Hauptmündung, Herr?” erwiderte der Spanier. „Ja, die Hauptmündung’, antwortete ich, obgleich ich bisher nicht gewußt hatte, daß auch noch andere existierten. Es zeigte sich, daß die Hauptmündung etwa einhundertfünfzig Meilen südlich der Insel Trinidad lag und der Orinoko, aus dem Innern des Landes kommend, von Westen nach Osten strömte. Ungefähr einhundertfünfzig Meilen vor der Mündung ins Meer zweigten mehrere Arme nach Norden ab und ergossen sich entweder in die Pariabucht gegenüber der Insel Trinidad oder südlich davon ins offene Meer. Eine Vielzahl größerer und kleinerer Flüsse ließ unzählige Inseln entstehen. Pedro bezeichnete das ganze Gebiet als Delta des Orinoko. Obgleich ich mich rühmte, auch einige Bildung genossen zu haben, ich hatte in der Jugend schreiben und lesen gelernt und schon so manches Buch verschlungen, mußte ich nun einsehen, daß mir meine Erziehung in den Wäldern Virginias nur eine sehr mangelhafte Vorstellung von der Welt vermittelt hatte. Hier saß Pedro und zauberte geheimnisvolle Linien von Flüssen, Inseln, Buchten und Küsten auf das Papier, und sie alle waren für mich etwas völlig Neues, das ich zum erstenmal sah. Ja, ich mußte erkennen, daß die Indianer mit dieser Materie vertrauter waren als ich, denn sie bestätigten mit beifälligem Gemurmel, daß die Zeichnungen Pedros über Erwarten genau und treffend ausgefallen waren. „Nun zeichne die englischen Inseln im Karibischen Meer”, ließ ich dem Spanier übersetzen. Pedro machte ein verlegenes Gesicht und erklärte, daß Jamaika weit im Nordwesten liege und das Papier dafür nicht aus-reiche. „Ich meine Barbados, nicht Jamaika”, entgegnete ich. „Die Insel Barbados liegt genau im Norden von Trinidad, aber auch ungefähr zweihundert Meilen vom Festland entfernt.” „Weißt du das genau?’ „Ja, Herr.” Das war sehr weit, und ich dachte voller Unruhe daran, wie viele Schwierigkeiten ich wohl noch überwinden müßte, um endlich dorthin zu gelangen. Die Indianer verlangten von Pedro, er solle ihnen den Pomerun aufzeichnen. Der Spanier erklärte, daß dieser Fluß nicht sehr groß sei. Daher habe er seinen Lauf nicht genau im Kopf, doch sei er der Meinung, der Pomerun erreiche das Meer zwischen der Mündung des Orinoko und der Mündung des Essequibo. „Das stimmt!” rief Manauri aus. Pedro zeichnete den Essequibo zweihundert Meilen südöstlich der Mündung des Orinoko ein, und die Indianer zollten ihm lebhaften Beifall. Sie sagten, der Pomerun fließe etwa fünfzig Meilen nördlich des Essequibo. Gedankenversunken betrachtete ich die Karte, die mir einen Einblick in die Welt gewährte, in der ein noch unbekanntes Schicksal meiner harrte. Nach einer Weile unterbrach Pedro das allgemeine Schweigen und fragte: „Soll ich noch etwas zeichnen?” Alle überlegten, nur der kleine Wagura sagte mit Bestimmtheit: „Jawohl.” Als Pedro ihn fragte, was er sich wünsche, wurde er ein wenig verlegen, ließ seinen Blick von einem zum andern schweifen, antwortete dann aber ohne Scheu: „Den Cuyuni.” „Das ist der linke Zufluß des Essequibo”, erläuterte Pedro und zeichnete sofort den ungefähren Verlauf des Flusses in die Karte ein. „Er kommt von Westen her, genau wie der Orinoko, nur fließt er durch äußerst dichten, kaum bekannten Urwald. Man weiß nur, daß an seinem Unterlauf ein karibischer Stamm lebt, die kriegerischen Akawois.” „Richtig”, bestätigte Manauri. „Und wo... wo lebt dieser andere Stamm... die Frauen?” forschte Wagura weiter. „Das weiß ich nicht.” Manauri, Arnak, Lasana und ich hatten uns schon eine ganze Weile heitere Blicke zugeworfen, jetzt konnten wir uns nicht mehr beherrschen und brachen in lautes Gelächter aus. „Ihr verscheucht ja die Fische, ihr. . .!” tadelte uns der wißbegierige junge Mensch, zuckte die Achseln und ging weg. Der Ausbruch unserer Fröhlichkeit hatte ihn beleidigt, und er tat nun sehr verstimmt. „Wo liegen die spanischen Stützpunkte?” fragte ich Pedro und beschrieb mit dem Finger einen Kreis um den Unterlauf des Orinoko. „Ich weiß nicht, ob sie mir alle bekannt sind”, antwortete der Jüngling, „übrigens sind es nicht viele. Eine spanische Siedlung befindet sich auf Trinidad, ich glaube, auf der Seite der Pariabucht. Am Orinoko selbst ist mir nur Angostura bekannt, das ungefähr einhundertfünfzig bis zweihundert Meilen flußaufwärts liegt.” „Mehr gibt es nicht?” „Spanische kaum, dafür gibt es weiter im Süden holländische Pflanzungen. Die Holländer sind tiefer ins Land eingedrungen und haben ihre Faktoreien am Cuyuni gegründet. Damit sind sie den Engländern ins Gehege gekommen, deren Faktoreien sich an der Mündung des Essequibo befinden.” „Pedro!” schrie ich und sprang auf. „Was hast du gesagt? Englische Faktoreien?” „Ja, englische Faktoreien. Es ist so, Herr. So habe ich es gelernt. Aber. . .” Bestürzt hielt er inne, als er die plötzliche Veränderung in meinem Gesicht wahrnahm. „Irrst du dich auch nicht, Pedro, mein Junge?’ „Ich irre mich nicht, Herr. Ich habe mehr als einmal davon gehört.” „Englische Faktoreien an der Mündung des Essequibo?” wiederholte ich und wollte meinen Ohren nicht trauen. „Jawohl, Herr, an der Mündung des Essequibo.” Diese Nachricht traf mich wie ein Schlag: Englische Niederlassungen am Essequibo, also unweit des Pomerun, dem wir zusteuerten! Das bedeutete, daß mein Umherirren in diesem fremden Land ein Ende haben würde, daß ich leicht das schützende Dach von Landsleuten erreichen konnte. In meiner Freude hätte ich Pedro am liebsten an die Brust gedrückt und alle Gefährten umarmt, doch als sich der erste Begeisterungssturm gelegt hatte, kamen mir plötzlich Zweifel. Ich deutete auf die Karte und sagte: „Das alles ist doch ein Teil Südamerikas, als dessen ausschließliche Herren seit der Entdeckung sich die Spanier bezeichnen?” „So ist es.” „Wie konnten sich dann Holländer und Engländer hier niederlassen? Oder geschah das mit Zustimmung der Spanier?” „0 nein, Herr!” „Warum jagen die Spanier sie dann nicht zum Teufel?” „Weil sie es nicht können. Ihre Herrschaft reicht nicht bis nach Guayana.” „Sie reicht nicht so weit?” „Diese Niederlassungen sind einfach zu weit entfernt von den Hauptstützpunkten der Spanier in Venezuela. Außerdem breitet sich zwischen Venezuela und den von den Engländern und Holländern in Besitz genommenen Ländereien ein großer tropischer Urwald aus, der nur sehr schwer zu durchqueren ist. Dort hausen kriegerische Stämme, die schon manche spanische Expedition vernichtet haben, zum Beispiel die vorhin erwähnten Akawois am. Cuyuni. Die Spanier haben es daher aufgegeben.” „Und die Akawois dulden die Holländer an ihrem Fluß? Sie bekriegen sie nicht? „Man sagt, daß sie in einem sehr guten Verhältnis mit den Holländern leben, daß es ihre Verbündeten seien.” An dem, was Pedro geschildert hatte, mußte etwas Wahres sein, obwohl es mir anfangs so phantastisch erschienen war: Irgendwo am Essequibo mußten Engländer sitzen! Das änderte meine bisherigen Pläne, die Freiheit wiederzugewinnen und ins Vaterland zurückzukehren, von Grund auf. Die Unterhaltung mit Pedro klärte noch etwas anderes: das Datum. Bereits seit Monaten war ich mit der Zeitrechnung nicht mehr im reinen. Jetzt konnte ich mit Hilfe Pedros feststellen, daß der heutige Tag der 12. September im Jahre des Herrn 1727 war. Ich legte Pedro die Verpflichtung auf, jeden Tag genau zu vermerken. Nach alter Gewohnheit gingen wir am Abend in der Nähe der Küste vor Anker und setzten bei Tagesanbruch unsere Reise fort. Am Mittag des folgenden Tages bot sich mir ein eindrucksvolles Bild dar. Ich stellte fest, daß sich die Pflanzenwelt auf dem Festland veränderte. Das armselige, stachlige, verknotete Strauch-werk, das ich gewohnt war, verlor sich in einer hochstämmigen Wand unheimlich dichten, dunkelgrünen Waldes. Das war er, der berüchtigte Urwald der tropischen Länder. Nun lag sie vor mir, die üppige grüne Pracht, diese herrliche Frucht südlicher Sonne und dampfender Feuchtigkeit. Das vom Überschwang der Natur bezauberte Auge konnte sich nicht losreißen vom Fernrohr, gebannt stand der fanatische Jäger, der bisher nur die kühlen Re-viere seiner nördlichen Heimat durchstreift hatte. „Von nun an”, erklärte Manauri, der meine Erregung bemerkte, „werden wir nur noch diesen Wald sehen. Nichts anderes wird es geben als dieses ewige Grün!” „Überall?” „Überall. Am Essequibo, am Pomerun, am Orinoko und überall zwischen diesen Flüssen, auf der ganzen Insel Kairi, welche die Spanier Trinidad nennen, sowie rings um die Pariabucht. Die ganze Gegend ist ein einziger Urwald.” In jenen Breiten ist der September der Beginn der Trockenzeit, die sich nur dadurch von den übrigen Jahreszeiten unterscheidet, daß die Niederschläge schwächer und seltener und die Stürme weniger heftig sind. Diesem Umstand war es zu verdanken, daß das Meer im allgemeinen friedlich war und unsere Fahrt ruhig verlief, was wiederum dem Unterricht im Gebrauch der Feuerwaffen sehr zustatten kam, der regelmäßig vor sich gehen konnte. Die zwölf Teilnehmer waren mit Eifer bei der Sache und machten gute Fortschritte, während die andern hartnäckig in ihrem Widerstand verharrten und das Tun der Lernenden mit Blicken verfolgten, die geringschätziges Mitleid ausdrückten. Der Abend des dritten Tages aber brachte ein Ereignis, das wie ein Peitschenhieb wirkte und Bewegung in die widerspenstigen FauIenzer brachte. An diesem Tag gingen wir etwas früher vor Anker, und wie üblich fuhren einige Männer mit dem Boot an Land, um frisches Futter für unser Pferd zu holen. Wir besaßen nur noch eins. Die beiden verletzten Tiere hatten wir geschlachtet, das Fleisch zerteilt, auf Schnüre gezogen und zum Trocknen aufgehängt. Weil es noch hell war, hatten sich einige Gefährten entschlossen, auf die Jagd zu gehen, und waren, mit Bogen und Messern bewaffnet, mit an Land gefahren. Kaum eine halbe Stunde später gellten plötzlich wilde Schreie durch den Urwald. „Unsere Jäger wurden überfallen!” rief Manauri. Der Lärm erscholl von mehreren Seiten und näherte sich schnell. „Sie werden verfolgt!” stieß Arnak hervor. Ich sprang auf und schrie: „Arnak, die Musketen hinab in die Boote! Alle an die Ruder!” Zum Glück waren die Waffen geladen, doch lagerten sie unter Deck. Einen Augenblick lang trat Verwirrung ein, da alle zugleich losstürzten. Es gelang mir aber, die Gefährten abzufangen, und nachdem wir eine lebende Kette gebildet hatten, wanderten die Waffen schnell von Hand zu Hand. Als die zehnte Büchse in das größere Boot hinabgereicht wurde, sprang ich hinein und ergriff ein Ruder. Hinter mir kamen Manauri und etliche andere, darunter auch Lasana. Ich brauchte niemand anzufeuern, alle ruderten, daß ihnen die Augen aus den Höhlen traten. Arnak und die fünf Neger befanden sich im zweiten Boot. Es war nicht weit zum Ufer, doch kamen wir gerade noch zurecht, um Schlimmes zu verhüten. Unsere unglücklichen Jäger stürzten aus dem Wald und eilten über den offenen Strand auf uns zu. Sekunden später erschien bereits die Schar der Verfolger; es mochten dreißig oder vierzig sein. Sie stießen durchdringende Schreie aus und schossen ihre Pfeile ab. Mit gehacktem Blei schoß ich in den ungefähr hundert Schritt entfernten Haufen hinein. Auf diese Entfernung wirkten die Geschosse zwar nicht mehr tödlich, doch rissen sie Wunden, wo sie trafen. Schon krachte neben mir ein zweiter und ein dritter Schuß, dann ein vierter und in schneller Folge mehrere hintereinander, eine ohrenbetäubende Salve. Die Angreifer hatten genug von dem Blei und dem Gedröhn, sie machten kehrt und flohen in den Wald. Keiner von uns war ernsthaft verletzt worden, ein einziger hatte eine leichte Verwundung davongetragen. Zum Glück war die Pfeilspitze nicht vergiftet gewesen. „Was ist das für ein Stamm?” fragte ich. „Sicher sind es Pariagotos”, antwortete Manauri und fügte voller Abscheu hinzu: „Kariben.” Auch Lasana hatte einen Schuß abgegeben. Da es der erste in ihrem Leben war, hatte sie vergessen, die Büchse fest gegen die Schulter zu drücken, und hatte einen mächtigen Stoß und eine Ohrfeige erhalten. Sie blutete ein wenig, doch war es weiter nicht schlimm. „Jetzt habe ich schon Erfahrung”, rief sie mir zu und versuchte, Verwirrung und Schmerz hinter einem Lächeln zu verbergen. „Soso”, erwiderte ich lachend. „Hast du wenigstens getroffen?” „Siehst du es nicht? Mich selbst.” „Nur gut, daß es nicht einer von uns war.” „Nimm du dich in acht, Weißer Jaguar!” Ihre Worte klangen recht doppelsinnig, und sie begann plötzlich zu lachen. Um vor jedem Angriff sicher zu sein, lichteten wir den Anker, fuhren weiter aufs Meer hinaus und verbrachten dort die Nacht. Als Arnak und Wagura am folgenden Morgen wie gewöhnlich zum Waffenunterricht riefen, meldeten sich alle Männer ohne Ausnahme. Und es war kein Strohfeuer. Unsere gemeinsamen Erlebnisse waren Bande, die uns fest umschlungen hielten und nun um ein neues bereichert worden waren, um das Band des gemeinsamen Waffengebrauchs. Die Zukunft sollte zeigen, daß es ein starkes, ein dauerhaftes Band war. Die unliebsame Begegnung mit den Pariagotos fand an der Küste der langgezogenen Halbinsel statt, die Pedro mit dem Namen Paria belegt hatte, und zwar unweit der Stelle, wo sie endet und die weiten Gewässer der Pariabucht beginnen, in die wir einfahren und nach Süden weitersegeln wollten. Als wir die Spitze erreichten und die Durchfahrt zwischen Trinidad und der Halbinsel anzusteuern versuchten, zeigte es sich aber, daß die Wassermassen mit solcher Gewalt aus der Bucht herausschossen, daß wir dagegen nicht ankommen konnten. Sooft wir uns auch näherten, jedesmal spülten uns die schweren Wogen wieder weit aufs Meer hinaus. Pedro erklärte mir, daß die Spanier diese Enge zwischen der Pariahalbinsel und Trinidad „Boca del Drago”, das heißt Drachen- schlund, nennen. Nur große Schiffe seien imstande, hier einzufahren, und auch die nur an solchen Tagen, an denen die Strömung schwächer sei. „Warum ist die Strömung hier gar so reißend?” „Weil die Öffnung im Süden, wie ich bereits erwähnt habe, bedeutend breiter ist als diese hier. Von dorther wälzen sich die Massen des Ozeans mit großer Gewalt in die Bucht, außerdem münden hier mehrere Arme des Orinoko. Alle diese Wasser drängen nach Norden in die schmale, nur einige Meilen breite Kehle der Bucht und schießen mit gewaltiger Kraft durch die Boca del Drago ins offene Meer hinaus.” Wir mußten unsere Absicht, in die Pariabucht einzulaufen, aufgeben, den Drachenschlund in weitem Bogen umfahren und die Küste Trinidads entlang nach Osten weitersegeln, was eine Verlängerung der Reise um mehr als einhundert Meilen bedeutete. Zum Glück hatten wir stets günstiges Wetter und begegneten weder spanischen noch anderen Schiffen. Auch Eingeborene bekamen wir nicht zu Gesicht, obwohl wir jeden Abend die Küste anliefen, um Süßwasser und Futter für unser Pferd zu holen. Als wir den östlichen Zipfel Trinidads erreicht hatten, gingen wir auf südlichen Kurs, segelten zwei Tage die Insel entlang und näherten uns dann wieder dem Festland. Wie ganz anders war diese Küste! So weit das Auge reichte, ein flacher, ebener Streifen ohne die geringste Bodenerhebung. Es war das berüchtigte Delta des Orinoko, mehr als zweihundert Meilen breit, ein Gebiet unzähliger Gabelungen und Verästelungen eines einzigen Flusses, eine Welt Tausender Inseln, Inselchen und Werder. Auch hier war alles überdacht von dem unendlich scheinenden Urwald, genau wie auf der Halbinsel Paria und auf Trinidad. Während aber dort zuweilen ein Berg oder ein Hügel zu sehen gewesen war, gab es hier nichts als Sumpf und Moor. Meilenweit standen Bäume im Wasser, ragten Luftwurzeln auf und verflochten sich in wahnwitzigem Durcheinander. „Hier können kaum Menschen leben?” sagte ich vor mich hin. „Doch”, erwiderte Manauri. „Hier lebt der Stamm der Guarau-nos.” „Wo halten sich diese Menschen denn auf?” „Sie wohnen auf trockenen kleinen Inseln oder bauen ihre Hütten auf Pfählen und leben vom Fischfang.” Das Meer zeigte eine andere Farbe als bisher. Es hatte sein durchsichtiges Dunkelblau verloren. Das Flußwasser färbte es gelb und trüb. Alle Elemente schienen sich dem großen Kraftfeld des Orinoko zu unterwerfen. Während wir tagaus, tagein den unendlichen, geheimnisumwitterten Waldsumpf entlangglitten und selbst dem Zauber der unheilverkündenden Majestät zu verfallen drohten, vernachlässigten wir unsere gewohnten Beschäftigungen nicht. Ich lernte fleißig Spanisch, manchmal auch ein Stündchen Arawakisch, und die Gefährten übten mit den Schußwaffen. Als wir die Hauptmündung des Orinoko erreichten, bemerkte ich mit großer Freude, daß wir ein verschworener Freundeskreis geworden waren. Niemand von uns wußte, was ihm die nächste Zukunft bringen würde, und diese Ungewißheit hatte uns zu einem festen Bund zusammengeschweißt, zu einer Gemeinschaft von Brüdern, man konnte fast sagen: zu einem neuen Stamm. Alle hatten leidlich gelernt, mit den Feuerwaffen umzugehen und sie, was gleichfalls wichtig war, in diesem mörderischen Klima vor Vernichtung zu bewahren. Sie waren nicht nur begeistert, sondern empfanden, daß diese Waffen etwas Wertvolles waren, und behandelten die Musketen, Büchsen und Pistolen mit viel Feingefühl. Da ich weder Mißverständnisse noch Enttäuschungen hervorrufen wollte, erklärte ich, daß die Waffen vorläufig mein Eigentum blieben, daß ich aber bereit sei, demjenigen, der seine Waffe gut pflege, diese später für immer zu überlassen. Als sich die weite Hauptmündung vor uns öffnete, beschlossen wir, ein Stück flußaufwärts zu fahren. Wir hofften, dort leichter Süßwasser zu finden, dessen Mangel wir während der letzten Tage schmerzlich empfunden hatten. Da gerade Flut war, führte uns das Wasser schnell an einer der größeren Inseln entlang. Nach einigen Stunden steuerten wir in einen Seitenarm hinein und warfen inmitten der Wildnis vor einem trockenen Ufer den Anker aus. Unsere Kundschafter kehrten, kaum daß sie im Wald verschwunden waren, wie von Dämonen gejagt zurück und gaben uns schon vom Ufer aus warnende Zeichen. Als sie in größter Hast den Schoner erklommen hatten, berichteten sie, daß unweit von hier, im Urwald verborgen, eine große indianische Ansiedlung liege. Wo die Ameisen Richter sind ingedenk der traurigen Erfahrungen auf der Pariahalbinsel stürzten einige sofort zu den Waffen, andere I begannen den Anker zu heben. Da wir ganz nahe am Ufer lagen und der Schoner fast völlig unter dem Dach des weit über das Wasser hinausragenden Astwerks verborgen war, hegten wir die Hoffnung, daß uns die Indianer nicht bemerken würden und wir das andere Ufer erreichen könnten, bevor uns eine Gefahr drohte. Leider kam es anders, denn die Indianer hatten uns bereits bemerkt. Aus dem Dickicht gegenüber dem Schiff ertönte plötzlich eine laute Stimme. Obwohl der Rufer höchstens fünfzehn Schritt von uns entfernt war, konnten wir ihn nicht entdecken; auch seine Worte waren unverständlich für uns. Während unsere Augen noch das dichte Blattwerk absuchten, erscholl eine andere Stimme, diesmal von oben, aus den Wipfeln der Bäume. Wir rissen die Köpfe hoch, doch auch hier war keine Spur von einem Menschen wahrzunehmen. „Sicher sind es Warraulen”, flüsterte Manauri besorgt. „Warraulen oder Guaraunos, das bleibt sich gleich”, fügte Arnak hinzu. In diesem Augenblick vernahmen wir eine dritte Stimme, die uns völlig aus der Fassung brachte, denn sie schien aus dem Wasser selbst zu kommen. Sie drang vom Bug des Schiffes her, obgleich im Fluß niemand zu sehen war. Mir war bekannt, daß es Menschen gibt, sogenannte Bauchredner, die die Fähigkeit besitzen, mehrere Stimmen aus verschiedenen Richtungen ertönen zu lassen; doch das hier mußte etwas anderes sein. Diese unheimlichen Laute ließen uns unsere Lage als äußerst ungünstig empfinden. Es ist entschieden unangenehm, von geheimnisvollen Stimmen umgeben zu sein, keinen Menschen zu sehen und jeden Augenblick damit rechnen zu müssen, daß ein Hagel von Geschossen niedergeht. Den Eingeborenen blieb unsere Verwirrung nicht verborgen. Wie wir ihrem Tun entnehmen konnten, machten sie sich lustig darüber. Als wir auf das Wasser blickten, um den Ursprung der geheimnisvollen Stimme im Fluß zu ergründen, erhob sich von mehreren Seiten höhnisches Gelächter. Die Worte, die uns zugerufen wurden, waren immer die gleichen, sie klangen wie eine Frage, wer wir seien. Manauri entschloß sich daher zu antworten und erklärte den Unsichtbaren in arawakischer und in spanischer Sprache, daß wir Arawaken beziehungsweise Lokonos seien. Lokonos nannten sich die Arawaken untereinander. Das Wort Arawaken schienen die Eingeborenen zu verstehen, denn sie wiederholten es mehrmals und gaben dann einen Ruf weiter, der sich so anhörte, als werde jemand aufgefordert, herbeizukommen. Bald erklang wieder eine Stimme aus dem Dickicht, diesmal aber in arawakischer Sprache. „Ihr seid Arawaken?” fragte der verborgene Sprecher. „Jawohl, wir sind Arawaken”, antwortete Manauri. „Was sucht ihr hier?” „Wir kehren in unser Land zurück, an den Pomerun.” „Von wo kehrt ihr zurück?” „Vom Geierberg.” Im Dickicht trat Stille ein, der Mensch dort schien zu überlegen oder sich leise mit andern zu besprechen. Nach einer Weile rief er zornig: „Deine Zunge ist falsch! Du lügst!” „Oho! Wie kommst du zu diesem Urteil?” „Die Arawaken vom Geierberg sind schon vor langer Zeit nach Süden zurückgekehrt, niemand ist zurückgeblieben. Ihr könnt also nicht vom Geierberg kommen!” Der Unbekannte war sichtlich gut unterrichtet. Wahrscheinlich war er Arawake, stammte aber aus einer anderen Gegend als meine Gefährten. „Und doch kommen wir vom Geierberg. Der Häuptling Manauri hat noch nie gelogen, merke dir das!” antwortete der Häuptling in zurechtweisendem Ton und berichtete dann in kurzen Worten vom Überfall der Spanier auf sein Heimatdorf, vom Sklavenleben auf der Insel Margarita, von der Flucht und der Heimkehr in, das verlassene Dorf sowie von der jetzigen Reise zum Pomerun. „Und wer bist du?” fragte er zum Schluß den Unsichtbaren. „Ich heiße Fujudi und stamme vom Essequibo”, antwortete dieser schon bedeutend freundlicher. „Was tust du hier an der Mündung des Orinoko, so weit entfernt vom Essequibo?” „Ich habe den Essequibo bereits während der letzten Trockenzeit verlassen. Derzeit bin ich zu Besuch bei meinen Bekannten vom Stamm der Warraulen. Ich gehöre jetzt zur Gruppe des Häuptlings Koneso, die sich an der Mündung des Itamaka niedergelassen hat.” „Koneso? Ist es jener Koneso, der unter dem Geierberg Häuptling war?” „Ja, es ist derselbe.” „Wo soll er sich mit seiner Gruppe jetzt aufhalten? Wir befinden uns doch auf dem Weg zu ihm.” „Koneso hält sich am Orinoko auf, unweit von hier.” „Was sagst du da? Er siedelt nicht am Pomerun?” „Nein. Dort ist es jetzt sehr unsicher, die Akawois machen allen die Hölle heiß. Koneso, der vom Norden kam, faßte den Entschluß, am Orinoko zu bleiben, und hat sich an der Mündung des Itamaka niedergelassen, wie ich dir bereits gesagt habe.” „Ist es weit von hier zum Itamaka?” „Vier bis fünf Tagereisen mit dem Boot, wenn man mit der Strömung fährt.” Diese für uns so entscheidende Nachricht verursachte keine geringe Aufregung auf dem Schiff. Wenn dem so war, brauchten wir ja nicht weiterzusegeln; das Ziel unserer Reise lag unmittelbar vor uns, am Orinoko selbst. Der bisher so gesprächige Fujudi — unter diesem Namen hatte er sich vorgestellt — hüllte sich nun in Schweigen. Wahrscheinlich berichtete er den anderen über das Ergebnis des Wortwechsels. Es mußten aber neue Bedenken uns gegenüber aufgetaucht sein, denn nach längerem Schweigen meldete sich Fujudi erneut und fragte: „Auf eurem Schiff befinden sich nicht nur Arawaken. Wer sind die anderen?” „Es sind Neger, die ebenfalls aus der Sklaverei entflohen sind und nun mit uns leben”, erklärte Manauri. „Und der junge Spanier?” „Er ist unser Gefangener. Beim letzten Zusammenstoß mit den Spaniern haben wir die ganze Abteilung getötet, nur ihn haben wir lebend gefangengenommen.” „Die ganze Abteilung habt ihr getötet? Solche Helden seid ihr?” In der Stimme des Unsichtbaren lag Ironie. „Wir haben alle getötet. Es ist so, ob du es glaubst oder nicht.” „Wozu führt ihr den Gefangenen mit euch?” „Er kennt die Gegend gut und weiß, wo die spanischen Befestigungen liegen.” „Und der zweite Jalanaui?” Jalanaui bedeutete:    weißer Mensch. „Er ist ein Paranakedi, ein Engländer, ein reicher Häuptling in seinem Land, einer der berühmtesten Jäger und Krieger. Sein Herz ist furchtlos, er besitzt unermeßliche Erfahrungen und beweist im Kampf außerordentliche Klugheit.” „Oho!” „Er ist unser bester Freund, den wir achten wie den mächtigsten Häuptling. Ihm und seinen Musketen haben wir es zu verdanken, daß wir zwei große Siege über die Spanier errungen haben.” „Oh! Oh!” „Alle Feinde wurden getötet, dieses schöne Schiff haben wir erobert.. .” „Auch das Pferd?” „Auch dieses Pferd... Er ist eben unbesiegbar.” „Und wie nennt ihr das Wunder?” „Welches Wunder?” „Dieses Wunder von Tapferkeit und Mut, den Paranakedi?” „Es ist der Weiße Jaguar”, antwortete Manauri ohne Zögern. Diese maßlose Übertreibung bei der Schilderung meiner Person geschah sicher nicht ohne Grund. Wie ich den Häuptling kannte, verfolgte er damit bestimmte Absichten. Wahrscheinlich schrieb mir der Schlaukopf deshalb alle möglichen Tugenden und eine fast unbegrenzte Macht zu, weil er für sich Vorteile daraus ziehen wollte. Welcher Verwegene würde es wagen, mit ihm Streit anzufangen, wenn er einen so mächtigen Freund und Verbündeten hatte? Manauri wußte nicht, wie ihn sein Stamm aufnehmen würde; er befürchtete, daß die Begrüßung wenig günstig ausfallen könnte, und setzte daher Gerüchte in Umlauf, daß wir unbesiegbar seien. „Du hast gesagt, daß er sehr reich ist?” fragte Fujudi weiter, wobei seine Stimme nicht mehr höhnisch klang, sondern eher Verwunderung ausdrückte. „Warum ist er dann nackt wie jeder andere von euch armen Schluckern?” Da hörte ich es wieder! Es war immer das gleiche. Die Eingeborenen konnten sich die Europäer nicht anders vorstellen als bekleidet, in Stiefeln, herausgeputzt, mit einem Hut auf dem Kopf und dem blitzenden Degen an der Seite. In ihrer Vorstellung verband sich der Begriff Macht mit prunkvollem Aussehen. Ein Europäer ohne Kleidung konnte keine Macht besitzen, war also völlig bedeutungslos. Ihnen erklären zu wollen, daß ich mir in dem heißen Klima auf der Insel das Tragen von Kleidung abgewöhnt hatte und mich ohne Kleidung viel wohler fühlte, würde bedeuten, tauben Ohren zu predigen. „Das ist so seine Gewohnheit, es ist eine Marotte dieses großen Häuptlings”, erklärte Manauri. Endlich schien man am Ufer zu einem befriedigenden Urteil über uns gekommen zu sein, denn Fujudi rief uns zu, wir sollten ihm ein Boot schicken, damit er auf das Schiff übersetzen könne. Während das Boot zum Ufer gerudert wurde, öffnete sich die grüne Wand des Waldes ein wenig und ließ für einen Augenblick zahlreiche mit Pfeil und Bogen bewaffnete Indianer erkennen, die hinter den nahen Bäumen verborgen waren. Sollte es zu einem Kampf kommen, so wäre es schlecht bestellt um uns! Fujudi war ein starker, sehniger Mann im besten Alter, mit scharfem Blick und lebhaften Bewegungen — ein aufgeweckter Bursche, das erkannte man auf den ersten Blick. Ich hatte zum erstenmal Gelegenheit, einen Indianer im Festschmuck zu betrachten. Er trug eine Kopfbedeckung aus farbigen Federn, die miteinander verflochten waren, und seinen Hals zierten drei bunte Ketten, von denen ihm verschieden gefärbte Nüsse, Fischzähne und Tierkrallen über die Brust herabhingen. Sein nackter Körper, er trug nur den Lendenschurz, und besonders das Gesicht waren mit vielen schwarzen und roten Streifen bemalt. Meine Gefährten, die sich immer noch in dem Zustand befanden, in dem sie aus der Sklaverei entflohen waren, sahen dagegen etwas verwahrlost aus. Sie hingen mit bewundernden Blicken an diesem prachtvollen Anblick und starrten Fujudi mit einem Ausdruck an, der fast an Neid grenzte. Es schien, als verspürten sie durch die Gegenwart ihres Stammesgenossen zum erstenmal den Atem der Freiheit, als versinnbildliche er ihnen das Ziel ihrer Reise. Mit verständlicher Eile bestürmten sie Fujudi mit Fragen, wie es ihren Brüdern an der Mündung des Itamaka ergehe. Fujudi aber fand sich nur widerwillig zu der kurzen Antwort bereit, daß alles in Ordnung sei, und forderte seinerseits eine genaue Beschreibung unserer Abenteuer. Meine Gefährten erzählten ihm alles und verheimlichten nichts. Als Fujudi genug erfahren hatte, wandte er sich an mich: „Meine Brüder loben dich, Weißer Jaguar, du hast ihnen geholfen und bist ihr guter Freund. Auch ich begrüße dich daher als Freund und wünsche, daß du weiterhin unser Bruder bleiben mögest. Jekuana, mein Gastgeber, der Häuptling der hiesigen Warraulen, ladet dich und die anderen ein, in sein Dorf zu kommen. Heute findet ein großes Fest statt, und er möchte euch die gebührenden Ehren erweisen.” „Wir nehmen die Einladung gern an”, antwortete ich. „Was für ein Fest wird denn gefeiert?” „Das Gericht der Ameisen. Der Sohn des Häuptlings hält Hochzeit . . .” Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, was es mit dem Gericht der Ameisen für eine Bewandtnis habe, doch merkte ich, daß alle meine Gefährten freudig erregt waren, und wollte ihnen die Freude nicht verderben. In diesem Augenblick schossen mehrere große Boote aus der Biegung des Flusses hervor und hielten, von vielen Ruderern schnell vorangetrieben, auf uns zu. Sie nahmen den Schoner ins Schlepptau und brachten uns in kurzer Zeit zur Siedlung der War-raulen, die kaum eine Viertelmeile von unserem Ankerplatz entfernt lag. Inzwischen hatten mir Manauri und Arnak die spanische Kapitänsuniform gebracht und forderten mich auf, sie sofort anzuziehen. Es war jene schwere Paradeuniform, in der es so verteufelt heiß war und von der sich der Häuptling unter keinen Umständen hatte trennen wollen. Da ich mich auf Manauris Kenntnisse der hiesigen Bräuche verließ, zog ich die Uniform an. Dann fuhr ich in Arasybos Stiefel, schnallte mir den Degen mit dem Perlmuttgriff um und steckte die silberne Pistole in den Gürtel. Den Gipfel der Herrlichkeit aber bildete das Jaguarfell. Jetzt wurde mir klar, warum die Frauen während der letzten Tage das Fell auf das Deck gebracht und es von morgens bis abends fleißig gegerbt, gestreckt, eingerieben und geglättet hatten, bis es ganz weich wurde und die Haare einen wunderbaren Glanz annahmen. Es war das Fell jenes Jaguars, den ich gemeinsam mit Arnak und Wagura auf der einsamen Insel erlegt hatte. Es wurde mir nun so umgelegt, daß der Kopf des Raubtieres meinen Kopf bedeckte und nur das Gesicht frei ließ, während mir das Fell über die Schultern herabhing und bis zu den Fersen reichte. Die Wirkung dieser Maskerade war über Erwarten groß. Meine Gefährten sahen zu mir auf wie zu einer Gottheit, und die eigenwilligen, sonst oft widerspenstigen Augen Lasanas nahmen vor Erregung einen feuchten Glanz an, der sie unaussprechlich schön erscheinen ließ. Mich überkam ein schmeichelhaftes Gefühl der Eitelkeit, das ich jedoch beschämt unterdrückte. Ich wandte mich Manauri zu und fragte ihn: „Höre, Häuptling! Feste feiern ist ganz schön, stehst du aber auch dafür ein, daß wir nicht in eine Falle geraten?” „Glaube uns, hier gibt es keine Falle”, versicherten Manauri und Arnak gleichzeitig. Inzwischen waren wir beim Dorf angelangt. Auf einer dem Urwald entrissenen Lichtung standen Hütten auf hohen Pfählen. Sie waren mit Laub überdacht und größtenteils ohne Wände. Die Behausungen lagen einzeln und in ziemlich großen Abständen voneinander. In der Mitte der Lichtung erhob sich eine große Plattform, die gleichfalls auf Pfählen errichtet worden war und deren Seiten ungefähr je hundert Schritt maßen. Auch auf dieser Plattform standen Hütten, doch waren sie ansehnlicher und größer als die anderen und lagen dicht nebeneinander. Sie umgaben von drei Seiten einen unbebauten freien Platz, der zum Fluß hin offen war. Auf diesem Festplatz erwartete uns unter einem großen Baldachin aus Palmblättern der Häuptling Jekuana, umgeben vom Ältestenrat, der sich aus zwölf oder fünfzehn mit Bogen, Speeren, Keulen und Schilden bewaffneten Kriegern zusammensetzte. Der Häuptling war ein schwerer, wohlbeleibter Mann, der in einem mit Schnitzarbeiten reichverzierten Sessel saß, während die übrigen zu beiden Seiten von ihm Aufstellung genommen hatten. Etwas abseits erblickten wir drei leere Stühle, die sichtlich für die Gäste, also für uns, bestimmt waren. Die Körper der Indianer waren bemalt, und jeder von ihnen trug reichen Schmuck in Form von Halsketten, Gürteln und Schnüren, an denen Zähne wilder Tiere und bunte Früchte baumelten. Ein Federschmuck aber prangte nur auf dem Kopfe Je-kuanas, woraus ich folgerte, daß dies das Symbol der Häuptlingswürde sei und daß sich der Arawake Fujudi, der ebenfalls einen solchen Schmuck angelegt hatte, als dem Häuptling ebenbürtig betrachtete. Wie ich belehrt wurde, forderte das Zeremoniell, daß Jekuana so lange sitzen bleibe, bis wir unmittelbar vor ihm ständen; dann erst dürfe er aufstehen und uns ansprechen. Es zeigte sich aber, daß der Häuptling durch unseren Anblick so gebannt und geblendet wurde, daß er es einfach nicht mehr aushielt. Wir waren kaum die Leitern hinaufgestiegen und standen mit unseren Büchsen, die wir des größeren Eindrucks wegen mitgenommen hatten, am Rande der Plattform, als Jekuana trotz seiner Beleibtheit auf-sprang und mit lebhaften Worten auf uns einsprach. Zum Glück war seine Rede, die von Fujudi ins Arawakische übersetzt wurde, nicht lang, dafür aber äußerst herzlich. Manauri antwortete ihm sofort mit ebenso höflichen Worten. Unter dem Baldachin standen einige sehr große Tongefäße, von denen jedes gut zweihundert Liter faßte und die alle bis an den Rand mit einer trüben gelben Flüssigkeit gefüllt waren. Als Jekuana, Manauri und ich Platz genommen hatten, begann man die Flüssigkeit in Flaschenkürbisse zu schöpfen und bot sie uns zum Trinken an. Das Getränk hatte einen säuerlichen, aber keineswegs widerlichen Geschmack und enthielt Alkohol. Arnak, der hinter mir stand, flüsterte mir zu: „Das ist Kaschiri, ein Getränk aus Kaschawa. Trink nicht zuviel davon!” Plötzlich ertönte das rhythmische Schlagen von mehreren Trommeln, zwei Reihen Tänzer betraten den Platz. Die eine Reihe bestand nur aus Männern, die andere wurde von Frauen gebildet. Sie bewegten sich mit kleinen Schritten vorwärts und vollführten nach einem monotonen Gesang verschiedene tänzerische Sprünge, die von anmutigen Bewegungen der Hände begleitet waren. Die Gesichter der Tänzer waren sehr ernst. In der Mitte der Plattform bewegte sich ein Mensch mit einer Maske, die ihm ein abscheuliches Aussehen verlieh. Ihm oblag sichtlich die Aufgabe des Vortänzers, denn er tanzte auf seine Weise, indem er sich wie rasend drehte oder Gebärden ausführte, die eine Jagd oder einen Kampf andeuteten. „Das ist der Zauberer”, erklärte mir Manauri. „Wahrscheinlich ist es der, der zuvor so eigenartige Laute ausgestoßen hat.” „Ja, er ist es.” Jekuana war ein besonderer Typ. Er unterschied sich nicht nur durch die Fülle seines Leibes von den übrigen Indianern, sondern auch durch sein äußerst fröhliches Gemüt. Er lachte allen zu, besonders uns, seinen Gästen, schwatzte lustiges Zeug daher und forderte immer wieder zum Trinken auf. Die Flaschenkürbisse wanderten ständig von Hand zu Hand, doch nahm ich jedesmal einen kleineren Schluck und feuchtete mir endlich nur noch die Lippen an. Trotzdem wurde mir, da ich des Trinkens völlig entwöhnt war, etwas schwindlig, außerdem schwitzte ich fürchterlich. In der grausamen Hitze lief mir der Schweiß in Bächen den Körper hinab, aber ich sah, daß es auch den anderen nicht besser erging. In einem Anfall verzweifelter Verwegenheit riß ich mein Jaguarfell herunter, warf es auf den Boden und trampelte wütend mit den Stiefeln darauf herum. Wenn ich geglaubt hatte, daß sich die Indianer empören könnten, so hatte ich mich getäuscht, denn es geschah nichts dergleichen. Im Gegenteil, Jekuana verfolgte mein Tun mit bewundernden Blicken und nahm es für eine Äußerung meiner uneingeschränkten Macht über das Wesen des Jaguars. Er klatschte in die Hände und rief laut: „Der Weiße Jaguar! Unser Bruder, der Weiße Jaguar!” Durch diese Wendung ermutigt, zog ich auch die Uniform aus und warf sie mit einer forschen Bewegung auf das Jaguarfell. Die Indianer erblickten darin einen Ausdruck der Verachtung für die Spanier und machten ihrer Freude durch laute Rufe Luft. „Bezwinger der Spanier! Vernichter der Spanier!” riefen sie durcheinander. Einige wollten Pedro herbeiführen, um ihren Spaß mit ihm zu treiben und ihm gehörig zuzusetzen. Nachdem ich sie jedoch ernst-haft ermahnt hatte, bezähmten sie ihre unpassenden Gelüste und ließen ihn in Ruhe. Währenddessen nahmen Tanz und Gesang auf dem Platz vor uns ohne Unterbrechung ihren Fortgang, und der allgemeine Lärm steigerte sich von Minute zu Minute. Allmählich wurde auch ich von der leidenschaftlichen Stimmung um mich herum erfaßt. Die wogenden Tänze, der Kaschiri, das tobende Treiben und die Schwüle der Luft versetzten mich in eine Art Betäubung, die mir meine Anwesenheit unter den freudig erregten Indianern und die Rolle, die ich spielte, mit einemmal phantastisch und unwirklich erscheinen ließ. Hatte mich das Schicksal tatsächlich in die Urwaldeinsamkeit dieses hitzegärenden venezolanischen Flußdeltas verschlagen? War es wirklich der Virginier Jan Bober, der hier gedankenlos dem Dickwanst Jekuana zulachte, das Bild der unermüdlich tanzenden Indianer in sich aufnahm, das kokette Lächeln irgendeines hübschen Mädchens auffing und die unergründliche Fremdheit dieser Menschen empfand, die so ganz anders, so seltsam weit entfernt und doch so freundschaftlich waren? Ja, diese Menschen waren mir fremd. Das unverhoffte Eindringen in die geheimnisvolle Feierlichkeit, in den Wirbel dieses Zechgelages schien ein Trugbild zu sein, ein wirrer Traum. Doch gleich darauf überkam mich ein anderes Gefühl, ein Gefühl herzlicher Wärme. Die Warraulen waren mir wohl fremd, aber die anderen, meine Reisegefährten, mit denen ich im Glück und Unglück brüderlich verbunden war, standen mir so nahe, daß ich an ihnen hing wie an meiner Familie. In ihrer Mitte empfand ich die Gemeinsamkeit so stark, wie ich es nur von meinem Elternhaus kannte. Dieses tiefe Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Geborgenseins gab mir Kraft und ließ mich wie aus der sicheren Deckung hinter einer Palisade auf die Absonderlichkeiten dieser fremden Welt hinabblicken. Und es gab manches Erstaunliche und Absonderliche! Plötzlich stand ein Vogel vor mir, der aus einem Märchen zu kommen schien, ein riesengroßer weißer Storch mit einem nach oben gestülpten schwarzen Schnabel. Er betrachtete mich eine ganze Weile — wahrscheinlich erschien ich ihm genauso sonderbar wie er mir — und begann dann seelenruhig die gebratenen Fische aufzufressen, die auf großen Blättern vor mir ausgebreitet lagen. Lachend vertrieben ihn die Umstehenden, doch er kehrte in unbezähmbarer Leidenschaft immer wieder zurück und schluckte so viele Fische, wie in seinem Schnabel Platz fanden. Bald erhielt er Gesellschaft. Eine Herde zahmer Affen kam heran, äugte argwöhnisch zu dem Wundertier, dem weißen Menschen, herüber und machte sich dann daran, die Vorräte an süßen Früchten zu plündern. Furchtlos liefen bunte Vögel und verschiedene Vierbeiner zwischen den Füßen der Menschen umher. Mit einemmal verstummten die Trommeln bis auf eine. Die Tänzer hielten inne und gingen auseinander. Ich bemerkte, daß überall dort, wo auf der Plattform Pfähle aufragten, kleine längliche Netze, eine Art Hängematten, befestigt waren. Eben wurden zwei junge Menschen zu diesen Matten geleitet: ein Jüngling im Alter unseres Wagura und ein bedeutend jüngeres Mädchen, das ich auf höchstens dreizehn Jahre schätzte, doch zeugten seine entwickelten Brüste davon, daß es kein Kind mehr war. Es war das Brautpaar. Wie die Mehrzahl der Anwesenden trug der junge Mann nur einen Faserschurz um die Lenden, während das Mädchen mit einem kurzen Schürzehen bekleidet war, das ihren Schoß bedeckte. Die beiden mußten sich in zwei nebeneinander hängende Matten legen. Der Zauberer — er hatte inzwischen die Maske abgenommen, und wir sahen, daß es ein älterer Mann war - umtanzte mit gewandten Bewegungen und geistesabwesendem Blick das ruhig liegende Paar, wobei er beschwörende Formeln schrie und zwei kleine, dicht verschlossene Körbchen schwenkte. Obwohl nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen, ja selbst die Kinder bereits berauscht waren, wurde es auf der Plattform mäuschenstill. Nur die Affen, die wir vertrieben hatten, quiekten und schwatzten in der Ferne. Jekuana, der Vater des Jünglings, war vor Erregung fast nüchtern geworden. Der Zauberer sprang zu mir heran und gestattete mir als besonderen Gunstbeweis, einen Blick in einen der Körbe zu werfen, dessen Deckel er ein wenig öffnete. Drinnen wimmelte es von Tausenden wütender Ameisen. Der Alte verschloß das Körbchen wieder und eilte zu den Hängematten, wo er das eine Körbchen auf die nackte Brust des Jünglings und das zweite auf die Brust des Mädchens stellte. Die Spannung der Anwesenden stieg, das „Gericht der Ameisen” nahm seinen Anfang. „Im Boden der Körbchen befinden sich kleine Öffnungen”, ließ mir Fujudi durch Arnak mitteilen. „Die Ameisen können zwar nicht entwischen, doch vermögen sie durch das Gitter hindurch zu beißen. Oh, sie fangen schon an!” Man konnte den jungen Leuten am Gesicht ablesen, daß die Ameisen nicht müßig waren. Der Schweiß rann beiden aus allen Poren, und sie bissen sich vor Schmerz auf die Lippen; doch taten sie es möglichst unauffällig, um sich nicht zu verraten. Fujudi fuhr in seiner Erklärung fort: „Es ist Bedingung, daß sie alles tapfer und mit größter Ruhe hinnehmen. Wenn sie vor Schmerz eine Bewegung machen oder gar seufzen und stöhnen, dann ist es aus.” „Was ist aus?” fragte ich. „Dann können sie nicht heiraten. Es wäre eine unvorstellbare Schande!” „Dann dürfen sie nicht heiraten?” Ich wandte mich an Arnak: „Sie haben also noch nicht miteinander gelebt?” „Doch, sie haben schon miteinander gelebt, aber heimlich. Jetzt dürfen sie auch öffentlich miteinander leben, können sich eine Hütte bauen und gemeinsam an ihrer Feuerstelle essen. Sie wird für ihn den Acker bearbeiten, und er wird ihr Fische und Wild nach Hause bringen.” „Und sie werden Kinder haben.” „Kinder können sie auch jetzt schon haben, das schadet nichts; nur dürfen sie jetzt nicht schreien, denn dann ist alles aus, und eine große, untilgbare Schande haftet ihnen an.” Der Zauberer ersparte den beiden nichts. Jeden Augenblick schüttelte er bald den einen, bald den anderen Korb, um die Angriffslust der Ameisen zu steigern, und legte ihn dann wieder an eine andere Stelle des Körpers. Dabei steigerte die Trommel jedesmal ihre eintönige Begleitmusik, und die Menschen ringsum starrten mitleidlos und mit ständig wachsender Spannung auf die jungen Opfer. Allen leuchteten die Augen, doch vermochte ich nicht festzustellen, ob Trunkenheit die Ursache war oder verborgene Grausamkeit. Die feierliche Zeremonie erreichte ihren Höhepunkt, als der Zauberer die Körbchen öffnete und den Inhalt auf die Körper des Brautpaares gleiten ließ. Es waren so viele Ameisen, daß die Haut stellenweise mit einer dicken schwarzen Schicht überzogen war. Sogar von weitem konnte man erkennen, daß die wütenden Insekten; während sie sich eilig über den ganzen Körper verteilten, bissen, was sie nur konnten. Bald gab es keine Stelle mehr an den gequälten Körpern, in die sie nicht ihr Gift gespritzt hatten. Die beiden Opfer blieben standhaft und zuckten mit keiner Wimper. Der junge Mann war mit mehr Ameisen bedacht worden, und ich hatte den Eindruck, als ob er manchmal nicht mehr bei Bewußtsein sei. Die bissigen Quälgeister krochen auch auf die Gesichter der beiden und zwangen sie, die Lider zu schließen, damit ihnen nicht die Augen ausgefressen würden. Auch diese Schmerzen ertrugen die Neuvermählten tapfer. Zwar quollen dem Mädchen Tränen unter den geschlossenen Lidern hervor, doch rührte es sich nicht und ließ keinen einzigen Seufzer hören. Nach einiger Zeit begannen die Ameisen die Körper zu verlassen und verschwanden endlich auf der Plattform. Der Zauberer verkündete, daß das junge Paar die Probe bestanden habe; doch einige lärmende Jünglinge erhoben ihre Stimme und widersetzten sich dem Spruch. „Sie hat die Probe nicht bestanden! Sie können nicht heiraten, weil sie geweint hat!” schrien sie. Andere wieder verteidigten das Paar, und ehe wir uns versahen, war ein lauter Streit ausgebrochen, der nur mit Rücksicht auf die Gäste nicht in Schlägerei überging. Die Mehrzahl der Warraulen brachte die Neider und Unruhestifter mit einigen kräftigen Rippenstößen bald zur Vernunft, so daß wieder Ruhe und Frieden auf der Platt-form einkehrten. Die Brautleute waren mit einem blauen Auge davongekommen. „Hast du das gesehen?” fragte mich Arnak und dämpfte seine Stimme, obgleich außer Wagura niemand Englisch verstand. „Was denn? Das Gericht der Ameisen?” „Nein, den Streit! Weißt du, wovon das zeugt?” „Na?” „Daß der Zauberer ein Schlappschwanz ist, wenn sie sich erlauben, seinen Spruch umstoßen zu wollen. Das ist unerhört!” „Meinst du?” „Eine solche Frechheit könnte woanders nicht vorkommen. Der Spruch des Zauberers ist heilig! In diesen Gegenden besitzt der Zauberer größere Macht als der Häuptling. Aber der hier?” Arnak schüttelte den Kopf. Nachdem das Gericht der Ameisen seinen Abschluß gefunden hatte, kamen Unterhaltung und Trunk wieder zu ihrem Recht, der Lärm wurde zusehends größer und die Fröhlichkeit ausgelassener. Für die Häuptlinge und die Ältesten wurden Matten aufgehängt; auch ich ließ mich in einer von ihnen nieder und muß bekennen, daß ich mich äußerst wohl darin fühlte. Wieder machte der Kaschiri die Runde, ich aber tat nur noch so, als spräche ich ihm tüchtig zu. Anders verhielten sich unsere Arawaken, von denen sich einige fürchterlich betranken. Zum Glück blieben Arnak, Wagura und Lasana nüchtern und paßten auf die anderen auf. So manchen sinnlos Betrunkenen brachten sie auf den Schoner, damit er sich dort ausschlafe. Sehr gefiel mir die Enthaltsamkeit und Disziplin der Neger. Als sie sahen, daß die meisten Arawaken sich dem Trunk ergaben und das Trinken der Hauptbestandteil der indianischen Festlichkeit war, gingen sie mit Miguel auf das Schiff und wachten darüber, daß sich kein Unberufener an unserem Eigentum zu schaffen mache. Manauri dagegen fühlte sich wie im siebenten Himmel, sprach fleißig dem Kaschiri zu und unterhielt sich durch die Vermittlung Fujudis äußerst lebhaft mit Jekuana. Es mußten ernste Dinge sein, die sich die beiden Häuptlinge im Vertrauen mitteilten, denn der Fettwanst brach jetzt seltener in laute Fröhlichkeit aus, zog öfter die Stirn in Falten und warf mir manchmal Blicke zu, die besonderes Wohlgefallen auszudrücken schienen. Schließlich stieg er aus seiner Matte, zog einen Stuhl heran und ließ sich neben mir nieder. „Anau, großer, kluger Weißer Jaguar”, begann er das Gespräch mit melodischer Stimme und fuchtelte mit den Armen über mir herum, was wohl eine Gunstbezeigung darstellen sollte, „du bist ein weiser, mächtiger Häuptling!” „Du schmeichelst meinem Stolz”, antwortete ich lachend. „Sicher hat Manauri albernes-Zeug über mich geschwatzt.” „Albernes Zeug?” wiederholte der Warraule und zwinkerte mir zu. „Der Weiße Jaguar ist zu bescheiden! Wer besitzt so viele feurige Zähne, daß er — bum, bum, bum! — damit alle Feinde zerstückelt?” Jekuana deutete mit achtungsvoller Gebärde auf die silberne Pistole, die ich aus dem Gürtel gezogen hatte, als ich in die Matte gestiegen war, und die nun vor mir lag. „Solche Zähne habe ich, das ist wahr”, gab ich erheitert zu. „Und wer hat seine Gefährten dazu bewogen”, fuhr der Häuptling in dem gleichen schmeichelnden Tonfall fort, „daß alle lernen sollen, wie man mit den Feuerzähnen beißt? Der Weiße Jaguar hat sie dazu gebracht.” „Auch das ist wahr”, stimmte ich fröhlich bei. „Aber sieh dich einmal um! Meine Feuerzähne können wohl schrecklich beißen, aber dein Kaschiri, obgleich er nur ein Getränk ist, hat sich als stärker erwiesen.” Mit diesen Worten deutete ich auf eine Gruppe völlig betrunkener Arawaken. Alle ringsum brachen in Gelächter aus, und Jekuana bekannte mit prahlerischem Bedauern, daß dies nun ein-mal in der Natur der Indianer liege, sie seien eben unverbesserliche Säufer. Um dem Gespräch eine nützlichere Wendung zu geben, fragte ich ihn, was er über die Engländer an der Essequibomündung wisse, da ich diese später gern einmal aufsuchen möchte. Doch der Häuptling tat meine Frage sehr schnell ab; entweder konnte er mir nicht viel darüber sagen, oder er wollte es nicht. Er äußerte lediglich, daß irgendwo im Süden Engländer lebten und daß sie den Indianern freundlicher entgegenkämen als die Holländer, die zahlreicher und viel schlechter seien. „Oh, diese Holländer!” Jekuana schüttelte sich wie bei dem Gedanken an etwas schrecklich Unangenehmes. „Sie sind euch wohl auf den Leib gerückt?” fragte ich neugierig. „Das fehlte uns noch! Sie selbst waren nicht hier, aber ihre Häscher, die Sklavenfänger.” Als ob er schon zuviel gesagt habe, biß er sich plötzlich auf die Lippe. Nach einer Weile sprach er mich erneut an. Seine Stimme klang bittend: „Weißer Jaguar, fahre nach Westen zum Itamaka und nicht nach Süden. Bei uns, bei den Warraulen und bei den Arawaken am Itamaka, findest du offene Herzen. Wir sind dir alle sehr zugetan, denn du kommst zu einer besonderen Zeit, in der wir dich doppelt freudig begrüßen. Du findest hier aufrichtige Freunde.” „Was für eine Zeit ist das?” Zum zweitenmal wich Jekuana der Antwort aus und tat, als habe er die Frage überhört. Vielleicht war er auch betrunken, denn er klatschte immer wieder in die Hände, rief die ihn bedienenden Frauen herbei und trug ihnen auf, Kaschiri zu bringen oder Obst und andere Leckerbissen anzubieten. Es waren größtenteils flinke halbwüchsige Mädchen, die uns umsprangen wie fügsame Kätzchen, doch befanden sich auch reife Mädchen darunter, die genauso fröhlich umhertollten. Zwei knieten neben meiner Matte auf dem Boden und zwitscherten verlegen und aufgeregt durcheinander wie ein liebliches Vogelpaar. „Was wollen sie von mir?” fragte ich die in der Nähe stehenden Gefährten. Fujudi lachte und rief: „Nichts, sie sind übermütig und schäkern!” „Worüber sprechen sie denn?” „Sie sagen, wenn es um dich ginge, hätten sie keine Angst vor den Ameisen.” Wir alle nahmen das als harmlosen Scherz hin, nur Lasana stand nach einer Weile auf, ging lachend auf die beiden Mädchen zu, holte sie unter meiner Hängematte hervor und scheuchte sie fort. Die Sonne berührte bereits die Wipfel des Waldes, die Schatten begannen langsam zu schwinden. Da Jekuana zu gern unsere Waffen sehen wollte, geleitete ich ihn auf das Schiff und ließ die Büchsen auf das Deck bringen. Sie machten großen Eindruck auf ihn. Lange stand er davor und betrachtete sie in stummer Ehrfurcht; dann fragte er mich, wann wir wohl unsere Reise fortsetzen wollten. „Morgen natürlich”, antwortete ich. „Nach Sonnenaufgang setzt die Flut ein, dann segeln wir los.” „Du auch?” „Ja, ich auch. Ich muß euch doch zu Oronapi begleiten. Eure Ankunft habe ich ihm bereits gemeldet’, entgegnete Jekuana. „Oronapi? Wer ist das?” „Er ist das Oberhaupt aller Warraulen im Süden, er ist unser Oberhäuptling.” „Meine Gefährten, die Arawaken, haben es sehr eilig, an den Itamaka zu kommen”, erinnerte ich ihn. „Sie werden dadurch nicht aufgehalten. Kaiiwa, der Sitz Oro-napis, liegt auf dem Wege dorthin, direkt am Orinoko, zwei Tagereisen von hier entfernt.” „Wenn es so ist, dann können wir dort vor Anker gehen.” Jekuana schien diesem Besuch außerordentlichen Wert beizumessen. Er nahm mich beim Arm und ging mit mir ein Stück das Flußufer entlang, bis wir zu einer Stelle kamen, an der ungefähr fünfzehn Boote lagen, die halb aus dem Wasser herausgezogen waren. Die kleineren bestanden aus Baumrinde, die sieben großen dagegen waren aus je einem mächtigen Baumstamm ausgebrannt worden. Der Häuptling gab mir zu verstehen, daß er mir eines der großen schenke, ich solle es mir aussuchen. Ein solches Boot, das mehr als zwanzig Menschen faßt, stellte ein kleines Vermögen dar, und die unerwartete Freigebigkeit Jekuanas bereitete nicht nur mir eine freudige Überraschung, sondern allen Arawaken. „Das ist nichts Außergewöhnliches”, verteidigte sich der Häuptling. „Eure drei spanischen Boote sind zu schwer für diese Gewässer. So ein schmales Boot kommt euch sehr zustatten, es fliegt dahin wie ein Pfeil. Übrigens”, schloß er und suchte ein rätselhaftes Lächeln zu verbergen, „für den Kampf ist nur ein indianisches Boot zu gebrauchen.” „Wieso für den Kampf? Warum schreckst du uns und sprichst von Kampf?” „Ich will euch nicht schrecken, Weißer Jaguar, aber im Urwald lauert der Kampf auf Schritt und Tritt, und keiner kann sich ihm entziehen, auch du nicht. Nein, auch du nicht! Deshalb sollst du ein schnelles Boot haben.” Er verfiel wieder in seine alte Fröhlichkeit, und ich wußte nicht, wie ich seine eigenartigen Worte auffassen sollte. Da ich ihm nichts schuldig bleiben mochte, bat ich ihn, er möge sich aus unseren Vorräten eine Waffe aussuchen. Er nahm einen Degen, der als Symbol der Herrschaft nach seiner Meinung wohl nachdrücklicher die Würde des Häuptlings hervorhob als eine Büchse. Als ich später in der Hängematte lag und vor dem Einschlafen die Ereignisse des Tages an mir vorüberziehen ließ, konnte ich mich über die Gastfreundlichkeit und die verblüffende Herzlichkeit der Warraulen nicht genug wundern. Ihr Verhalten mir gegenüber, das geradezu Verehrung ausdrückte, kam so unerwartet und war so überwältigend wie etwa der durchdringende Geruch des Sumpfes und der modernden Pflanzen oder die schrillen Laute der nächtlichen Tierwelt, die meine Sinne betäubt und gelähmt hatten. Das Bündnis mit den Warraulen Die Fahrt flußaufwärts bereitete keine Schwierigkeiten. Die Strömung der Flut trieb uns schnell landeinwärts, und da außerdem vom Ozean her eine Brise die Segel des Schoners schwellte, kamen wir gut voran. Als nach einigen Stunden die Ebbe begann und sich der Gegenstrom bemerkbar machte, warfen wir den Anker aus und warteten auf die nächste Flut, um dann unsere Fahrt fortzusetzen. Es war phantastisch, in welch überschäumender, tobender Fülle sich der Reichtum der Natur darbot. Obwohl ich schon manche Erzählung über diese märchenhafte Schönheit gehört hatte, war ich immer wieder von neuem entzückt. Unzählige Fische von mannigfaltigsten absonderlichen Formen, die ins Riesenhafte gesteigert schienen, schossen in dem trüben Wasser umher und schnellten jeden Augenblick hoch in die Luft. Herden von Affen trieben ihr Unwesen in den Zweigen der Bäume. Ein nie verstummendes, geheimnisvolles Kreischen und Krächzen regte unsere Einbildungskraft an. Das Auge war wie geblendet, wenn hoch über uns die schönsten der Vögel, die großen Papageien, dahinflogen und die unwahrscheinliche Pracht ihres bunten Gefieders erstrahlen ließen. Es waren wunderbare Vögel; die Indianer nannten sie Arakanga und Ararauna. Und erst der Urwald, der jeden Fußbreit des Ufers bedeckte! Eine tolle, bezaubernde Wahnvorstellung in Grün, durchpulst vom Brausen der Myriaden Insekten, ein tosendes Durcheinander, so dicht und chaotisch verflochten, daß ohne Buschmesser kein Mensch auch nur einen Meter eindringen konnte. Dieser Urwald überstieg die menschliche Vorstellungskraft! Überall war es, dieses zischende Sausen der Myriaden von Insekten! Wenn diese ekelhaften Wesen nicht wären, wie gern würde ich dieses lockende Paradies durchstreifen, ich — der im virginischen Wald geboren wurde und aufgewachsen war, den der Wald ernährt hatte und dem er zum besten Freund wurde. So aber machten uns die Schwärme höllisch stechender Mücken und winziger Fliegen das Leben Tag und Nacht zur Qual. Mir war längst klargeworden, daß ich den spanischen Hemden und Hosen Abbitte tun mußte und sie wieder anziehen würde, wenn ich dieses Dickicht durchqueren wollte. Auch die Füße mußten geschützt werden, weshalb ich den Frauen auftrug, mir aus dem Pferdefell, das wir besaßen, Sandalen anzufertigen. Arasybos Gebrechen bestand in nichts anderem, als daß sein linkes, gebrochenes Bein kürzer war als das rechte. Auch die spanischen Stiefel hatten diesem Übel nicht abhelfen können. Während ich mir den Kopf über mein Schuhwerk zerbrach, kam mir der Einfall, daß der Hinkende ebenfalls Sandalen tragen könnte, nur müßte an der linken eine bedeutend dickere Sohle sein. Der Gedanke war sehr einfach, zeitigte aber einen über Erwarten großen Erfolg: Arasybo hinkte nur noch unmerklich. Der Krüppel wußte nicht, wie er mir danken sollte, doch merkte ich, wie ergriffen er war, und las in seinen Augen den Entschluß, für mich, wenn es sein mußte, auch den Himmel herunterzuholen. Außer dem Boot, das ich geschenkt bekommen hatte, begleitete uns noch ein zweites flußaufwärts, in dem sich zweiundzwanzig Warraulen befanden. Jekuana selbst weilte auf unserem Schoner, dafür waren mehrere Arawaken in mein Boot übergesiedelt. Die gute Stimmung hielt auch während der Reise an. Fröhliche Lieder wurden gesungen und alle möglichen Begebenheiten erzählt, wie es unter Freunden üblich ist. Als wir noch eine Tagereise von Kaiiwa entfernt waren, nahm der Orinoko, der im Mündungsgebiet einer riesigen Bucht ähnlich gesehen hatte, endlich die Gestalt eines Flusses an. Zwar war er einige Meilen breit, aber eben doch ein Fluß. Spuren von Menschen hatten wir bisher nicht entdecken können, doch vernahmen wir stundenlang den dumpfen Ton der Urwaldtrommeln. Bei unserem Nahen begannen im Uferdickicht verborgene, für uns unsichtbare Menschen ihre hölzernen Trommeln zu schlagen und hörten nicht wieder auf. Das Dröhnen war sehr weit zu hören und klang freudig und unheimlich zugleich. Jekuana strahlte und rief mir zu: „Sie heißen dich willkommen, Weißer Jaguar! Du bist ihr lieber Bruder!” „Sind das Warraulen, die die Trommeln schlagen?” „Ja.” Manchmal löste sich ein kleines mit zwei, drei Ruderern bemanntes Boot vom Ufer, steuerte auf uns zu, und die Besatzung machte uns freundschaftliche Zeichen. Bevor wir das Dorf des Oberhäuptlings Oronapi erreichten, rief ich Manauri, Arnak und Wagura zu einer Besprechung zusammen. „Waren die Arawaken und die Warraulen immer so befreundet?’ fragte ich. „Nein”, antwortete der Häuptling kurz. „Die Warraulen lagen oft im Streit mit uns.” „Wie erklärt ihr euch denn die so überschwengliche Freundlichkeit?” „Sie haben sich geändert.” „Findet ihr diese plötzliche Veränderung nicht eigenartig?’ „Nein.” „Doch, mich wundert es!” erklärte Arnak. „Und ich sage euch, daß daran nichts Sonderbares ist’, beruhigte uns Manauri. Seine Worte klangen sehr überzeugt, während ein rätselhaftes, geradezu geheimnisvolles Lächeln seinen Mund umspielte. „Übrigens betrifft die Freundlichkeit nicht nur uns Arawaken, sondern vor allem dich, Jan. Dich heißen sie so freudig willkommen.” „Das verstehe ich nicht.” „Aber ich verstehe es. Vielleicht erinnerst du dich, daß Jekuana gesagt hat, der Kampf lauere auf Schritt und Tritt? Ich glaube, daß dies nicht nur ein Scherz war, sondern deinem Ruhm als siegreichem Häuptling galt.” „Weil du ihnen alles mögliche über mich eingeredet hast, du Schwätzer!” rief ich entrüstet aus. „Das stimmt nicht, Jan! Ich habe erzählt, aber nicht zuviel. Nur was notwendig war.” „Auf was für einen Kampf bereiten sie sich eigentlich vor? Mit den Spaniern?” „Nein.” „Ja, zum Teufel, mit wem denn dann?” „Das weiß ich noch nicht. Aber gibt es nicht genug wilde Kariben in diesem Land?” „Und die Warraulen sind kein karibischer Stamm?” „Nein.” Die Aussicht, in irgendwelche unbekannten Verwicklungen hineingezogen zu werden, erschien mir nicht sehr erfreulich; doch hatte ich den Eindruck, als ob sie Wasser auf die Mühle Manauris seien. Vielleicht hoffte der Häuptling, in einer Zeit kriegerischer Unruhen seinen Einfluß auf den Stamm leichter zurückzugewinnen. Je mehr wir uns Kaiiwa, dem Sitz Oronapis, näherten, um so wirbelnder schlugen die Trommeln. Die ganze Nacht hindurch vernahmen wir ihr Dröhnen, manchmal ertönte es von mehreren Seiten zugleich. Nach dem Trommeln zu urteilen, schien sich der ganze Urwald auf eine triumphale Begrüßung vorzubereiten. Als wir das Dorf erreichten, mußte ich wieder in die goldverschnürte Kapitänsuniform schlüpfen, die schweren Stiefel anziehen und das Jaguarfell über den Kopf stülpen. Selbstverständlich gehörten der Degen mit dem Perlmuttgriff und die silberne Pistole zu meiner Ausrüstung. Außerdem hatte ich eine unnahbare, strenge Miene aufzusetzen, denn das sei das wichtigste, wie mir Manauri eindringlich auseinandersetzte. In Kaiiwa gab es keine gemeinsame Plattform wie im Dorf Jekuanas. Alle Hütten standen einzeln auf Pfählen, die in die Erde gerammt waren. Im Schatten der größten Behausung, etwa zweihundert Schritt vom Ufer entfernt, erwartete uns Oronapi an der Spitze seines Gefolges. Alle hatten bunten Federschmuck angelegt und ihre Körper bemalt. Halsketten und reichgeschnitzte Keulen vervollständigten den festlichen Eindruck. Am prunkvollsten sah der Oberhäuptling aus. Nur er hatte in einem Sessel Platz genommen, neben dem mehrere andere Sitzgelegenheiten standen, was sichtlich dem herkömmlichen Zeremoniell entsprach. Als wir das Schiff verließen, kam Oronapi nicht auf uns zu, wie es Jekuana getan hatte, sondern blieb stolz und unbeweglich sitzen und sah uns entgegen. In Begleitung von Manauri, Jekuana, Arnak, Wagura und Fujudi ging ich langsam auf ihn zu, doch machte er auch jetzt keinerlei Anstalten aufzustehen. Er hatte wohl eine sehr hohe Meinung von sich und wollte so lange sitzen bleiben, bis wir unmittelbar vor ihm standen. Nachdem wir ungefähr die Hälfte der Entfernung zurückgelegt hatten, flüsterte mir Manauri zu, ich solle stehenbleiben. Kaum verhielt ich den Schritt, als Jekuana trotz seiner Fülle herbeisprang und uns mit höflichen Gebärden zum Weitergehen aufforderte. Manauri knurrte ihn an, er möge den Mund halten, und ging allein weiter. Der Dickwanst verstummte, schnaufte gekränkt und wußte nicht, was er beginnen sollte. Als Oronapi bemerkte, daß wir stehengeblieben waren, erhob er sich, ließ den zur Schau getragenen Hochmut fallen und eilte mit Riesenschritten, die seiner Würde gar nicht entsprachen, auf uns zu. Schon von weitem gab er zu erkennen, daß er sich freue, und rief einladend: „Tretet näher, Freunde! Kommt heran und seid herzlich gegrüßt!” Ständig freundliche Begrüßungsworte wiederholend, faßte er mich am Arm und führte uns unter das schattenspendende Dach der Hütte. Das Eis, wenn überhaupt welches bestanden hatte, war im Nu geschmolzen. Als ich vor Oronapis Sessel stand, betrachtete ich die hölzerne Sitzgelegenheit sehr aufmerksam, als ob ich ein Wunder-werk vor mir hätte, und fragte dann mit gespieltem Ernst: „Ist er wirklich so bequem, daß es schwerfällt, sich daraus zu erheben?” Der Oberhäuptling verstand die Anspielung, nahm sie von der heiteren Seite und bat mich, ich möge in dem Sessel Platz nehmen. „Versuche es selbst einmal, Weißer Jaguar!” rief er aus. Kaum hatte ich mich in Oronapis Sessel niedergelassen, als auch schon Gesang ertönte und der Tanz begann. Gebratene Fische, Wild und süße Früchte wurden herumgereicht, der Ka-schiri machte die Runde (ich feuchtete mir nur die Lippen an), kurz, es begann ein Schmausen und Trinken und es herrschte eine so herzliche Stimmung, daß unsere Erwartungen weit übertroffen wurden. Nach einiger Zeit wandte ich mich an Arnak, der neben mir saß, und flüsterte ihm zu: „Kannst du das verstehen, Arnak? Ich begreife es nicht!” „Die Art dieser Gastfreundschaft ist ungewöhnlich, das stimmt”, antwortete er. „Waren denn die Warraulen immer so herzlich und gastfreundlich?” „Ich habe sie nie kennengelernt, doch behauptet Manauri, sie seien es früher nicht gewesen.” „Dann muß das doch etwas zu bedeuten haben? Vielleicht fürchten sie einen Kampf?” „Anders kann es kaum sein, es muß ihnen irgendein Überfall drohen.” Er sprach diesen Satz so ruhig und bestimmt aus, daß ich lachen mußte, aber nicht nur seinetwegen, sondern weil mir der Gedanke kam, was wohl für ein Krieg drohen könne, wenn die Menschen imstande waren, so fröhlich zu sein und sich so unbeschwert zu unterhalten? Im Gegensatz zu dem jovialen Dickwanst Jekuana war Oronapi ernster und in seinem Gehaben barscher; doch bemühte er sich, an diesem Tage so höflich wie nur möglich zu sein. Er überschüttete uns mit Wohlwollen und war bemüht, uns um jeden Preis zu gefallen. Man merkte nur zu deutlich, wie sehr ihm an uns gelegen war, und seine krampfhaften Bemühungen reizten mich manchmal zum Lachen. Da ich mich selbst in rosiger Laune befand, ein wenig Kaschiri hatte ich doch getrunken, ließ ich den Oberhäuptling ohne Umschweife fragen, welchem günstigen Umstand wir seine ungewöhnliche Gastfreundschaft und Höflichkeit zu-zuschreiben hätten. Durch diese Frage überrascht, blickte Oronapi unsicher zu mir herüber. Bald aber bezwang er seine Verwirrung und sah gedankenvoll in den mit Kaschiri gefüllten Flaschenkürbis, den er in der Hand hielt. Schließlich gab er sich einen Ruck und goß das Getränk in weitem Bogen aus, zum Zeichen, daß er jetzt nicht trinken wolle. „Mir liegt daran, euch zu Verbündeten zu haben”, sagte er dann mit Nachdruck und blickte mir fest in die Augen. „Mir ist sehr viel an deiner Freundschaft gelegen, Weißer Jaguar!” „Das habe ich vermutet’, antwortete ich leichthin, ohne auf seinen feierlichen Ton einzugehen. „Aber warum ist dir soviel daran gelegen?” „Du willst wissen, warum? Weil du zu kämpfen verstehst! Weil ihr gute Krieger seid! „Ist die Situation wirklich so ernst?’ „Ja, sie ist sogar sehr ernst.” Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann sprach der Häuptling: „Hör zu, Weißer Jaguar, was ich dir nun erzähle!” Oronapi machte den Vorschlag, der weniger an mich als an Manauri gerichtet war, daß wir nicht weiterfahren und uns in der Nähe seines Dorfes niederlassen sollten, wo auf erhöhtem Ufer starker Wald wachse und viel fruchtbare Erde vorhanden sei, um Felder anzulegen. Er verpflichtete sich, jede Hilfe zu gewähren, damit wir uns gut einrichten könnten; außerdem habe er beschlossen, da wir nur wenige Frauen bei uns hätten, die gesündesten Mädchen des Stammes den ledigen Männern auf unserem Schiff als Frauen und Gefährtinnen zuzuteilen. Einigen Arawaken kamen diese Worte sehr gelegen, denn der Kaschiri hatte ihre Gemüter bereits in Wallung gebracht, und die sich in der Nähe tummelnden Warraulenmädchen boten keinen häßlichen Anblick; doch Manauri dankte in höflicher Form für die Freigebigkeit des Oberhäuptlings und erklärte, daß er die Einladung nicht annehmen könne, da er verpflichtet sei, sich bei seinem Stamm zu melden. „Doch werde ich mich stets deiner Worte erinnern”, schloß er seine Rede. „Solltest du, Häuptling Oronapi, uns in Zukunft jemals um unsere Dienste ersuchen, so werden wir sie dir nie versagen, wenn es sich um die Abwehr eines Feindes handelt. Dies erkläre ich vor einem so würdigen Zeugen, wie es der Weiße Jaguar ist. Andererseits rechnen auch wir damit, wenn wir in Bedrängnis geraten, bei dir Hilfe zu finden.” „Zu dieser Hilfe sind wir immer bereit!” beeilte sich Oronapi zu versichern. Da ich genug Andeutungen und feierliche Versicherungen gehört hatte, forderte ich den Häuptling auf, er solle mir offen sagen, was eigentlich los sei, was er erwarte; denn ich sei gewöhnt, stets und in allen Dingen Gewißheit zu haben. „Du hast recht, ihr sollt wissen, was uns hier bedroht”, erwiderte Oronapi. Während der Gesang anschwoll und die Tänze unter dem Wirbeln der Trommeln immer wilder wurden, rückten Jekuana, Ma-nauri, Arnak, Wagura und ich zusammen, um besser zu hören, was der Oberhäuptling zu berichten hatte. Fujudi übersetzte dessen Worte ins Arawakische. Weiter nach Westen zu lagen am Orinoko die Niederlassungen der Spanier, die sich aber ruhig verhielten. Im Süden dagegen, in der Nähe des Meeres, an den Flüssen Essequibo, Demerara, Ber-bice und Cajena saßen Holländer, Engländer und Franzosen. Sie waren als Händler gekommen, um ihre Waren gegen die Produkte der Indianer einzutauschen, und solange sie sich nur mit dem Handel befaßt hatten, war alles gut gegangen. Am zahlreichsten waren die Holländer, und sie waren auch die ersten, die neben den Faktoreien Plantagen angelegt hatten, in denen sie verschiedene wertvolle Pflanzen anbauten. Für die Arbeit auf den Plantagen benötigten sie die Arbeitskraft der Eingeborenen, die aber wenig Lust zeigten, für die weißen Herren zu schuften. Da sich die Plantagen vermehrten wie die gefräßigen Sipari-Fische im Fluß, begannen sich die Holländer umzusehen, wie sie ihren Bedürfnissen gerecht werden könnten. Dort im Süden lebten verschiedene Indianerstämme: an der Küste die Arawaken, im Innern des Urwaldes die ihnen verwandten Wipisanas, die Atorais und die Tarumas, ein Nebenzweig der Wipisanas. Außer diesen friedliebenden Stämmen, die in der Hauptsache vom Ackerbau lebten, gab es dort auch karibische Stämme, die mit Vorliebe Streit suchten und auf Raub ausgingen. Besonders gefährlich für ihre Nachbarn waren die Akawois und die Karibisen, die beide in der Nähe der Küste ihr Unwesen trieben, während die Makuschis und die Arekunas, auch Taulipangen genannt, weiter im Innern des Landes hausten, zum Teil im Urwald, zum Teil bereits in den Llanos. Das Verhalten der Holländer gegenüber den Indianern war sehr unterschiedlich gewesen; zeitweise hatten sie sich gut mit ihnen vertragen, dann wieder waren sie in Kämpfe mit ihnen verwickelt. Als aber der Mangel an Sklaven auf den Plantagen immer spürbarer geworden war, hatten sie sich mit den kriegerischsten karibischen Stämmen verständigt und sie in einem Abkommen verpflichtet, ihnen Gefangene, also Sklaven, zuzubringen. Die wilden Horden wurden von den Holländern mit Waffen versehen und unternahmen verwegene Überfälle auf die benachbarten Stämme. Die Akawois gingen im Westen und im Norden auf Sklavenjagd, wobei sie bis an den Orinoko kamen; im Westen und im Süden drangen die Karibisen bis an den Rupununi und an den Oberlauf des Essequibo vor. Manche Gebiete hatten sie bereits in unbewohnte Wildnis verwandelt. Überall, wo sie auftauchten, säten sie Schrecken und hinterließen Blut und Tränen; alle, die lebend in ihre Hände gerieten, schleppten sie als Sklaven auf die Plantagen der Holländer. „Und wie lange wüten sie bereits so?” fragte ich. „Schon viele, viele Jahre. Aber in der letzten Zeit ist es besonders schlimm.” „Setzen sich die Überfallenen nicht zur Wehr? Lassen sie sich abführen wie verängstigte Hirschkälber? Haben sie keine Keulen, Speere und Pfeile?” „Die haben sie, doch sind die anderen geübter im Kriegführen, schneller und gewandter im Blutvergießen; denn die überfallenen Stämme befassen sich mit Ackerbau und Fischfang, so wie wir, und sind nicht so grausam. Die Akawois verstehen es besser, die Waffen zu gebrauchen, zumal sie von den Holländern Feuerwaffen erhalten haben. Wer sollte ihnen da gewachsen sein?” „Und ihr habt nicht mit ihnen gekämpft?” „Wir haben gekämpft, aber sie waren stärker. Es ist ärgerlich, das zugeben zu müssen, doch war es so. Ein Teil unserer Krieger wurde getötet, die übrigen wurden in die Sklaverei verschleppt. Jetzt kann uns nur noch die Flucht retten.” „So schlimm ist es? Dann sind also die Feinde bedeutend zahlreicher als ihr?” Oronapi versicherte, daß sie bestimmt zahlreicher seien, doch Jekuana und Fujudi widersprachen und erklärten, daß die Aka-wois ihre Raubzüge meistenteils in kleinen Gruppen durchführten, die kaum zwanzig Krieger zählten. Entscheidend seien ihre katzenartige Gewandtheit und unermeßliche Blutgier, denen man nichts entgegenzusetzen habe. „Wurden die Arawaken am Itamaka auch schon überfallen?’ wollte Manauri wissen. „Bisher noch nicht’, antwortete Fujudi, „doch sind in der letzten Trockenzeit einige unserer Jäger auf geheimnisvolle Weise verschwunden, als sie in den Itamakabergen auf der Jagd waren. Später erfuhren wir, daß sich zu dieser Zeit eine Bande Akawois in der Nähe aufgehalten hatte.” „Die Trockenzeit hat bereits begonnen”, ergriff Oronapi wieder das Wort. „Von Tag zu Tag regnet es weniger, der Wasserspiegel der Flüsse sinkt. Das ist die geeignete Zeit für Raubzüge. Wir haben Nachrichten erhalten, daß sich die Akawois am Cuyuni auf einen Raubzug in unser Gebiet vorbereiten.” „Vielleicht sind sie bereits unterwegs?” „Auch das ist möglich.” Kaum hundert Schritt hinter den letzten Hütten begann der dichte Urwald. Die Felder der Bewohner Kaiiwas lagen also irgendwo anders. Wie leicht konnte sich der Feind unter solchen Bedingungen im Dickicht anschleichen und das Dorf überraschend angreifen. „Hast du Späher ausgesandt, Oronapi?” fragte ich. „Was meinst du?” erwiderte er verwundert. Der Oberhäuptling hatte keine Ahnung davon, daß in unruhigen Zeiten Kundschafter ausgeschickt werden, und als ich es ihm endlich klargemacht hatte, schüttelte er den Kopf, zuckte die Achseln und sagte: „Nein!” „Es ist aber notwendig, daß du Posten aufstellst”, riet ich ihm. „Meinst du?” brummte er und war immer noch nicht überzeugt. Es wurde fröhlich weitergeschmaust, aber Sicherungsmaßnahmen wurden nicht getroffen. Als ich die Berichte über die Akawois hörte, kamen mir die kriegerischen Irokesen Nordamerikas in den Sinn. Die Akawois konnte man nach all dem, was ich gehört hatte, wohl als die Irokesen des Südens bezeichnen. Am meisten mußte ich mich über den unbegreiflichen Leichtsinn unserer Gastgeber wundern, die durch ihre Unachtsamkeit das Schicksal geradezu herausforderten. An diesem Tag wurde zwischen Oronapi, Manauri und mir ein Bündnis geschlossen. Wir gaben gegenseitig die feierliche Versicherung ab, daß wir uns in jeder Gefahr beistehen wollten. Zur Besiegelung des Bündnisses schenkte uns Oronapi zwei Boote, ein großes, eine Itauba, so genannt nach dem Baum, aus dessen Stamm es ausgebrannt wird, und ein Jabota, ein kleines Boot aus Baumrinde, damit wir schneller zu Hilfe eilen könnten, wenn es notwendig sei. Ich überreichte dem Oberhäuptling einen noch reicher verzierten spanischen Degen, als ihn Jekuana erhalten hatte. Außerdem überließen wir ihm eines der spanischen Boote. Die Nacht verbrachten wir in Kaiiwa, doch ordnete ich vorsichtshalber an, daß alle Gefährten auf dem Schoner schlafen mußten und Wachen ausgestellt wurden. Unser Schiff war uns schon längst zum treuen Freund geworden: es war unsere kleine Festung, unser zuverlässiger Beschützer. Als ich in der Nacht aufwachte, kontrollierte ich die Wache. Leider mußte ich feststellen, daß der Indianer, der unseren Schlaf bewachen sollte, selbst schlief. Genausofest schliefen alle Einwohner von Kaiiwa, nur die Hunde ließen ab und zu ein kurzes Bellen hören, und der Urwald veranstaltete wie üblich seinen nächtlichen Spektakel. Sobald am Morgen die Flut einsetzte und das Wasser des Flusses zu steigen begann, setzten wir unsere Fahrt fort. Die Warraulen winkten uns vom Ufer aus herzlichen Abschied zu. Der Stammeshäuptling und der Zauberer AIs ich noch ein Kind war, erzählte mir meine Mutter von dem griechischen Helden Odysseus, der lange auf den Meeren umherirrte, bis er endlich ins Vaterland zurückfand. So wie dieser Odysseus erschienen mir jetzt meine arawakischen Gefährten, die nach vielen Jahren aus der Sklaverei zu ihren Familien zurück-kehrten. Alle waren sie von der Vorfreude des baldigen Wiedersehens erfüllt und weilten in Gedanken bei ihren Verwandten und Freunden. So mancher war auch nachdenklich gestimmt.  Am zweiten Tage nach der Abreise aus Kaiiwa kamen wir zu einer letzten gemeinsamen Aussprache zusammen. Ich sprach möglichst wenig. Dafür führte Manauri das große Wort; er litt ja auch am meisten unter der Unsicherheit des Morgen. Es fiel ihm nicht schwer, seine Zuhörer davon zu überzeugen, daß das in Gestalt der grausamen Akawois von Süden her drohende Unheil schon bald über die Ufer des Orinoko hereinbrechen könne. Der beste Beweis dafür seien nicht nur die Warnungen der Warraulen, sondern auch ihr freundschaftliches Verhalten uns gegenüber. Welche Schlußfolgerungen ergäben sich daraus für uns? Wir müßten zusammenhalten wie bisher und dürften einander nicht im Stich lassen. Wir müßten uns wie eine Familie fühlen, um so mehr, da der Ruhm des siegreichen Kampfes mit den Spaniern uns allen gemeinsam gebühre und uns die Kunde vorauseile, daß wir im Besitz unbesiegbarer Waffen seien. Die Worte Manauris fielen auf fruchtbaren Boden. Der Gedanke, sich zu einer Sippe zusammenzuschließen, der selbstverständlich auch die am Itamaka lebenden Blutsverwandten angehören sollten, wurde freudig begrüßt. „Aber welches Zeichen soll die Sippe haben?” „Es soll die Sippe des Seglers sein!” rief jemand. „Unsinn!” widersetzte sich der Häuptling. „Unsere Sippen tragen alle Tiernamen.” „Es gibt nur einen guten Namen”, warf Arasybo ein. „Die Sippe des Jaguars.” „Auch das ist unmöglich.” Manauri schüttelte den Kopf. „Die Sippe des Jaguars gibt es bereits. Ihr Haupt ist Koneso, unser Oberhäuptling.” „Ich weiß, war wir tun”, schaltete sich Arnak ein. „Wir nennen unsere Sippe die des Weißen Jaguars.” „Das ist der beste Vorschlag”, stimmte Arasybo eifrig zu. Die Indianer blickten mich fragend an, denn sichtlich hing der Name Weißer Jaguar eng mit meiner Person zusammen. Ich hatte nichts dagegen. Von mir aus sollten sie ihre Sippe nennen, wie sie wollten, die Hauptsache war, daß es ihnen selbst und dem ganzen Stamm zum Nutzen gereichte. „Auf jeden Fall wird es von Nutzen sein!” schrie Arasybo. Auch die anderen teilten die Meinung des Hinkenden, denn ähnlich wie Manauri wußten auch sie nicht genau, was sie am Itamaka erwarten würde, während unsere Gruppe eine herzliche und allen Anzeichen nach auch dauerhafte Gemeinschaft darstellte. Und doch war einer auf dem Schoner, der ein finsteres Gesicht machte und über das Geschehen die Nase rümpfte — es war Fu-judi. Da er erst wenige Tage auf dem Schiff weilte, würde er aller Voraussicht nach nicht der Sippe angehören. Mit scharfen Worten, in denen ein fast drohender Unterton lag, warnte er, daß diese Art, eine neue Sippe zu gründen, die durch Generationen bewährte Ordnung und Einheit ihres alten Stammes gefährden könnte. „Ihr werdet nur den Zorn der Ältesten auf euch laden”, ermahnte er mit strenger Miene. „Koneso wird es nicht billigen, schon gar nicht, wenn der Name dem seiner Sippe so ähnlich ist.” „Es ist ein guter Name!” schrie Arasybo dazwischen und machte ein hochmütiges Gesicht. Fujudi bedachte ihn mit einem langen, durchdringenden Blick und zischte dann giftig: „Du Sohn eines Kaimans solltest besser schweigen. Glaube nicht, daß deine Taten vergessen sind!” Diese Worte machten einen unerwarteten Eindruck auf den Hinkenden, sie trafen ihn wie ein Peitschenschlag. Einen Augenblick saß Schrecken in seinen schielenden Augen, und sein ganzer Körper schien zusammenzuschrumpfen. „Was für Taten hat er begangen?” fragte Manauri. „Ach!” Fujudi machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wozu soll man davon sprechen. Es ist besser, sich nicht daran zu erinnern.” „Was du begonnen hast, sollst du auch vollenden”, drängte ihn der Häuptling. „Er ist ein Unruhestifter, ein Hetzer und Raufbold”, sagte Fujudi anklagend und wies mit dem Finger auf Arasybo. „Erkläre uns das näher!” Das Vergehen Arasybos war schwer. Er habe die heiligsten Bräuche geschändet. Als er noch mit den Arawaken unter dem Geierberg lebte, habe er sich dem Spruch, den der Zauberer Kara-pana gegen seine Familie gefällt hatte, nicht fügen wollen, habe sich den Anordnungen des Zauberers widersetzt und dessen Ansehen untergraben. Dieser wahnsinnige Verleumder sei nicht einmal davor zurückgeschreckt, Karapana zu beschimpfen, daß er ein schwacher Zauberer sei. Nur dem Vorfall mit dem Kaiman und seinem Gebrechen habe er es zu verdanken, daß er nicht zum Tode verurteilt, sondern nur unter dem Geierberg zurückgelassen worden sei. Entsetzt und voller Erstaunen, daß dieser unbeholfene arme Kerl solch einer verwegenen Tat fähig sein sollte, blickten alle auf Arasybo. „Stimmt das?” wandte Manauri sich an den Hinkenden. „Es war so”, brummte dieser, doch konnte man an seinen trotzigen Augen erkennen, daß er sich nicht schuldig fühlte. „Vielleicht war der Zauberer ungerecht zu ihm?” brachte ich zu Arasybos Verteidigung vor. Meine Worte verhallten, ohne von jemandem beantwortet zu werden, ja, ich wußte nicht einmal, ob sie überhaupt beachtet worden waren. Offenbar galt das Ansehen des Zauberers als unantastbar, und über seine Gerechtigkeit durfte kein Urteil gefällt werden. „Ich wüßte nicht, warum eine neue Sippe den Zorn der Ältesten hervorrufen sollte”, sagte Manauri, an den von Fujudi vorgebrachten Vorwurf anknüpfend. „Koneso liebt solche Dinge nicht’, antwortete Fujudi kurz. „Er liebt sie nicht?” „Vielleicht erkennt er sie auch nicht an.” Ungeduldig biß sich der Häuptling auf die Lippe, sein Blick verfinsterte sich. Schließlich sagte er: „Aber er wird anerkennen müssen, daß wir zurückgekehrt sind.” „Das ohne Zweifel.” „Auch daß wir eine Reihe von Jahren in der Sklaverei waren.” „Auch das.” „Er wird anerkennen müssen, daß wir in der Welt manches gesehen und viel Neues kennengelernt haben, daß unser böses Schicksal uns gelehrt hat, zu überlegen. Er wird auch verstehen müssen, daß wir härter, klüger und weniger furchtsam geworden sind.” Was Manauri hier vorbrachte und wie er es tat, war nicht dumm; man merkte, daß der Häuptling genau wußte, was er wollte. Beifällig folgten die Gefährten seinen Worten, Fujudi dagegen hörte ihn mit herausfordernder Miene an. Es entstand ein Schweigen, das Fujudi erst nach einer Weile unterbrach: „Und wer soll das Haupt eurer Sippe sein?” Manauri und einige andere sahen zu mir hin. „Nein, ich nicht.” Mit diesen Worten lehnte ich von vornherein ab. „Ich werde euch in kurzer Zeit verlassen und nach Süden zu den englischen Faktoreien fahren. Es ist ganz klar, daß Manauri euer Führer sein wird.” Der Fluß hatte hier keine Ufer; der Urwald bildete zu beiden Seiten sogenanntes Bruchmoor, das für den menschlichen Fuß unpassierbar ist. Meilenweit ragten die Bäume unmittelbar aus dem Wasser auf oder standen auf wasserdurchtränkten Mooshügeln, nur selten zeigte sich ein trockener Werder. Der Gestank faulen-der Pflanzen, der aus dem Sumpf herüberwehte, war zeitweise so betäubend, daß mir übel wurde. Hier zu leben war einfach unvorstellbar. Und doch brodelte in dieser verlorenen Wildnis überschäumendes tierisches Leben — der Wald wimmelte von Vögeln, und Myriaden von Insekten summten in der schwülen Luft. Hier bemerkte ich zum erstenmal ganz außergewöhnliche Schmetterlinge. Sie waren so herrlich, daß ich meinen eigenen Augen nicht trauen wollte. Strahlend blau wie der Himmel und groß wie zwei Handflächen, flatterten sie aus dem Dickicht empor und kreisten über unserem Schiff. Etwas Zauberhaftes ging von ihnen aus und gaukelte dem Menschen ein blaues, glückliches Märchenland vor. Die Indianer verstärkten diesen Zauber noch, indem sie behaupteten, daß manche Schmetterlinge Waldgeister seien, die den Menschen oft böse Streiche spielten. Ich aber konnte keine Boshaftigkeit mit solcher Schönheit in Verbindung bringen und lächelte über das Geschwätz der Freunde. Die machtvolle Größe der uns umgebenden Natur legte sich drückend auf die Gemüter. Der Urwald in seiner unheilverkündenden Majestät wirkte so gewaltig, daß die menschlichen Sorgen klein und nichtig erschienen und in seinem Schatten untergingen, so wie das Licht einer Kerze in gleißender Sonnenflut verschwindet. Eines Tages tauchten weit im Süden langgestreckte bewaldete Hügel auf, es waren die Ausläufer des großen Höhenzuges, den Pedro als Sierra Imataka bezeichnet hatte. Diese von Westen nach Süden verlaufende rund fünfhundert Meilen lange Hügelkette bildete eine Barriere, hinter der im Süden die Wasser des berüchtigten Cuyuni flossen. Allein der Anblick dieser fernen Berge ließ uns erleichtert aufatmen; denn dort gab es bestimmt keine qualbringenden Sümpfe. Die arawakischen Dörfer lagen einige Meilen oberhalb der Mündung des Itamaka in den Orinoko. Wir hatten die Mündung noch lange nicht erreicht, da boten uns die immer noch etwas sumpfigen Ufer eine neue, frohe Überraschung. Aus dem Röhricht und aus kleinen Buchten schossen Boote her-vor und ruderten auf uns zu. Die Kunde von unserer Ankunft war uns vorausgeeilt, und die Arawaken kamen, um ihre heimkehren-den Brüder willkommen zu heißen. Väter suchten ihre Söhne, und Brüder begrüßten Brüder. Viele erklommen den Schoner, der bald von fröhlichem Lärmen erfüllt war. Mir näherten sich die Arawaken nur sehr zaghaft. Sie wagten es kaum, die Augen zu mir zu erheben, und wenn sie es taten, so spiegelte sich Scheu in ihrem Blick, als hätten sie ein überirdisches, Wesen vor sich. Erst als sie merkten, daß auch ich ein Mensch wie alle andern war und freundschaftliche Gefühle für sie hegte, wurden sie kühner. „Sie sprechen davon, daß du eine Menge Schätze mitführst”, erklärte mir Manauri lachend. Der Häuptling strahlte vor Freude. Er fühlte, daß er während der unglücklichen Jahre bei seinen Stammesbrüdern nicht in Vergessenheit geraten war. Alle, die auf das Schiff kamen, erkannten ihn sofort und begrüßten ihn achtungsvoll. Nur eines bereitete ihm Kummer: daß sein Bruder Pirokaj, der jetzige Häuptling seiner Sippe, nicht gekommen war, um ihn willkommen zu heißen. Dieser Pirokaj war — wie mir Manauri öfter erzählt hatte — ein von Neid und Mißgunst geplagter Mensch. Übrigens kam keiner der Stammesältesten auf unseren Schoner, es waren lauter einfache Menschen und Krieger, die uns so herzlich und überschwenglich begrüßten. Seit unserer Abreise von Kaiiwa waren vier Tage verflossen, als wir das Dorf Konesos erreichten. Der Ort hieß Serima, lag auf dem trockenen Ufergelände des Itamaka und war von herrlichem, hochstämmigem Urwald umgeben. Dieser letzte Tag unserer großen Fahrt war äußerst schwül. Kein Blättchen regte sich, und die Sonne verschwand hinter einem Vorhang feuchten Dunstes. Meine Gefährten nötigten mich wieder in die spanische Galauniform; sie selbst zogen spanische Hemden und Hosen über, legten sich Degen um und steckten erbeutete Jagdmesser in ihre Gürtel. So boten sie einen zwar absonderlichen, aber entschieden prachtvollen Anblick. Es fiel mir auf, daß die sonst so ausgeglichene Lasana an diesem Tag recht aufgeregt war. Sie hatte bereits versucht, ein Gespräch mit mir zu beginnen, doch war im Durcheinander der Vorbereitungen für die Ankunft und im Begrüßungslärm der letzten Stunden eine Unterhaltung nicht möglich. Auf jeden Fall hatte sie ein Anliegen, das erkannte ich aus den Blicken, die sie mir zuwarf. „Was hat denn Lasana?” fragte ich Arnak. „Wahrscheinlich eine der üblichen Weibergrillen”, sagte der Bursche und zuckte die Achseln. „Irgend etwas beunruhigt sie.” „Was kann das sein?” Arnak hatte keine Ahnung. Da die junge Frau in der Nähe stand, ließ ich sie herbeirufen. „Was bedrückt dich, Zauberpalme?” fragte ich ohne Umschweife. „Fehlt dir etwas?” „Mir fehlt nichts...” Die Indianerin wurde verlegen und sah noch hübscher aus als sonst. Sie blickte zur Seite und versuchte ihre großen Augen unter den langen Wimpern zu verbergen. „Oder hast du Furcht vor irgend etwas?” „Ja, ich befürchte etwas”, bekannte sie offenherzig. „Alle freuen sich, nur du hegst Befürchtungen? Das ist merkwürdig”, tadelte ich sie scherzhaft. „Und Manauri?” erwiderte sie und zog trotzig die Mundwinkel nach unten. „Ob der sich auch freut?” „Das ist etwas ganz anderes! Er ist Häuptling und hat seine Sorgen. Du aber bist eine junge Frau.” „Eben, ich bin eine junge Frau! Das ist es ja”, wiederholte sie mit einer gewissen Verbitterung. „Und keine häßliche”, schmeichelte ich ihr und umfing sie mit meinen Augen. Doch diesmal war Lasana zum Necken nicht aufgelegt, es war ihr wirklich schwer ums Herz. „Wovor hast du denn Angst?” fragte ich sie. „Vor dem Land”, antwortete sie. „Vor dem Stamm! Vor dem Recht des Stammes. . . vor der Trennung!” Das klang etwas rätselhaft, doch war jetzt weder Zeit noch Gelegenheit, die Zusammenhänge der indianischen Bräuche näher zu erklären. Auch war es möglich, daß sich Lasana vor Arnak, der unser Gespräch übersetzte, darüber nicht aussprechen wollte. „Jan!” sprach sie plötzlich mit fast feierlicher Stimme und blickte mir ernst in die Augen. „Erinnerst du dich noch, wie du unsere Freunde, die Neger, in Schutz genommen hast, als die Spanier sie in die Sklaverei verschleppen wollten?” „Natürlich, es war in den Llanos.” „Damals sagtest du, daß sie unter deinem Schutz ständen und die Spanier sie nicht anrühren dürften. . . Jan! Nimm jetzt mich unter deinen Schutz!” „Dich, Lasana?” „Ja, Jan. Du, der Mann, nimm mich, die Frau, unter deinen Schutz!” Sie sagte diese Worte so einfach und so herzlich, daß ich am liebsten hellauf gelacht hätte. Es war eine heikle Angelegenheit, was sie da verlangte, und doch durfte ich ihr die Bitte jetzt nicht abschlagen. Ich erklärte mich daher bereit: „Einverstanden, Zauberpalme! Ab heute stehst du unter meinem Schutz.” Der Itamaka ist kein sehr breiter, dafür aber tiefer Fluß, in dem sich die Gezeiten des fernen Ozeans noch bemerkbar machen. Wir konnten mit dem Segler bis auf wenige Meter ans Ufer heranfahren, worauf vom Land aus einige Baumstämme über die Bordkante geschoben wurden, so daß ein Laufsteg entstand, über den wir das Schiff verließen und auch unser Pferd ans Ufer brachten. Serima war keine zusammenhängende, dicht bebaute Siedlung. Nach der Gewohnheit der hiesigen Indianer standen die einzelnen Hütten in großer Entfernung voneinander. Unser Landeplatz lag ungefähr in der Mitte des Dorfes. Koneso, der reichen Federschmuck angelegt und verschiedene Schnüre mit Beeren, den Perlen des Waldes, umgehängt hatte, erwartete uns im Schatten eines mächtigen Baumes, umgeben von den Ältesten des Stammes. Alles sah so ähnlich aus wie beim Empfang durch Oronapi und Jekuana. Nachdem wir ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, fiel mir auf, daß neben Koneso, der in seinem Häuptlingssessel thronte, ein zweiter Indianer saß, während die übrigen Stammesältesten wie üblich standen. Besonders aber beunruhigte mich der Umstand, daß ich nirgends Sitzgelegenheiten für die Gäste entdecken konnte. Wollte uns Koneso etwa stehen lassen, während er saß? „Arnak, siehst du das?” flüsterte ich. „Es sind keine Schemel da.” „Ich sehe es.” „Was sollen wir tun?” „Wir können stehenbleiben, Koneso soll herkommen.” „Er würde nicht kommen... Wir machen etwas anderes! Auf dem Schiff befinden sich doch Hocker. Wagura! Laufe zum Schoner zurück und bringe zwei Schemel, aber schnell!” Wagura begriff, worum es sich handelte, und rannte davon. „Wer ist der Alte neben Koneso?” fragte ich Manauri, als wir langsam weitergingen. „Das ist der Zauberer Karapana.” „Seine Stellung ist so einflußreich, daß er sitzen darf?” „Er ist Konesos rechte Hand und dessen Verstand. Im ganzen Stamm geschieht nichts ohne seinen Willen.” Nach dem indianischen Zeremoniell erwartet der Gastgeber die Gäste sitzend, ist aber verpflichtet, bei der Begrüßung aufzustehen. Koneso tat dies nicht. Er blieb sitzen, betrachtete uns aufmerksam und hüllte sich in beharrliches Schweigen. Tatsächlich waren für uns weder Schemel noch andere Sitzgelegenheiten bereitgestellt worden. Die abweisende Art und das flegelhafte Benehmen des Oberhäuptlings und seines Gefolges machten einen peinlichen Eindruck und wirkten gleichzeitig lächerlich, da sie in so krassem Gegensatz zu der überströmenden Herzlichkeit standen, mit der die Mehrzahl der Untergebenen Konesos die zurückkehrenden Stammesbrüder begrüßt hatte. In diesem Augenblick kam Wagura zurück. Flüsternd berichtete er, daß er in der Eile nur einen Schemel gefunden habe. Ich überlegte nicht lange, schob Manauri den Hocker hin, warf mit einer schnellen Bewegung das Jaguarfell ab, zog die Kapitänsjacke aus und bedeutete Arnak, daß er mir aus all dem eine gute Sitzgelegenheit herrichten solle. Gebannt und nicht ohne Schrecken beobachteten die Stammesältesten diesen Vorgang. Wahrscheinlich vermuteten sie dahinter eine symbolische Handlung, genau wie damals im Dorf Jekuanas, und waren von dem Gedanken beunruhigt, was für eine magische Kraft mir wohl innewohne. Sollte sie selbst die Macht des Jaguars übertreffen? Der umsichtige Manauri wußte genau, warum er immer wieder verlangte, daß ich die Trophäe tragen solle! Koneso war in mittleren Jahren, von stattlichem Wuchs und erschien mir größer und muskulöser als die übrigen Arawaken. Sein Gesicht drückte Anmaßung und Aufgeblasenheit aus. Was aber am meisten daran auffiel, ja geradezu ins Auge stach, war der Stempel niederer Sinnenlust. Sein wulstiger Mund wirkte abstoßend, und die Augen blickten begehrlich. In diesem Augenblick allerdings konnte weder die hochmütige Aufgeblasenheit noch die Sinnesbegierde die Unsicherheit verbergen, die der Oberhäuptling in der Tiefe seiner Seele empfand. Eine ganz andere Erscheinung war der Zauberer Karapana. Er zählte viele Jahre, sein Gesicht war von tiefen Falten und Runzeln durchzogen, doch die Augen blickten erstaunlich scharf und jung. Er saß aufrecht auf seinem Schemel, ließ die Hände auf den Knien ruhen und machte nicht die geringste Bewegung. Man konnte glauben, die Statue eines Waldgottes vor sich zu haben. Nur die schlauen Augen, die uns zu verschlingen schienen, wan-derten von einem zum andern und bohrten sich geradezu in uns hinein, als ob sie uns durchdringen wollten. Dieser Mann machte einen düsteren, unergründlichen Eindruck. Man fühlte, daß er zu allem fähig war und leichten Herzens kaltblütig jeden aus dem Wege räumen würde, der es wagen wollte, gegen seinen Willen zu handeln. Nicht ohne Grund fürchteten ihn die Arawaken wie die Pest. Auf der anderen Seite Konesos stand ein kleiner, schmächtiger Häuptling mit lebhaften Augen. Er verschwand fast unter der Pracht seines Schmuckes aus bunten Streifen und Vogelfedern. Offensichtlich sollte dieser reiche Aufputz die Unansehnlichkeit seiner Gestalt heben. Es war Pirokaj, der Bruder Manauris, jener gefährliche Intrigant. Er sah jetzt seinen Bruder an, doch konnte man aus seinem Blick nicht gerade Freude herauslesen. Eine ganze Zeitlang fiel kein Wort, wir saßen und starrten uns an. Endlich räusperte sich Koneso und öffnete den Mund. Doch anstelle blumenreicher Begrüßungsworte, an die ich mich bei den Indianern bereits gewöhnt hatte, bekamen wir nur eine gleichgültige, heisere Frage zu hören, die weder an Manauri noch an mich gerichtet war. Der Häuptling murmelte: „Seid ihr müde?” Ausgerechnet das schien ihm in diesem Augenblick das Wichtigste zu sein? Der Schlag sollte ihn treffen! „Nein”, gab Manauri mürrisch zur Antwort. „Oder hungrig?” fragte Koneso weiter. „Nein”, wiederholte mein Gefährte. Da der Oberhäuptling keine Anstalten traf, gesprächiger zu werden, hatten auch wir keinen Grund, unbedingt die Höflichkeit zu wahren. Ich sagte daher: „Ich bin hungrig! Alle, die angekommen sind, haben Hunger!” Kaum hatte Arnak meine Worte übersetzt, als Koneso den etwas abseits stehenden Frauen auftrug, Speise und Trank herbeizuschaffen. „Du hast mich schlecht verstanden, Häuptling”, sprach ich betont. „Ich hatte eine andere Nahrung im Sinn.” „Welche?” „Herzliche Worte der Begrüßung.” Koneso ließ sich nicht im geringsten aus der Fassung bringen. „Haben euch meine Leute nicht willkommen geheißen und haben sie keine herzlichen Worte gefunden?” antwortete er angriffslustig. „Sind sie euch nicht entgegengefahren und haben euch begrüßt wie Brüder?” „Sie haben uns sehr herzlich begrüßt, aber du hast es nicht getan.” „Ich habe noch Zeit genug”, brummte er und wandte sich mißgelaunt den Frauen zu, die Körbe mit Speisen brachten und große Krüge mit dem unentbehrlichen Kaschiri. Er wachte darüber, daß allen gerecht zugeteilt wurde, uns, den dreißig Gästen, und seinem Gefolge, den Stammesältesten. Mit verdrießlichem Gesicht trank er Manauri und mir zu, und das Mahl begann. Doch welcher Unterschied zu dem fröhlichen Schmausen bei den gastfreundlichen Warraulen! Hier war alles gedämpft, gleichsam unter Zwang, es fehlten die freundlichen Zurufe und das befreiende Lachen. Der Zauberer nahm weder Speise noch Trank zu sich, unbeweglich saß er auf seinem Schemel und rauchte aus einer langen Bambusrohrpfeife. Dabei ließ er beharrlich seinen kühlen, leidenschaftslosen Blick auf uns ruhen, als ob er unseren Gesichtern ein unsichtbares Siegel aufdrücken wolle. Der hinkende Arasybo fürchtete diesen Blick und hockte sich hinter meinem Rücken nieder; doch erreichten ihn die Augen Karapanas auch dort. Einer Aufforderung Konesos nachkommend, sprach Manauri von den Ereignissen in der Sklaverei, über die Flucht von der Insel Margarita und über alles, was sich sonst noch zugetragen hatte. Seine Erzählung währte lange. Die dicht herandrängenden Indianer hörten mit verhaltenem Atem zu, selbst die Stammesältesten zeigten etwas Mitgefühl, wenn sie auch ihre Zurückhaltung uns gegenüber nicht aufgaben. Als Manauri seinen Bericht beendet hatte, trat Schweigen ein, das erst nach geraumer Zeit von Koneso unterbrochen wurde. Mit unheilvoll blitzenden Augen wandte sich der Oberhäuptling an Manauri und mich und sprach mit harter Stimme: „Mit welcher Absicht seid ihr hierhergekommen? Das erzählt uns jetzt!” Dieser plötzliche Ausbruch von Feindseligkeit und die unverständliche Frage kamen so unerwartet, daß wir nicht wußten, was wir antworten sollten. „Was führt ihr im Schilde?” fuhr uns Koneso an. Ich bemerkte, daß Manauri nach diesen Worten von mächtigem Zorn erfaßt wurde. Die Wangen färbten sich dunkler, seine Züge verkrampften sich, daß er kaum mehr zu erkennen war, und in den Augen glimmte ein Ausdruck von Wildheit wie bei einem Raubtier. Doch verlor er seine Selbstbeherrschung nicht, machte keine unbeherrschte Bewegung und bändigte seinen Zorn. Langsam, mit gepreßter Stimme, antwortete er: „Wie kannst du uns so verleumden? Wir führen nichts im Schilde! Merke dir das, Koneso! Wir sind als Brüder zu Brüdern gekommen. Unsere Absichten sind rein.” „Rein?” „Kannst du daran zweifeln? Wo bleibt deine Überlegung?... Ja, unsere Absichten sind rein.” Koneso brach in haßerfülltes Lachen aus. „Und was hat sich bei den Warraulen abgespielt? Oder willst du das etwa Ieugnen?” fragte er dann. „Was, zum Teufel, soll sich dort abgespielt haben?” „Du leugnest also, daß ihr euch verschworen habt?’ „Verschworen? Die Warraulen haben uns gastfreundlich aufgenommen.” „Und dieses niederträchtige Bündnis, das ihr geschlossen habt?” „Ein niederträchtiges Bündnis?’ „So ist es, Manauri, ein niederträchtiges Bündnis gegen mich, zu meinem Verderben, um mit Hilfe der Warraulen Unfrieden im Stamm zu säen.. Nun war es Manauri doch zuviel. Er stand auf, ging langsam, wie mit lauernden Schritten, auf den Oberhäuptling zu, neigte sich etwas zu ihm herab und schleuderte ihm in verachtungsvoller Empörung die schimpflichen Worte ins Gesicht: „Koneso, dir haben die Würmer den Verstand zerfressen! Obwohl du wenig gastfreundlich bist und mit dem Kaschiri für uns und für dich knauserst, obwohl du also noch nicht viel getrunken hast, redest du so einen Unsinn, als ob du nicht mehr zurechnungsfähig wärest!” Allgemeine Bestürzung herrschte ringsum. Zwar besaß der Oberhäuptling bei den südamerikanischen Stämmen meistens keine absolute Macht, war nicht Herr über Leben und Tod der Angehörigen des Stammes, sondern herrschte nur dann über sie, wenn sie seinen Mut und seinen Verstand anerkannten; trotzdem konnten die beleidigenden Worte Manauris unberechenbare Folgen haben, ja geradezu eine Katastrophe herbeiführen. Koneso brauchte nur sein bis an die Zähne bewaffnetes Gefolge auf uns zu hetzen, so wären wir mit einem Schlag niedergeworfen worden, denn keiner von uns hatte Waffen bei sich. Im stillen sagte ich mir, daß Manauri den Bogen überspannt habe. Zum Glück kam es zu, keinem Kampf. Koneso unternahm nichts, sondern blieb weiterhin ruhig sitzen. Vielleicht befürchtete er, daß ein Teil des Stammes uns günstig gesinnt war? Vielleicht neigte er auch von Natur aus nicht zu Gewalttaten? Auf jeden Fall aber mußte der Streit so schnell wir möglich beigelegt werden, es durfte nicht zum Äußersten kommen. Ich hegte den Verdacht, daß Manauri den Zank absichtlich verschärfte, um sich von seinem Einfluß im Stamm zu überzeugen, und daß er Koneso deshalb eine so scharfe Antwort auf dessen Flegelhaftigkeit gegeben hatte. Sollte dies der Zweck seines Handelns gewesen sein, so hatte er sein Ziel erreicht und sichtlich die Oberhand gewonnen. Wie dem auch war, die heißen Köpfe mußten abgekühlt werden. Ich sprang daher auf und bat, etwas sagen zu dürfen. Von Arnak und Wagura tatkräftig unterstützt, konnte ich mir nach einiger Zeit Gehör verschaffen. „Ich bin ein Freund Manauris”’, rief ich mit schallender Stimme, „doch will ich genauso ein guter Freund Konesos, Karapanas und Pirokajs sein!” Ich erklärte dann, wie wir durch die harten Prüfungen, das erduldete Leid und die gemeinsamen Kämpfe einander nähergekommen waren und wie ich meine Gefährten, die Arawaken und die Neger, aufrichtig schätzengelernt hatte. Sie hatten meine Achtung in so hohem Maße gewonnen, weil ich bei ihnen die gleichen guten Eigenschaften des Denkens und des Herzens entdeckte, die mir selbst soviel bedeuteten — die Ehrlichkeit und die Treue. „In meinem ganzen Leben ist mir noch keine Lüge über die Lippen gekommen, und deshalb mußt du, Koneso, es mir glauben, wenn ich dir versichere, daß wir alle mit reinen Gedanken hierhergekommen sind, als Brüder zu Brüdern, und daß das Bündnis, das uns von den Warraulen angeboten wurde, nicht gegen dich als Oberhäuptling gerichtet ist.” „Wozu habt ihr es dann abgeschlossen?” knurrte Koneso. „Weißt du denn noch nicht, was von Süden her droht? Sind nicht arawakische Jäger während der letzten Trockenzeit spurlos verschwunden?” Koneso wußte genau, welche Gefahr von den Akawois drohte, und auch die anwesenden Arawaken kannten die Gefahr, weshalb ein Gemurmel des Verstehens durch die Reihen lief. „Die Warraulen leben nicht nur am Orinoko”, fuhr ich fort, „ihre Siedlungen ziehen sich weit nach Süden hinunter, und sie sind schon öfter von den Akawois überfallen worden. Kann man sich da wundern, daß sie uns zu Verbündeten haben wollten, als sie von unseren Taten hörten und unsere Leute sahen? Darf man darin etwas Schlechtes sehen?” „Warum sind sie nicht zu mir gekommen, sondern zu euch?” brauste Koneso auf. „Weil wir in der Nähe waren und mit unserem Schiff an ihren Dörfern vorbeikamen. Übrigens bezieht sich das Bündnis selbstverständlich auf alle Arawaken am Itamaka, wir sind nur die Fürsprecher, welche dir, Koneso, das Bündnis mit den Warraulen überbringen.” Doch auch diese Erklärung genügte der verletzten Eitelkeit des Oberhäuptlings nicht. „Und was soll das bedeuten, daß ihr eine neue Sippe gebildet habt?” schnaubte er wütend. „Ihr wollt absichtlich einen Keil in den Stamm treiben, ihr wollt ihn spalten.. .” „Wo werden wir!” verneinte ich lebhaft. „Diese Menschen haben viele Jahre in der Sklaverei verbracht und sind einander im Unglück nähergekommen. Sie haben sich gemeinsam die Freiheit erkämpft und möchten nun auch in Zukunft als eine Sippe miteinander leben und so dem ganzen Stamm dienen. Kann man ihnen das übelnehmen?” Der Häuptling wollte nicht aufhören. Er brüllte: „Ihr seid mit allem gut versorgt! Ihr werdet die andern in eure Sippe locken! Ihr wollt einen eigenen Stamm bilden! Ihr droht...” „Höre auf, Koneso!” ließ sich plötzlich, die Worte dehnend, eine alte Stimme vernehmen; es war eine leise, unauffällige Stimme, die aber eine unglaubliche Wirkung hervorrief. Nicht nur, daß Koneso sofort verstummte, auch sein Zorn schien im Nu verraucht zu sein. Es war Karapana, der sich eingeschaltet hatte. Nach seinen Worten wurde es mäuschenstill. „Hör auf damit”, wiederholte Karapana noch einmal. „Du kläffst wie ein närrischer Hund.” Tatsächlich verstummte Koneso wie ein Hund, der Schläge bekommen hat. Seine wollüstigen Augen schauten so verblüfft drein, daß jeder merken konnte, wie ihm vor Erstaunen alle Gedanken aus dem Kopf entwichen. Er öffnete den Mund. Vielleicht wollte er, ohne sich dessen bewußt zu sein, etwas erwidern, aber Kara-pana kam ihm zuvor, indem er erklärte: „Es sind unsere Brüder. Heißt sie willkommen!” „Ja, es sind eure Brüder!” bekräftigte ich erfreut. „Gebt ihnen die Hände”, ermunterte der Zauberer die ältesten lebhaft. „Bei den Weißen ist es so Sitte, und sie haben lange unter den Weißen gelebt. Versage ihnen nicht die Hand, Koneso! Auch du nicht, Pirokaj, und ihr andern alle!” Die feindliche Stimmung war im Nu weggefegt, Vernunft und Herzlichkeit trugen den Sieg davon. Die Ältesten kamen auf uns zu, Hände wurden geschüttelt, Lachen klang auf, und freundschaftliche Worte wurden gewechselt. Viele Indianer, die abseits standen und sich über das Gehabe der Ältesten geärgert hatten, waren jetzt außer sich vor Freude. Nur Karapana, der umsichtige Urheber dieser schönen Eintracht, nahm keinen Anteil an dem Geschehen. In der seinem Alter zukommenden Würde saß er da, sog an der Pfeife und beobachtete durch die aufsteigenden Rauchschwaden hindurch scharf seine Umgebung; nur selten äußerte er ein Wort. „Wir sind neugierig, ob ihr auch für uns solche Geschenke mitgebracht habt wie für die Warraulen”, rief einer der Ältesten aus. „Natürlich haben wir Geschenke mitgebracht”, antwortete Ma-nauri bereitwillig. „Ich will einen Degen!” schrie Fujudi. „Auch ich will einen Degen!” meldete sich eilig Pirokaj, und nach ihm forderten mehrere Stimmen: „Ich auch! Ich auch!” Seit unserem Besuch bei den Warraulen schienen spanische Degen am Orinoko Mode geworden zu sein. Leider besaßen wir nur noch zwei von diesen unnützen Dingen, die wir Koneso und Pirokaj übergaben. Die übrigen nahmen mit bunten Tüchern und verschiedenen Kleidungsstücken vorlieb — so mancher tapfere Krieger zog sich eine Jacke über. Die Augen des Zauberers funkelten vor Gier, doch kam auch an ihn die Reihe: er erhielt einen pompösen Kapitänshut mit einer prächtigen Straußenfeder. Die Ältesten wurden von einem regelrechten Taumel ergriffen, möglichst viel zu besitzen, und lagen uns mit kindlicher Zudringlichkeit in den Ohren, ihnen dies oder jenes zu schenken, und zwar nicht nur ein Stück, sondern gleich mehrere. „Gib mir eine Büchse!” brüllte Koneso. „Mir auch eine!” Pirokaj eilte herbei. „Jetzt gebe ich keine Schußwaffen heraus”, antwortete ich. „Ich benötige sie noch. Später sollt ihr sie bekommen.” „Wann?” Der enttäuschte Oberhäuptling verzog die Lippen. „So gib mir den Gefangenen, diesen Spanier.” „Der ist mein Eigentum”, entschied ich. „Er bleibt bei mir!” Da seine Hoffnung abermals enttäuscht wurde, stieg Zorn in ihm auf, was der Aufmerksamkeit des Zauberers nicht entging. „Ko-ne-so!” ertönte die rügende Stimme Karapanas. Augenblicklich mäßigte sich der Häuptling, nur seine unsteten Blicke kreisten in unersättlicher Habgier. Jetzt blieben sie auf Lasana haften. Begehrend funkelten die häßlichen Augen, und die Zunge schob sich zwischen die geöffneten Lippen. In diesem Augenblick bot der Häuptling den Anblick eines eigensinnigen Kindes und eines ausschweifenden Lüstlings zugleich. Gleich darauf entdeckte er das Pferd, das etwas abseits graste. „Ich will das Pferd!” schrie er los und warf mir einen herausfordernden Blick zu. Er war fest davon überzeugt, daß ich ihm ein so wertvolles Geschenk verweigern würde. Doch hatte er sich getäuscht, denn diesmal schlug ich ihm die Forderung nicht ab, sondern erwiderte: „Das Pferd? Nimm es dir.” Koneso geriet völlig aus dem Gleichgewicht, was sich allzu deutlich auf seinem Gesicht abzeichnete. Ein Pferd war am unteren Orinoko ein äußerst seltenes Tier und sein Wert gar nicht abzuschätzen. „Ich schenke dir das Tier, aber nur unter einer Bedingung”, fügte ich hinzu. „Solange ich mich bei euch aufhalte, kann ich es benutzen, so oft ich will.” Die Andeutung, daß ich nicht für immer zu bleiben gedachte, brachte den Häuptling zur Besinnung. Forschend blickte er zu mir herüber. „Du bleibst nicht für immer bei uns?” fragte er dann mißtrauisch. „Nein. Das war nie meine Absicht’, gab ich zur Antwort. Auch Karapana lauschte dem Gespräch mit ungewöhnlicher Spannung. Er beugte sich sogar etwas vor, damit ihm ja kein Wort entgehe. „Du bleibst nicht hier?” wiederholte Koneso überrascht. „Und wann willst du uns verlassen?” „Das weiß ich noch nicht. Wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist. Vielleicht in einigen Wochen.” „Und wohin willst du gehen?” „Hast du noch nichts von den englischen Faktoreien gehört, die an der Mündung des Essequibo liegen sollen?” „Davon habe ich gehört. Dorthin willst du also?” „Ja, dorthin möchte ich, vorausgesetzt, daß ihr mir helft.” Koneso und Karapana wechselten einen flüchtigen Blick miteinander, doch konnte ich nicht feststellen, worüber sie sich verständigten. Sicher war, daß ihnen die Nachricht meines baldigen Verschwindens Freude bereitete. Sie mißtrauen mir noch immer, dachte ich. Der Tag ging langsam zur Neige, die Sonne versank bereits in den Dunstschleiern des Westens. Wie immer in den Abendstunden erwachte der Urwald zu neuem Leben, und wie er erwachte, mit welcher Leidenschaft und mit welch wundervollen Lauten! Als ich die vielen unbekannten Vogelstimmen hörte, die ihre an-mutigen Begrüßungstriller aus dem Dickicht herüberschickten, wurde ich von einer so heißen Jagdlust befallen, daß ich am liebsten aufgesprungen und mit der Büchse in den Wald gelaufen wäre. Wenn dort so viele Vögel lebten, wieviel anderes jagdbares Getier mußte dann ringsum hausen? So hatte also unsere mühselige Reise ein Ende gefunden. Das Ziel war erreicht, zumindest das meiner Gefährten. Sie hatten zu den Ihren zurückgefunden. Ihr viele Monate, ja Jahre währendes Sehnen und Streben hatte sich in einem Maße erfüllt, wie sie es besser nicht hätten erträumen können. Auch die letzten Hindernisse hatten wir glücklich bezwungen, die schroffe Ablehnung der barschen Stammesältesten war besiegt, unsere herzlichen Worte und die schönen Geschenke hatten sie entwaffnet. Als sich der Tumult endlich legte und freundliches Geplauder von Menschen, die sich und ihr Lachen wiedergefunden hatten, an seine Stelle trat, überkam mich ein Gefühl der Erleichterung. Ich empfand das stille Glück eines ewigen Wanderers, der nach mühevoller Reise heimgekehrt ist, die behagliche Ruhe eines Kämpfers nach gewonnener Schlacht. Endlich konnte ich mich entspannen, durfte wieder ich selbst sein, die ermüdende Wachsamkeit gegenüber den Menschen aufgeben und meine ganze Aufmerksamkeit der Tierwelt zuwenden. Wie ganz anders nahm ich nun den Geruch der Wildnis in mich auf, wie süß klangen die Akkorde des Waldes zu mir herüber, wie lockte die brodelnde, heiße Üppigkeit der Jagdgründe! Während meiner ganzen Jugend hatte ich in den virginischen Steppen gejagt, und jetzt durfte ich wieder zu meiner Natur zurückkehren, durfte hingehen und mich am Zauber der Waldeinsamkeit berauschen, dem Jaguar nachspüren und unbekannten Wesen gegenübertreten. Der zwingende Blick des Zauberers entriß mich den Träumen. Karapana betrachtete mich forschend, während ein unangneh-mes, spöttisches Lächeln seinen kalten Mund umspielte. Als sich dann unsere Blicke trafen, verschwand die Grausamkeit aus seinen Zügen. Mit einer Handbewegung richtete er die Frage an mich, ob ich seine Pfeife versuchen wolle. Ich gab ihm zu verstehen, daß ich es probieren möchte. „Nimm die Pfeife nicht in den Mund”, hörte ich hinter mir eine erschreckte Stimme flüstern. Es war Arasybo, der dicht hinter mir saß und mich mit gedämpfter Stimme warnte. Außer mir konnte ihn niemand hören. Da er aber arawakisch gesprochen hatte, tat ich so, als hätte ich die Warnung nicht verstanden. Ich nahm die Pfeife aus der Hand Karapanas, legte sie an den Mund und tat einen kräftigen Zug. Im gleichen Augenblick spürte ich, wie berechtigt die Warnung gewesen war, doch war es bereits zu spät. Die Pfeife mußte ein Gift enthalten, denn ich empfand einen fremden, bitteren Geschmack auf der Zunge. Gleichzeitig überfiel mich ein seltsames Schwindelgefühl, die Gestalt Kara-panas begann vor meinen Augen zu kreisen, und ich wurde halb ohnmächtig. Hätte ich nicht auf dem Jaguarfell gesessen, wäre ich auf die Erde gefallen. Dieser Zustand währte nur Sekunden, dann ging der Schwächeanfall vorüber, und ich kam langsam wieder zur Besinnung. Ich sah, daß mich der Zauberer mit der gleichen höhnischen Grimasse anlächelte wie zuvor. Noch summte mir ein wenig der Kopf, doch ließen die Beschwerden bald nach; die Vergiftung hatte keine weiteren Folgen hinterlassen. Mit übertriebener Höflichkeit nahm mir Karapana die Pfeife aus der Hand, sog einmal, ein zweites und ein drittes Mal den Rauch tief in die Lunge und stieß dann breite Rauchschwaden aus. Ich verfolgte sein Tun sehr aufmerksam und ließ mir nicht die geringste Bewegung entgehen — der Zauberer rauchte genauso wie ich, er hatte an der Pfeife nichts verändert, und doch konnte ich keine Anzeichen von Schwäche an ihm wahrnehmen. Ent- weder wirkte das Gift nicht auf ihn, oder — was wahrscheinlicher war — der Rauch enthielt bei ihm kein Gift, und das konnte ich mir nicht erklären. Als Karapana meine Verwunderung merkte, kicherte er belustigt und sagte spöttisch: „Mir scheint, du bist den Tabak nicht gewöhnt, der an unserem Fluß wächst!” Ich stand auf. In den Knien verspürte ich immer noch eine leichte Schwäche. Ich beugte mich zu dem Zauberer hinab, runzelte drohend die Stirn, hielt ihm die Faust vor die Nase und sprach langsam: „Karapana, wünsche dir nicht, mich anders kennenzulernen denn als deinen Freund, ich sage es dir im guten! Und deine dummen Tricks probiere in Zukunft nicht an mir aus!” Diese Worte, die Arnak übersetzte, berührten Karapana nicht weiter, er nahm sie hin wie einen guten Scherz. Nur in seinen Augen leuchtete stiller Triumph. Triumph und Hohn schwangen auch in seiner Stimme mit, als er, Mitgefühl vortäuschend, gleichsam entschuldigend erwiderte: „Nein, Weißer Jaguar, unser Tabak bekommt dir nicht, er bekommt dir wirklich nicht!” Sicher sollte der Vorfall eine versteckte Warnung sein, und ich faßte ihn auch als solche auf. Ich durfte also meine Wachsamkeit doch nicht leichtsinnig einschlafen lassen, wie ich vorhin geträumt hatte, ich mußte die Menschen im Auge behalten. Giftschlangen Aas Gift des Zauberers hatte mir keinen Schaden zugefügt, eine halbe Stunde später fühlte ich mich wieder völlig wohl. Nachdem wir allein waren, ließ mir Arasybo durch Arnak den Trick Karapanas erklären. In dessen Pfeife befanden sich zwei Röhrchen, die durch ein hölzernes Brettchen voneinander getrennt waren. In dem einen Röhrchen war der übliche Tabak, während das zweite mit einem giftigen Kraut gefüllt war. Der Eingeweihte konnte, ohne daß jemand es merkte, den Bambus am Pfeifenkopf mit dem Finger eindrücken und so das Röhrchen mit dem Gift schließen. Er bekam dann nur den Rauch aus dem zweiten Röhrchen in den Mund, in dem sich der gute Tabak befand. Wer es nicht wußte, atmete den Rauch aus beiden Röhrchen ein und verlor bald das Bewußtsein. „Ist das Gift stark?” fragte ich. „Und ob!” versicherte Arasybo. „Wenn man mehr davon einatmet, gibt es keine Hilfe mehr.” „Woher weißt du Bursche das alles?” Ich betrachtete Arasybo mit einem Anflug von Bewunderung. Der Hinkende fühlte sich geschmeichelt und lachte von einem Ohr bis zum andern; dann erklärte er: „Ich habe ihn heimlich beobachtet, ich bin ihm nachgeschlichen und habe ihm seine Tricks und Zaubereien abgeguckt.” „Deshalb können sie Arasybo nicht leiden”, warf Arnak ein. „Wer? Karapana und Koneso?” „Ja. Wenn sie könnten, würden sie ihn erwürgen.” Die mir vom Oberhäuptling als Quartier zugewiesene Hütte stand in der Nähe des Ufers, ungefähr eine halbe Meile von Konesos Behausung entfernt. Fünfzehn bis zwanzig Schritt weiter sollte Manauri wohnen. Die Nacht verbrachte ich aber auf dem Schoner und machte mich am Morgen auf den Weg zu meiner Hütte. Das erste, was mir im Innern ins Auge fiel, war ein menschlicher Schädel auf einem kleinen Erdhügel an der Wand. Es war scheußlich anzusehen, wie er den Eintretenden die Zähne entgegenbeleckte. Ich prallte vor dem ungewöhnlichen Anblick zurück und rief die Gefährten herbei. Sie machten erschreckte Gesichter und nickten nur stumm. „Hier ist ein Mensch verstorben”, teilte mir Arnak mit, „und das dort ist sein Grab und sein Schädel. Bei den Kariben werden die Toten in den Hütten bestattet, die sie zu Lebzeiten bewohnt haben.” „Du sagst, bei den Kariben? So ist das keine arawakische Hütte?” „Nein, diese Hütte ist älter und wurde, wie man sieht, von einer karibischen Familie bewohnt. In einer solchen Hütte darf kein Lebender mehr hausen, nur der Geist des Verstorbenen.” „Warum hat sie mir Koneso dann zugewiesen?” fragte ich verwundert. „Vielleicht nimmt er an, daß dieser Brauch nur für uns gilt und sich auf einen Weißen wie dich nicht bezieht’, sagte Arnak. „Das glaube ich nicht’, knurrte Manauri. Wir kamen zu dem Entschluß, daß ich die Hütte mit dem Grab nicht bewohnen werde. Einmal war es nicht nach meinem Geschmack, meine Hütte mit einem Toten zu teilen, zum andern hätte es die Indianer abschrecken und gegen mich einnehmen können, da sie darin eine Heiligtumsschändung erblicken konnten. Ich ließ mich vorläufig in Manauris Hütte nieder, während die Gefährten sofort darangingen, eine neue Unterkunft für mich zu errichten. Auch viele Bewohner Serimas beteiligten sich frei-willig am Bau. In fröhlicher Stimmung ging die Arbeit schnell von der Hand, und gegen Mittag war unweit der Behausung Konesos ein geräumiges Haus mit einem mächtigen Dach aus Palm-blättern entstanden, das jedem Sturm standhielt. Drei Seiten hatten Wände aus Bambusrohr, die vierte war offen, wurde aber durch das vorspringende breite Regendach gegen Wetterunbilden geschützt. Das Haus oder, besser gesagt, die sehr geräumige Hütte bot so viel Platz, daß ich meinen unzertrennlichen Freunden Arnak und Wagura sowie Pedro den Vorschlag machte, mit mir hier zu wohnen. Die übrigen Gefährten erbauten sich ähnliche Hütten, aber nicht verstreut, sondern eine dicht neben der andern. Es war zu merken, daß unsere Sippe auch weiterhin zusammenbleiben wollte. Die Anlage der Hütten bot außerdem ein Spiegelbild der verschiedenen Empfindungen und persönlichen Bande. So schlugen die Neger ihre Behausungen ganz in der Nähe Manauris auf, gewissermaßen als Leibwache ihres Häuptlings. Arasybo suchte an meiner Seite Zuflucht und wurde mein unmittelbarer Nachbar; auch Lasana mit ihrem Kind ließ sich ganz in meiner Nähe nieder. Als uns Koneso gegen Abend einen Besuch abstattete, um nachzusehen, wie wir uns eingerichtet hatten, benutzte ich die Gelegenheit, um ihm meine Meinung über die Hütte mit dem Totenhügel zu sagen. Ich erklärte ihm unzweideutig, daß ich von Natur aus jähzornig sei, Beleidigungen nur schwer ertragen könne und zugefügtes Unrecht nicht immer so hingehen lasse. „Unrecht?” fragte er mit unschuldiger Miene. „Das war kein Unrecht!” „Was dann? Sollte es alberner Schabernack sein oder eine böswillige Falle?” „Vielleicht war es eine Falle”, gab er zu, machte ein pfiffiges Gesicht und verzog die Lippen zu einem abstoßenden Lächeln, „aber keine böswillige. Es war eine Kraftprobe!” „Der eine reicht mir in der Pfeife Gift, der andere schickt mich in eine beschworene Hütte!” warf ich ihm vor. „Du wunderst dich darüber?” Sein Mund lächelte noch immer, die stechenden Augen aber wurden ernst und nahmen einen lauernden Ausdruck an. „Allerdings, ich wundere mich sehr. Schließlich bin ich euer Gast, oder bin ich es nicht?” „Natürlich bist du unser Gast, aber ein ungewöhnlicher! Ein ganz anderer als sonstige Gäste, du bringst eine geheimnisvolle Kraft mit, und die wollen wir erproben!” „Und deshalb gebt ihr mir Gift?’ „So ist es! Das Gift hat auf dich gewirkt, das wissen wir jetzt. Wir wissen nun auch, daß der Geist des Toten mächtiger ist als du. Du fürchtest dich vor ihm.” „Da irrst du dich, Koneso!” „Bist du nicht aus der verbotenen Hütte weggelaufen?” „Ich habe die Hütte verlassen, das stimmt, aber nicht aus Angst vor dem Geist, das kannst du mir glauben!” „Oho!” Sein aufgedunsenes Gesicht überzog sich mit höhnischem Mißtrauen. „Ich achte eure Sitten und euren Glauben”, sagte ich betont. „Ich will die Hütte eines Toten nicht entehren, das ist alles.” Koneso maß mich von oben bis unten mit einem forschenden Blick, und ich erkannte, daß seine Zweifel nicht schwanden. „Man erzählt, daß die Kugeln aus einer Büchse von dir abprallen”, sagte er dann. „Das ist albernes Geschwätz!” „Und daß die Pfeile deinen Körper nicht zu durchbohren vermögen. Ist das wahr?” „Das ist Unsinn!” Nun wurde ich wütend. „Ich bin genauso sterblich wie jeder andere, überhaupt ist alles an mir so wie bei jedem anderen!” Er glaubte mir nicht ganz, das bewies sein argwöhnischer Blick, mit dem er mich betrachtete. Mißtrauisch legte er den Kopf auf die Seite und schüttelte ihn ab und zu. „Du wirst doch aber nicht leugnen, daß du irgend etwas hast, was die anderen nicht haben?” „Das ist wahr”, bestätigte ich lebhaft. „Also siehst du?” In seiner Stimme lag Triumph, den ich ihm aber sofort nahm, indem ich fortfuhr:    „Was ich habe, sind die größeren Erfahrungen. Ich habe viel von der Welt gesehen und bin vielen Feinden begegnet. Die einen habe ich geschlagen, andere haben mich besiegt — und von diesen habe ich am meisten gelernt. Gelernt habe ich, hörst du, das ist mein ganzes Geheimnis.” „Wann bist du mit Jaguaren zusammengestoßen?’ fragte er plötzlich mit veränderter Stimme, als ob er mich überraschen wolle. Ich antwortete völlig ungezwungen: „Ein einziges Mal bin ich dem Jaguar begegnet! Es war auf der Insel der Verwegenen. Ar-nak, Wagura und ich haben ihn nach schwerem Kampf getötet.” „Das war der König der Jaguare”, murmelte Koneso bedeutsam. „Der Teufel soll es wissen!” „Und ist der Jaguar des Nachts im Traum zu dir gekommen?” Er hielt den Atem an und beobachtete mich lauernd wie ein U ntersuchungsrichter. „Und ob er mir erschienen ist! Ich habe sehr oft von Jaguaren geträumt, nachdem ich den einen getötet hatte.” Ich mußte laut lachen. „Hast du keine Träume?” „Auch ich habe Träume”, antwortete er mürrisch, „aber andere, gesunde.” Während des Gesprächs saßen wir vor meiner Hütte, im Schatten des vorspringenden Regendaches. Ich wußte nicht, ob es mir gelungen war, sein Mißtrauen und seine Zweifel zu zerstreuen. Mein Gefühl sagte mir; daß Koneso noch lange nicht von meiner guten Absicht überzeugt sei. Plötzlich erblickten wir Lasana, die einen großen Flaschenkürbis auf dem Kopf trug, in dem sie Wasser vom Fluß geholt hatte. Beim Anblick der wohlgestalteten Indianerin weiteten sich die Augen Konesos vor Begierde, es sah aus, als wolle er sie lebendig verschlingen. „Du bist hier?” rief er verwundert aus. „Ich bin hier”, brummte sie kurz und beachtete uns nicht weiter. „Bleib stehen, Lasana”, forderte er sie auf. „Ich habe dir etwas zu sagen. Dein Platz ist nicht hier!” „Wo sollte er sonst sein?” Sie hielt inne und wandte ihm ihr zorniges Gesicht zu. „Du gehörst in meine Hütte”, erklärte er. „Geh sofort hin und melde dich dort!” Lasana bedachte ihn mit einem nicht gerade freundlichen Blick, doch konnte sie ihren Schrecken nicht ganz verbergen. „Was fällt dir ein?” fauchte sie ihn an. „Werde hier nicht frech, Mädchen. Gehorche und geh!” „Ich gehe nicht!” widersprach sie entschieden. „Ich gehöre zur Sippe des Weißen Jaguars, mein Platz ist hier. Und nur hier.” „Und du wirst gehen!” schrie der Häuptling mit schneidender Stimme. „Los! Beeile dich!” Ihr Widerstand erbitterte ihn. Die anziehende junge Frau gefiel ihm sichtlich außerordentlich, und er wollte sie besitzen. „Warte, Koneso”, sagte ich freundschaftlich und ergriff ihn am Arm. „Sprechen wir in Ruhe darüber. Mir wurde gesagt, daß die Frauen bei den Arawaken gewisse Rechte haben und nicht Sklavinnen der Männer sind.” „Was soll das? Was hat das damit zu tun?’ Der Häuptling brauste entrüstet auf. „Daß sie tun und lassen kann, was ihr gefällt.” „Ganz so ist es nicht! Sie ist jung, hat ihren Mann verloren und hat ein Kind. Man muß sich um sie kümmern. Der Stamm ist verpflichtet, sie unter seinen Schutz zu nehmen.” „Sie hat bereits einen Beschützer”, erklärte ich. „Wen?” „Mich.” Koneso kniff angriffslüstern die Augen zusammen und fragte: „Willst du vielleicht behaupten, daß du ihr Mann bist? Ich weiß, daß es nicht so ist.” „Ich bin nicht ihr Mann, aber ich habe sie unter meinen Schutz genommen, und das ist fast das gleiche.” „Und sie wollte diesen Schutz?” „Ich habe ihn gewollt’, bestätigte Lasana laut und schüttelte den Kopf so kampfeslustig, daß ihre schwarzen Locken nach allen Seiten hin flogen. „Und ich will, daß es auch weiterhin so bleibt!” Wir waren nicht allein. Außer Arnak waren mehrere Indianer aus unserer Sippe sowie einige in der Nähe sitzende Arawaken Zeugen des Vorfalls. Besonders die letzten waren durch die anmaßende Forderung Konesos sehr verärgert. Der Häuptling merkte es und entschloß sich, den Ton zu ändern. „Wir werden noch sehen”, brummte er durch die Nase und schickte sich an zu gehen. „Höre zu, Koneso.” Ich hielt ihn zurück. „Die Angelegenheit ist klar, Lasana bleibt bei mir. Aber das, was du sprichst, ist unklar, ist unverständlich.” „Was meinst du damit?” „Du machst uns Schwierigkeiten, obwohl du Geschenke angenommen hast; du hast einen Degen und ein Pferd erhalten. Ist dir das noch zuwenig?” „Vielleicht ist es zuwenig!” Er lachte herausfordernd über seinen Witz. „Eines kann ich nicht verstehen”, fuhr ich fort. „Man hört, daß sich die schrecklichen Akawois auf einen Raubzug an den Orinoko vorbereiten, und ihr, anstatt eure Wachsamkeit und eure Kraft zu vereinigen, vergeudet sie und benehmt euch wie Wahnsinnige und Blinde. Ihr streitet, sät Uneinigkeit im Stamm und zieht ein Gewitter auf euch herab, das uns allen Unglück bringen kann.” „Wer?” rief Koneso aus und tat belustigt. „Wer zieht ein Unwetter herbei? Wir? Wir säen Uneinigkeit?” „Wer denn sonst?” „Ihr! Als ihr noch nicht hier wart, hat niemand die Eintracht gestört. Wer hat den Frieden aus dem Stamm vertrieben, wenn nicht ihr durch eure Ankunft? Ihr seid an allem schuld!” So stellte er höhnend die Dinge auf den Kopf, ging davon und ließ uns in noch größerer Zwietracht zurück als vorher. Einige Hitzköpfe unter meinen Gefährten vertraten die Meinung, wir sollten Serima verlassen und einige Meilen oberhalb dieses ungastlichen Dorfes eine Siedlung anlegen; doch die Mehrzahl, auch Manauri, widersetzte sich diesem Vorschlag. Sie glaubten, daß die bösen Launen der Ältesten nach und nach vorübergehen und die Mißverständnisse bald ein Ende nehmen würden. Die folgenden Tage waren der Ruhe und dem Nichtstun gewidmet. Zu essen hatten wir im Überfluß, denn die Bewohner Seri-mas, die sich in den vergangenen zwei Jahren mit allem Nötigen eingedeckt hatten, gaben uns genügend von ihren Vorräten und gestatteten uns außerdem, auf die Felder zu gehen und von der reichen Ernte zu nehmen. Die Hauptnahrung bildeten die riesigen Wurzeln einer Pflanze, die von den Indianern und auch von Pedro Mandioka genannt wurde. Zunächst preßte man den unverdaulichen Saft aus, dann wurden die Knollen gekocht und verzehrt. Eine vorzügliche Abwechslung boten die verschiedenen Früchte, die in der Nähe der Siedlung angebaut worden waren und auch wild im Urwald wuchsen, sowie vor allem Fische, von denen es nicht nur im Fluß, sondern in fast jedem Tümpel geradezu wimmelte. Auch gab es jede Art Wild, vom Wildschwein bis zu den Nasenbären, die ihren Bau in hohlen Baumstämmen hatten. Bereits nach wenigen Tagen hatte sich unsere Sippe an den Tagesablauf des indianischen Dorfes gewöhnt. Das Faulenzen war nicht nach dem Geschmack unserer Leute. Die einen suchten im Urwald nach geeigneten Stellen, wo sie Bäume pflanzen und Felder anlegen könnten, andere gingen ans Wasser, um Fische zu fangen. Sie legten Angeln und Reusen aus oder sperrten Bäche ab; manche benutzten dazu Pfeil und Bogen oder betäubten die Fische mit Gift. Wieder andere sammelten Früchte oder jagten verschiedenes Wild. Den letzten gesellte ich mich zu, unaussprechlich glücklich, nun in meinem Element zu sein. Den Schoner brachten wir zu unserer kleinen Siedlung und verankerten ihn gegenüber meiner Hütte. Wir wollten das Schiff ständig unter den Augen haben, da es unsere Vorräte und die von den Spaniern erbeuteten Sachen enthielt. Das Bewußtsein der von den Akawois drohenden Gefahr drängte mich, öfter Übungen mit den Feuerwaffen zu veranstalten. Die Schützen waren mit Freude dabei, und als sie genügend Fertigkeit gewonnen hatten, erlaubte ich ihnen, mit den Büchsen auf die Jagd zu gehen. Den Indianern erschienen zwar im Urwald Pfeil und Bogen nützlicher als eine Schußwaffe, doch nahmen sie trotz-dem immer die Büchsen mit, die sie sich malerisch über die Schultern hängten, denn sie hoben nach ihrer Meinung die männliche Schönheit und steigerten das Ansehen. Auch die anderen Waffen vernachlässigten wir nicht. Wenn wir nicht gerade im Urwald jagten oder auf dem Fluß fischten, übten wir mit dem Bogen, mit dem Speer, mit der Keule und mit dem mir bisher unbekannten Blasrohr, einem acht bis neun Fuß langen Bambusrohr, aus dem kleine vergiftete Geschosse auf ziemlich große Entfernungen geschleudert wurden. Allmählich ergriff alle Beteiligten die Lust zum Wettstreit, und einige Schützen brachten es zu bewundernswerter Fertigkeit. Koneso und sein Helfershelfer Pirokaj versuchten von Anfang an, unsere Sippe zu zerschlagen und die Menschen mit allerlei Versprechungen von uns wegzulocken, doch hatten sie keinen Erfolg. Bis auf zwei Fälle wankelmütiger Seelen bemühten sie sich vergebens. Unsere Leute wollten wirklich zusammenbleiben, sie fühlten sich als eine Familie, und ich begriff bald, worin der Grund dafür lag: Es waren nicht nur die gemeinsamen Erfahrungen während des langen Zusammenlebens, nicht nur die Existenz meiner Person, meiner Waffen und des reichen Schiffes, sondern der Grund lag vor allem darin, daß sie völlig anders waren als die übrigen Arawaken. Diese vom Schicksal in der Welt umhergeworfenen Menschen waren in ihrer Entwicklung weitergekommen, sie waren härter geworden, ihr Charakter hatte sich geformt. Sie hatten einen stärkeren Lebenswillen, das Blut in ihren Adern pulsierte schneller, sie waren elastischer, beweglicher, interessierter an allen Dingen des Lebens als ihre ansässigen Landsleute. Ihr Unternehmungsgeist und ihre Betriebsamkeit übten auch auf viele Einwohner Serimas einen geradezu magischen Einfluß aus. Diese durch die Hitze des Dschungels etwas verschlafenen, trägen, schwerfälligen Indianer schienen plötzlich aufzuleben, begannen lebhafter zu werden und zu überlegen. Daß die nächsten Anverwandten unserer Sippenmitglieder zu uns übersiedelten, war verständlich, aber es kamen auch andere, durchaus nicht blutsverwandte Angehörige des Stammes in unseren Kreis, wie von einer unwiderstehlichen Kraft angezogen. Sie gierten gewissermaßen nach unserer Freundschaft, fragten um Rat, suchten fröhliche Unterhaltung und hätten sich gern für ständig in der Nähe unserer Feuerstellen niedergelassen. Manauri aber widersetzte sich diesem Ansinnen, um nicht den Neid der ältesten aufzustacheln, die dem allem mit scheelen Augen zusahen. Auf die Jagd gingen wir zu zweit oder zu dritt. Meine Begleiter waren gewöhnlich Arnak, Wagura, Pedro und nach einiger Zeit auch Lasana, deren Mutter inzwischen zu ihr gezogen war. Ich begann jetzt, das Unwahrscheinliche, geradezu Betäubende dieses Urwalds in mich aufzunehmen und zu erleben. In den heimatlichen Wäldern Virginiens waren die mannigfaltigsten Bäume gewachsen, doch was waren sie gegenüber diesem chaotischen Übermaß, gegenüber der zügellosen Fülle der hiesigen Pflanzenwelt? Auch manches schwer zu durchdringende Dickicht hatte es im virginischen Wald gegeben, doch konnte man es nicht mit diesem Gewirr, mit dieser grünen Furie, mit dem unerbittlichen Drängen der Äste, Blätter, Schlingpflanzen, Stacheln und Dornen vergleichen, in dem es so schwer war, auch nur einen Schritt vorwärts zu tun, wo sich Fesseln um den Körper legten, wo der Mensch gedrückt und gewürgt wurde, daß Denken und Fühlen zu versagen drohten. Dem Auge bot sich nur ein sinnloses, abstoßendes Chaos, doch die Sinne des erfahrenen Waldläufers vermochten in dem scheinbaren Wirrwar die ordnende Vernunft der Natur und ihre weisen Lebensgesetze wahrzunehmen, schlürften diese wilde Schönheit und schöpften ein eigenartiges herbes Lustgefühl. Niemals aber konnte man wissen, ob dieses unübersichtliche Dickicht dem Menschen als schenkender Freund oder als unerbittlicher Feind gegenübertreten würde. Obgleich die Tierwelt dieses Waldes so zahlreich war, bekam man sie nicht leicht zu Gesicht, und noch schwerer war es, ein Wild zu erlegen. Der grüne Vorhang verbarg jedes Tier, und dessen lauschende Sinne nahmen schon von weitem die Geräusche wahr, die der vordringende Jäger verursachte. Kleine Pfade zogen sich im Urwald hin, Pfade von Menschen und Pfade von Tieren. Nur auf ihnen konnte man sich leise bewegen und sich einem Wild nähern. Wenn der Zauber des Jagens in der großen Überraschung liegt, die hinter jedem Gebüsch auftauchen kann, in unvorhergesehenen Ereignissen, dann konnte man die Wildnis am Itamaka als die erträumten Jagdgefilde bezeichnen, als paradiesische, zauberhafte Wiege der unwahrscheinlichsten Begegnungen. Wie viele verborgene Wunder gab es hier zu entdecken, welche Vielfalt blutdürstiger Bestien hauste in diesen Wäldern! Außer dem Jaguar konnten noch andere Raubkatzen den Weg des Jägers kreuzen. Eine davon, ähnlich gefärbt wie der Löwe, bezeichnete Pedro als Puma. Hirsche, Guasupitas genannt, oder Saguinos, Wildschweine, konnten plötzlich vor den Lauf geraten, und im Schlamm des Flußufers suhlten sich die Wasserschweine. Eigenartige Tiere waren die Maschadis, deren Haut so hart ist wie ein eherner Schild und die mit ihrer grotesk verlängerten Nase einem Elefanten ähneln. Natürlich bevölkerten unzählige Herden vielgestaltiger Affen den Urwald. Man konnte dem Hateke begegnen, dem Gürteltier, das ganz mit panzerartigen Platten bedeckt ist, oder einem anderen seltsamen Wesen, dem Tamanoa, einem Ameisenfresser mit unheimlich langgezogener Schnauze und so starken Vorderklauen, daß er einen Menschen zerreißen könnte. Einen noch verwunderlicheren Anblick bot der Unau, ein friedlicher Vierfüßler, der von Baumästen herabhängt und sich nie zu bewegen scheint. Und erst die Vielfalt der Wasser- und der Waldschildkröten, der Eidechsen, von denen die Guanas wie kleine Drachen aussehen, und besonders die verschiedenen Arten von Schlangen, Giftschlangen und Riesenschlangen sowie die tückischen Kaimane, die in stillen Wassern lauern! Die Gewässer wimmeln von eßbaren Fischen und gefährlichen Scheusalen, den platten Siparis, in deren Schwanz ein giftiger Stachel verborgen ist, den Humas, kleinen Fischen von unvorstellbarem Blutdurst, und den Jaringas, von denen die Indianer Dinge erzählen, die ich zunächst für eine Fabel hielt. Diese kleinen Ungeheuer sollen imstande sein, einen badenden Menschen zu töten. Angeblich fallen sie so blitzschnell über ihn her, daß sie ihn im Nu unschädlich machen. Schier unermeßlich war die bunte Welt der unzähligen Vögel auf und über der Erde, eine zwitschernde, dankbare, fröhliche Welt, über der hoch droben am Himmel ihr düsterer Beherrscher seine Kreise zog: der Riesenadler mit dem großen Schopf, der halb legendäre Mesime, der unbezwingbare Mörder von Affen und anderen Kleintieren, dessen Kraft so groß sei, daß er sich, wie man sagt, mit einem fünfzehnjährigen Jungen in die Lüfte erheben könne. Die Arawaken, die nun schon zwei Jahre am Itamaka lebten, weihten mich in die Geheimnisse des Urwaldes ein, und ich erfuhr von so manchem Wundertier. Zuweilen war schwer zu unterscheiden, wo die Wahrheit aufhörte und die Einbildungskraft begann. So wurde ich mit dem gleichen Ausdruck des Schreckens vor dem Jaguar gewarnt wie vor dem Kanaima, von dem ich bereits wußte, daß er als Rachegeist gefürchtet war, und die Gestalt der bös-artigen Guanas, einer Eidechsenart, wurde mir genauso eingehend beschrieben wie das Aussehen der Hebus, stieläugiger, behaarter Waldwesen, die sich als unheilbringende Geister Verstorbener entpuppten. Neben Erzählungen darüber, daß die an den Fluß-ufern lebende Riesenschlange Komuti Menschen angefallen hatte, hörte ich Geschichten über die im Wasser hausenden Maikisikiris, die noch nie ein Mann zu Gesicht bekommen habe, da sie nur auf das weibliche Geschlecht versessen seien. Erst später bekam ich heraus, daß es sich bei den Maikisikiris um Wassergeister handelte. So verwoben sich die wirkliche und die eingebildete Welt zu einem wirren Knäuel, und sooft ich auch den endlosen Urwald betrat, niemals wußte ich, wo die Grenze lag zwischen Gefahr und Schrecken und Entzücken, wo die Wirklichkeit aufhörte und wo das Trugbild begann. Diese Unsicherheit erzeugte ein eigen-artiges, grenzenloses Lustgefühl, wie alles, was diese Wildnis barg. In der Umgebung unserer Hütte gab es erstaunlich viele Schlangen, und zwar äußerst giftige. Besonders in der Nähe des Pfades, der in den Urwald führte, und auf dem Pfad selbst töteten wir täglich eine ganze Anzahl, und doch nahmen sie nicht ab; am nächsten Tag kroch neues Ungetier auf der Erde herum. „Wir müssen besonders anziehend auf sie wirken”, rief ich scherzend aus. „Oder fallen sie vielleicht vom Himmel?’ Die Gefährten sahen sich verlegen an, als ob sie sich selbst schuldig fühlten oder sich für diese Ungunst der Natur schämten. In dieser Gegend, erklärten sie mir, käme es manchmal vor, daß meilenweit nicht einmal der Schwanz einer Schlange zu sehen sei, an einer anderen Stelle gebe es wieder eine Unmenge dieser ekelhaften Geschöpfe. Manauri erinnerte sich, daß er einmal an einem entlegenen Ort plötzlich vor sechzehn Schlangen gestanden habe, die sich sonnten, lauter Sororoimas, die giftigsten der Giftschlangen. Zwar hatte er sofort kehrtgemacht und war gerannt, so schnell ihn die Beine trugen, doch überliefen ihn noch nach langer Zeit kalte Schauer, wenn er daran dachte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit den spanischen Stiefeln zu versöhnen und sie aus Sicherheitsgründen zu tragen; denn ihr Leder konnte der stärkste Giftzahn einer Schlange nicht durchbeißen. Lasanas Mutter, eine sehr umsichtige Frau, schuf auf ihre Weise Abhilfe. Als sie zu uns übersiedelte, brachte sie einen gezähmten Tujuju mit, einen Riesenstorch mit schwarzem Kopf und ebensolchem Schnabel, der ein fanatischer Vertilger jeder Art Reptilien war. Tatsächlich schien seit dieser Zeit das widerliche Gezücht um den Pfad herum abzunehmen. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, jeden Morgen auf das Schiff zu gehen und auf dem Deck und in den Laderäumen, in denen wir die Pulverfäßchen aufbewahrten, nach dem Rechten zu sehen. Als ich eines Tages den Laufsteg auf die Bordkante geschoben hatte, lief der muntere Dorfhund, der mich auf dem Rundgang zu begleiten pflegte, vor mir her auf das Deck des Schoners. Kaum war er im Laderaum verschwunden, winselte er schmerzvoll auf und kam mit ängstlich eingezogenem Schwanz wieder heraus. Hinter ihm erschien eine dunkle Schlange in der Luke, deren Körper mit bronzefarbenen Flecken gezeichnet war. An der herzähnlichen Form des Kopfes erkannte ich sofort, daß ich eine Giftschlange vor mir hatte, und konnte gerade noch zur Seite springen. Zum Glück hatte ich eine Rute in der Hand, mit der ich ihr zweimal über den Kopf schlug, bis sie liegenblieb. Im Laderaum entdeckte ich eine zweite, genauso gefährliche Schlange, und unter dem Ruder lauerte eine dritte. Diese hatte sich zusammengerollt, hielt den Kopf erhoben und war bereit, jeden Augenblick zuzustoßen. Ihre kleinen Augen schossen wütende Blitze. Ich konnte die drei Bestien leicht unschädlich machen, da sie auf dem Deck nicht schnell vorankamen und nur dem gefährlich wurden, der ahnungslos in ihre Nähe geriet. Die Anwesenheit der Schlangen auf dem Schiff war ein Rätsel, das ich mir nicht auf natürliche Weise erklären konnte. Der Schoner war auf allen Seiten von Wasser umgeben und hatte keine Verbindung mit dem Land, mit Ausnahme der kurzen Zeit, da der Laufsteg auf der Bordkante lag. Woher kamen also diese schrecklichen, Schlangen? Hatte sie jemand hergebracht, der meine Wege kannte und mir nach dem Leben trachtete? Der Hund, den das Reptil ohne Zweifel gebissen hatte, kam nicht weiter als bis ans Ufer; dort brach er plötzlich zusammen. Er lebte nur noch einige Minuten. Sein Körper wurde von furcht-baren Krämpfen geschüttelt, und blutiger Schaum troff ihm von den Lefzen. Auch aus den Augen und den Ohren trat Blut heraus. Erschüttert stellte ich die verheerende Wirkung des Giftes fest, und als der Hund verendet war, wurde mir bewußt, daß ich jetzt leblos hier liegen würde, wenn nicht dieser unfreiwillige Wohltäter gewesen wäre. Obwohl ich mir nicht leicht Angst einjagen lasse, packte mich Entsetzen, und eisige Schauer jagten mir über den Rücken. Den Gefährten gegenüber erwähnte ich nichts von meinem Verdacht; doch kamen auch sie gleich auf den Gedanken, daß hier die Hand eines Feindes im Spiele sein müsse. Aber wer kam für diese Tat in Frage? Das zu erraten war nicht allzuschwer. Auch die vielen Schlangen entlang unserem Pfad erschienen ihnen jetzt verdächtig. „Da steckt er dahinter, das ist sein Werk”, behauptete Arnak mit düsterer Miene und blickte forschend umher, als suche er im Gebüsch einen verborgenen Feind. „Jetzt ist er bestimmt nicht hier”, rief ich lachend. „Wenn er uns die Schlangen bringt, dann nur des Nachts.” „Du meinst, die Schlangen würden von jemandem hergebracht?’ fragte Manauri. Seine Stimme ließ Zweifel erkennen. „Natürlich. Sie können nur von Karapana sein.” „Ohne Zweifel sind sie von Karapana! Nur, daß er selbst sie bringen sollte. . .?” „Wenn nicht er selbst, dann eben seine Gehilfen.” „Auch das ist zweifelhaft, Jan.” „Das verstehe ich nicht. Wie sollten die Schlangen sonst hierhergelangen?” Auf dem Gesicht Manauris malten sich Unruhe und Sorge. „Karapana ist ein Zauberer”, brachte er dann gewissermaßen als Erklärung vor. „Du willst doch nicht behaupten, daß diese Bestien durch Zauberei hier auftauchen?’ rief ich aus. „Karapana bringt manches zuwege. Er ist ein großer und gefährlicher Zauberer”, antwortete Manauri ausweichend. Der Häuptling brachte also das Auftauchen der Schlangen mit bösen Zaubern in Verbindung, und die übrigen Gefährten, mit Ausnahme Arnaks, schienen diesen Glauben zu teilen. Jeder Zauber aber übt eine große Macht aus auf die Indianer, gegen die anzukämpfen ein hoffnungsloses Unterfangen ist, weshalb ich die Befürchtung hegte, daß mich meine arawakischen Freunde angesichts einer höheren Macht im Stich lassen oder zumindest mutlos werden könnten. Ich merkte jedoch bald, daß sie weder den Mut sinken ließen noch daran dachten, mich im Stich zu lassen. Die Ursache hierfür entdeckten sie mir nur zögernd: Karapana sei schrecklich, aber ich, ein Paranakedi, ein Engländer, noch dazu der Weiße Jaguar, verfüge auch über Zauber; meine Macht sei nicht geringer und werde die Beschwörungen Karapanas unschädlich machen. „Ihr glaubt also, daß ich mit ihm fertig werde?” fragte ich. „Du wirst mit ihm fertig, du wirst ihn überwältigen!” antworteten sie. „Sein böser Wille muß mit einer zuverlässigeren Waffe überwunden werden, als es Zaubereien sind.” „Es gibt keine besseren!” schrien mehrere Indianer betroffen. „Welche denn?” „Unsere Wachsamkeit.” Ihre Gesichter drückten Geringschätzung aus, dann aber antworteten sie: „Ja, natürlich.” „Und ihr wollt mir dabei helfen?” „Wie könnte es anders sein? Du bist unser Weißer Jaguar, unser Freund”, versicherten sie. „Wir helfen dir!” „Ich gebe euch Büchsen, und wir werden dem Schuft auflauern. Wir wollen doch sehen, wie er unser Blei verträgt!” Dieser Vorschlag fand jedoch keinen Anklang bei ihnen. Nächtliches Schießen war nicht nach ihrem Sinn; außerdem fürchteten sie, damit die geheimen Mächte zu erzürnen. Sie wollten des Nachts nicht auf irgend etwas Geheimnisvolles Jagd machen, sondern schlafen, und so wurde lediglich beschlossen, daß sie ihre Aufmerksamkeit erhöhen und die Schlangen in größerem Maße austilgen würden. Als ich am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang in Gesellschaft Pedros und Arnaks zur Jagd aufbrach, erlebten wir nach einigen Minuten Weges eine Überraschung. Dort, wo der Pfad den Rand des Urwalds erreichte, lagen mitten auf dem Weg, als sollten sie diesen versperren, einige kleine Lehmfiguren. Sie sahen aus, als hätte sie die ungeschickte Hand eines Kindes geformt. Arnak, der voranging, bückte sich blitzschnell und gab uns mit einer energischen Handbewegung zu verstehen, daß wir nicht weitergehen sollten. In seinem Gesicht zeichneten sich Entsetzen und Schreck ab, entgeistert starrte er die Figuren an und war so verblüfft, wie ich es nur selten an ihm bemerkt hatte. Die Figürchen waren kaum größer als ein Finger und stellten verschiedene Tiere dar: eine Eidechse, eine kleine Kröte, eine junge Schlange, einen nicht genau zu erkennenden Vierfüßler, einen Vogel und endlich einen Skorpion. Alle diese Geschöpfe lagen so, daß sie uns die Köpfe entgegenstreckten. Als ich sie genauer in Augenschein nahm, fiel mir auf, daß jedes von ihnen einen mißgestalteten Körperteil aufwies; bei dem einen war es ein plattgedrückter Kopf, bei dem andern eine ausgerissene Pfote, ein zerfleischter Rücken oder ausgekratzte Augen. „Geh nicht näher heran”, flüsterte Arnak mit bebender Stimme. Überrascht und bestürzt zugleich betrachtete ich den Freund. „Wieder ein Zauber?” fragte ich. „Ja, ein Zauber”, bestätigte er. „Nun hat es dich auch noch gepackt”, sage ich vorwurfsvoll. „Arnak, lieber Arnak! Das ist doch albernes Zeug!” „Nein, Jan”, verteidigte er sich ernst. „Das ist kein albernes Zeug mehr. Wenn der Zauberer jemanden vernichten will, dann legt er ihm solche beschworenen Figuren auf den Weg.” „Und weshalb?” „Um seinen Willen zu schwächen, sein Herz zu verderben, um ihm die Sinne zu verwirren...” „Ich werde diesen Zauber zertreten”, erklärte ich. „Tu es nicht! Die Figuren könnten vergiftet sein und das Gift durch die Schuhsohlen in deinen Körper gelangen.” Nach einiger Zeit erholte sich Arnak von der ersten Bestürzung, sein Gesicht hellte sich auf, und ein feines Lächeln erschien auf seinem Mund. „Nein, Jan”, sagte er heiter, wie um mich zu beruhigen. „Du hast mich gelehrt, daß alle diese Dinge Aberglauben sind, und dein Bemühen war nicht fruchtlos. Aber das hier sind keine Hirngespinste, es ist ein Beweis, daß Karapana geradezu versessen auf deinen Tod ist, und das ängstigt mich.” „Woher willst du wissen, daß er es gerade auf mich abgesehen hat und nicht auf uns alle?” „Sieh dorthin!” Er deutete auf den Pfad, und ich entdeckte einige Schritte weiter noch eine einzelne Figur. Sie stellte ein Raubtier dar, und zwar einen Jaguar, der weiß angestrichen worden war; ohne Zweifel sollte es der Weiße Jaguar sein. Das ging allerdings mich an. Die Brust des Tieres war von einem Speer durchbohrt, welches Schicksal sichtlich auch mir beschieden sein sollte. Diese Drohungen ließen mich nur die Achseln zucken, und doch empfand ich diese verbissene Verfolgungswut des Zauberers als unheimlich. Sollte ich, ohne mir dessen bewußt zu sein, bereits seinen vernichtenden Einflüssen unterliegen? Arnak ergriff plötzlich einen stärkeren Zweig und schlug damit so lange auf die Figuren ein, bis sie zu feinem Staub zerfallen waren, den er sorgfältig zur Seite fegte. Als er sich anschickte, auch den Jaguar auf die gleiche Weise zu zerschlagen, hielt ich ihn zurück, weil ich mir die Figur als Andenken aufheben wollte. Arnak schüttelte zwar den Kopf, doch schließlich gab er sich damit zufrieden. „Berühre ihn aber nicht”, rief er mir warnend zu. Wir schlangen eine dünne Liane um die Figur und hängten sie im Gebüsch auf, um sie auf dem Rückweg mitzunehmen. Als wir nach einigen Stunden zurückkehrten, erwartete uns eine neue Überraschung: die Figur war weg. Während wir auf der Jagd waren, hatte sie jemand geholt. Von unserer Sippe hatte es bestimmt keiner getan, es mußte also ein Fremder in der Nähe unserer Hütten umherstreifen. Das Dickicht des Waldes, das uns wie eine Mauer umgab, verbarg ein düsteres Geheimnis. „Den Weißen Jaguar mit dem durchbohrten Herzen hat nun dein Feind in der Hand”, erklärte Arnak. „Hüte dein Herz!” „Mein Herz ist gesund wie das eines Pferdes!” Ich lachte übermütig. In der Tat fühlte ich mich ungewöhnlich wohl und strotzte geradezu vor Gesundheit, was eigentlich verwunderlich war, da in diesem feuchtschwülen Dunst bestimmt allerlei Krankheiten nisteten. Der beste Beweis dafür waren die Indianer selbst, von denen viele durch erschöpfende Fieberanfälle und andere heimtückische Krankheitserscheinungen geplagt wurden. In der zweiten oder dritten Nacht nach der Entdeckung der unheilverkündenden Figuren erwachte ich und konnte nicht wieder einschlafen. Aus dem nahen Urwald klang lärmende Musik herüber, und vom Fluß her tönten die kreischenden Laute eines zweiten Orchesters, das zwar anders zusammengesetzt, doch nicht weniger geräuschvoll war. Auch in den Rohrwänden der Hütte huschte und knisterte es, hier waren kleine Eidechsen und anderes Gewürm am Werk. Da ich keinen Schlaf finden konnte, kreisten verschiedene Gedanken in meinem Kopf. Durch die unbegreifliche Feindschaft des Zauberers spitzte sich die Situation von Tag zu Tag zu. Ich mußte etwas Entscheidendes dagegen unternehmen. Aber was? Plötzlich lauschte ich, alle Sinne angespannt. Mein Lager aus Zweigen, über die Felle gebreitet waren, befand sich unmittelbar an der Wand. Ich glaubte genau über mir ein Geräusch zu vernehmen, das sich von den üblichen unterschied. Es raschelte und knisterte eigenartig, als ob das Rohr vorsichtig auseinandergeschoben würde. Nachdem ich eine Weile gehorcht hatte, war ich sicher, daß jemand von außen gewaltsam eine Öffnung in die Wand bohrte. Eben wollte ich aufstehen, um hinauszustürzen und den geheimnisvollen Besucher zu fassen, als etwas auf meinen Bauch herabfiel. Ich blieb ganz still liegen und machte keine Bewegung. Bald zeigte es sich, daß mir meine Beherrschung und Geistesgegenwart das Leben gerettet hatten, denn was auf meinem Bauch lag, war eine Schlange. Sie war nicht groß, etwa zwei bis drei Fuß lang, und blieb zunächst regungslos liegen, als ob sie nicht wüßte, was sie tun solle. Mein Herz schlug zum Zerspringen, und ich getraute mich kaum zu atmen. Während der letzten Tage war ich mit der Natur dieser Wildnis eng vertraut geworden und wußte, daß die geringste Bewegung das gereizte Reptil veranlassen konnte, seinen Giftzahn in meinen Körper zu schlagen. Nach einiger Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, rollte sich die Schlange auseinander und begann sich zu bewegen. Ich fühlte ihre schlüpfrige Haut und mußte meine ganze Willenskraft aufbieten, um ruhig zu bleiben. Sie glitt von meinem Bauch herunter, kroch langsam den Körper entlang, wand sich um meine Füße und verharrte einige Minuten so. Nachdem ich auch das ausgehalten hatte, spürte ich, daß sie langsam mein Lager verließ. Schweißgebadet atmete ich auf. Es dauerte geraume Zeit, bis mein Blut wieder normal in den Adern kreiste und mein Denkvermögen zurückkehrte. Das Ganze hatte sich in völliger Dunkelheit abgespielt, nicht einmal die Hand vor meinen Augen konnte ich sehen. Wenn mir auch keine unmittelbare Gefahr mehr drohte, so war diese noch nicht endgültig gebannt. Die Schlange befand sich immer noch in der Nähe, vielleicht lag sie nur wenige Zoll von mir entfernt auf der Lauer. Ich blieb daher weiterhin regungslos liegen und wagte es nicht, die Gefährten zu rufen. So verbrachte ich noch einige Stunden, bis es endlich zu tagen begann. Als das durch die Ritzen der Wand einfallende Licht die Dunkelheit zerstreute, sah ich mich vorsichtig um. Die Schlange war nirgends zu entdecken. Gleich darauf erwachten die Gefährten, und ich teilte ihnen mit, was sich in der Nacht ereignet hatte. Wir standen auf und suchten jeden Winkel der Hütte nach der Schlange ab. Schließlich fanden wir sie in den Zweigen unter meinem Lager. Sie gehörte zu einer sehr giftigen und als äußerst angriffslustig bekannten Art. Als sie sich umzingelt sah, kam sie auf uns zu. Schnell und treffsicher versetzte ihr Arnak einen tödlichen Schlag mit dem Stock. Als beredte Spur klaffte in der Wand über meinem Lager eine Öffnung. Das war bereits ein ausgesprochener Anschlag auf mein Leben. Wir alle empfanden den Ernst des Augenblicks und die Notwendigkeit, uns wirksamer zu verteidigen als bisher. Nun war niemand mehr dagegen, daß wir nachts Wachen ausstellen und auf jeden Unberufenen, der sich unseren Hütten näherte, schießen sollten. „Ich gehe auf Wache”, meldete sich Arasybo als erster. In seinen Augen funkelte Haß. „Wir alle werden die Wache übernehmen, der Reihe nach”, erwiderte Arnak. „Aber ich als erster! Gleich in dieser Nacht!” beharrte der Hinkende auf seinem Willen. Arasybo schielte doch, und in der Nacht braucht man ein gutes Sehvermögen. Die Gefährten erklärten mir aber, daß er Augen habe wie eine Katze. Er bekam also am Abend eine Büchse von mir, die ich mit gehacktem Blei geladen hatte; außerdem wies ich ihn an, auf keine geringere Entfernung als dreißig Schritt zu schießen. Damit er nicht vielleicht einen von uns töte, sollte er jeden sich Nähernden anrufen und sich überzeugen, wer es sei. „Ich werde schon feststellen, wer es ist’, brummte der Hinkende. Am Abend hatten wir unsere nächsten Nachbarn gewarnt und ihnen eingeschärft, sie sollten sich des Nachts unserer Hütte nicht nähern und auch den von uns in den Wald führenden Pfad nicht betreten. Gegen Mitternacht wurden wir durch einen Schuß aus dem Schlaf gerissen. Wir rannten aus der Hütte. Arasybo rief uns zu, daß er auf einen heranschleichenden Menschen geschossen habe. „Hast du ihn angerufen?’ fragte ich ihn. „Wozu? Es war ein Feind!” Wir entzündeten Fackeln und liefen zu der von Arasybo be-zeichneten Stelle. Es war niemand zu entdecken. Entweder hatte der Schütze gefehlt — oder er hatte auf ein Trugbild geschossen. Als es ganz hell geworden war, untersuchten wir die Stelle noch einmal. Diesmal mit Erfolg, denn wir fanden zahlreiche Blutspuren. Arasybo triumphierte. Eine Schlange, Wildschweine und ein Jaguar Der Schuß Arasybos wirkte Wunder, die bösen Geister ^schienen abgeschreckt worden zu sein. Die jSchlangenplage hörte schnell ganz auf, und auch /des Nachts versuchte niemand mehr, unsere Ruhe zu stören. Da unser Wachen ergebnislos verlief, wollten es die Indianer nach einigen Tagen wieder einstellen, doch diesmal erklärte ich mich damit nicht einverstanden und setzte schließlich meinen Standpunkt durch. Inzwischen hatte die Trockenzeit, die Zeit der Raubzüge, endgültig im Urwald Einzug gehalten, und unsere Wachsamkeit galt nicht mehr nur einer Gefahr, sondern zweien: den Anschlägen des Zauberers und der Möglichkeit eines Überfalls durch die Akawois. Alle Männer unserer Sippe waren verpflichtet, am Wachdienst teilzunehmen. Der Natur der hiesigen Indianer widerstrebte diese Vorsicht, sie hatten nicht die Gabe, unangenehmen Überraschungen vorzubeugen. Da sie mich aber schätzten und mir keinen Ärger bereiten wollten, taten sie mir den Gefallen.  Wen Arasybo durch seinen Schuß verwundet hatte, blieb ein Rätsel. Aus unserer Sippe war es niemand, und auch Karapana, Koneso, Pirokaj und Fujudi hatten keinerlei Verletzungen, wo-von ich mich in kurzer Zeit überzeugen konnte. Da ich Unannehmlichkeiten durch die Akawois voraussah, wollte ich eine genaue Karte der Wälder, Berge, Flüsse und Pfade haben, die sich zwischen dem Unterlauf des Orinoko und dem Cuyuni befanden. Ich schickte deshalb Arnak und den gewandten Kartenzeichner Pedro zu allen Einwohnern Serimas, die genauere Angaben über diese Dinge machen konnten. Die Indianer gaben uns gern Auskunft, und so entstand eine schöne Karte, die mir sehr zustatten kam. Gleichzeitig hatte Arnak die Möglichkeit, vorsichtig Erkundungen über unseren nächtlichen Besucher einzuziehen. Der blieb jedoch verschwunden, als habe ihn die Erde verschluckt. Wenn dieser Mensch irgendwo lag und seine Wunden pflegte, so mußte er über ein entlegenes, gut verborgenes Versteck verfügen. Mein Verhältnis zu Pedro gestaltete sich immer herzlicher. Er war ein verträglicher, ehrlicher und williger Junge, den man liebgewinnen mußte. Besonders gut hatte er sich mit dem immer fröhlichen Wagura angefreundet. Sie waren wie zwei Brüder, und der junge Spanier schien ganz vergessen zu haben, daß er sich eigentlich in Gefangenschaft befand. Er war sehr geschickt und arbeitsam und stand mir nicht nur beim Erlernen des Spanischen hilfreich zur Seite. Da er eine gute Auffassungsgabe besaß, hatte er schnell die arawakische Sprache erlernt. Er genoß die gleiche Freiheit wie alle anderen, ja, ich hatte ihm sogar eine Schußwaffe gegeben und ihm versprochen, daß er bei der ersten Gelegenheit zu seinen Landsleuten zurückkehren dürfe. Es klingt vielleicht lächerlich, doch erfüllte mich Dankbarkeit ihm gegenüber, weil ich in ihm die mir sehr angenehme Entdeckung machen durfte, daß auch unter diesen grausamen Lumpen, den Spaniern, edle Menschen zu finden waren, die Freundschaft und Achtung verdienten. Eines Morgens ging ich mit Wagura und Lasana auf die Jagd. Wie gewöhnlich benutzten wir den Pfad, der fünfzig und mehr Meilen in südlicher Richtung verlief, die Schluchten der Itamaka-berge durchquerte und im Tal des Cuyuni endete, den seit undenklichen Zeiten die wandernden indianischen Händler gegangen waren. Ich hatte die Pistole im Gürtel und eine treffsichere Kugelbüchse über der Schulter. Lasana trug ihren Bogen, mit dem sie nur selten fehlte, und Wagura war mit einem Blasrohr bewaffnet, das in diesen Gegenden nur wenig verwendet wurde. Die kleinen, leichten Geschosse dieser Waffe waren furchtbar. Wenn sie die Haut eines Menschen oder selbst eines großen Tieres nur ein wenig ritzten, so gab es keine Rettung mehr. Das Urari, ein starkes Gift, mit dem sie präpariert waren, führte in wenigen Minuten unweigerlich den Tod herbei. Als wir nach zwei Stunden eine Gegend erreichten, in der gewöhnlich viel Wild anzutreffen war, überraschte uns ein so heftiger Platzregen, daß es im Wald fast finster wurde. Lasana und ich stürzten zu einem mächtigen Baum, den die Indianer Mora nennen, und Wagura suchte etwa vierzig Schritt weiter auf die gleiche Weise Schutz. Trotz der Trockenzeit waren diese Regengüsse an der Tagesordnung. Sie dauerten ein bis zwei Stunden, dann kam die Sonne wieder zum Vorschein und sandte ihre sengenden Strahlen vom azurblauen Himmel hernieder. Diesmal währte das Ungewitter nicht lange. Nach einer halben Stunde begannen sich die Wolken zu verziehen, und es wurde heller im Wald. Wir standen noch unter dem Baum. Ich musterte nach Jägerart unsere Umgebung und ließ meine Blicke auch nach oben schweifen, in das Gewirr der Ästen. In verschwenderischer Fülle schienen hier drei Wälder in einem zu wachsen, denn zu Füßen der hochstämmigen Bäume wucherte ein nicht endender Wall von dichtem Strauchwerk, und oben in den Ästen und Zweigen der Baumriesen breitete sich als drittes Revier die Armee der schmarotzenden Halme und Kräuter aus. Zu allem Überfluß spannten Lianen ihre verschnörkelten Netze nach allen Richtungen und ketteten das schwellende Durcheinander mit unzerreißbaren Seilen zusammen. Ich liebte es, den Blick in diese drängende Üppigkeit zu versenken und mich wohlig betäubendem Sinnen hinzugeben. Plötzlich wurde ich aus meiner Betrachtung gerissen. Vielleicht fünfzehn Schritt von uns entfernt lauerte in den untersten Ästen eines Baumes eine gewaltige Schlange. Ihre lebhafte Färbung, gelbliche Flecken auf graurotem Untergrund, verriet mir, daß es eine graue Komuti war, die in der Nähe des Wassers lebte. Vergeblich versuchte ich die Länge des Reptils zu schätzen, ich konnte nur einen Teil des Körpers sehen; nach dem Umfang zu schließen, mußte es ein riesiges Tier sein. Der Kopf schaute aus den Blättern hervor und beobachtete von oben, was sich auf der Erde abspielte. Sie hatte uns längst entdeckt. Während ich noch überlegte, ob ich schießen solle oder nicht, erregten ungewöhnliche Laute, die von weit her aus der Tiefe des Waldes kamen, unsere Aufmerksamkeit. An mehreren Stellen war das Knacken von Zweigen zu hören, es wurde immer deutlicher und kam rasch näher. Nach einiger Zeit gesellten sich andere Laute hinzu, es klang wie dumpfes, rauhes Schnauben. „Saguinos”, flüsterte Lasana mir zu. Eine ganze Herde Wildschweine kam genau auf uns zu. Ich hatte viel darüber gehört, wie gefährlich dieses Tier dem Menschen werden kann, wenn es gereizt wird. In verblendeter Wut stürzt es sich dann auf jeden Feind, ganz gleich, ob es ein Mensch oder ein Jaguar ist, und meistens wird das Opfer trotz verzweifelter Gegenwehr von den Schweinen zerrissen. Nur die schnelle, rechtzeitige Flucht auf einen Baum kann Rettung vor der rasenden Horde bringen. Der unterste Ast der Mora, unter der wir standen, befand sich ungefähr zehn Fuß über dem Boden. Ich hob Lasana in die Höhe und war ihr behilflich, den Ast zu erklimmen, dann kletterte ich selbst hinauf. Wie wir sahen, hatte auch Wagura einen Baum erstiegen. Ich untersuchte die Zündpfannen, ob sie nicht naß geworden waren, und schüttete neues Pulver auf. „Sieh doch!” Lasana lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Schlange. Diese hatte genau wie wir die Geräusche der näher kommenden Herde vernommen und begann sich zu bewegen. Sie schob sich langsam etwas tiefer. Während ihr Schwanz um einen starken Ast geschlungen war, befanden sich ihr Kopf und der Vorderteil des Körpers nur wenig über dem Erdboden. Bald erstarrten ihre Bewegungen, und nun ähnelte sie eher einer dicken Liane als einer Schlange. Etwas unheimlich Drohendes, Hinterhältiges, Gespensterhaftes ging von ihr aus, und man merkte, daß sie in ihrem plattgedrückten Kopf einen mörderischen Entschluß gefaßt hatte. In diesem Augenblick hatte uns die Herde erreicht. Unter uns und neben uns schoben sich die Schweine durch das Gestrüpp vorwärts, ohne sich zu beeilen. Es waren sehr viele, eine weit auseinandergezogene Reihe, die schnaufend weiterzog. Vielleicht waren es hundert, vielleicht auch mehr, mit bloßem Auge ließ sich das in dem Dickicht schwer feststellen. Ich zögerte mit dem Schießen und wartete, bis möglichst viele Schweine vorbeigezogen waren, Lasana dagegen schoß ihren Pfeil auf eine der ersten Sauen ab. Das Tier erschrak und versuchte, das Geschoß mit der Schnauze aus der Wunde zu reißen, da traf es der zweite Pfeil in der Herzgegend, und es fiel kraftlos auf die Vorderläufe. Sein wütendes Schnauben lockte einen Teil der Herde herbei. Mit gesträubten Nackenborsten umstanden die Schweine die verwundete Sau, hoben gereizt die Köpfe und witterten vernehmlich, doch konnten sie uns nicht entdecken. Da stieß die Schlange plötzlich zu. Sie schlug ihre Kinnladen in den Rücken eines Jungtieres, das gut sechzig oder siebzig Pfund wog, und zog es so blitzschnell nach oben, als wäre es ein leichtes Vögelchen. Weit hallte das durchdringende Quieken des Entführten. Die Schlange achtete nicht auf das Geschrei und die verzweifelten Befreiungsversuche ihres Opfers und schob sich etwas weiter nach oben. Dort legte sie die Beute an den Stamm des Baumes, auf dem sie sich befand, und wand ihren Körper einmal um den Stamm und um das Schwein. Diese Umarmung war tödlich. Das Tier schnaufte noch einmal schwach und rührte sich nicht mehr; sicher waren ihm die Rippen gebrochen und die inneren Organe zerquetscht worden. Das alles spielte sich unter den Augen der Herde ab, die wie gebannt diese Waldtragödie verfolgte. Doch bereits während der letzten Zuckungen des Opfers kam Leben in die Schweine. Einige warfen sich auf den Baum und begannen den Stamm mit ihren Hauern zu bearbeiten. Andere folgten ihrem Beispiel. Der Baum war nicht stark, vier Männerhände hätten ihn umfassen können. Unter dem wütenden Anprall der Zähne erzitterte der Baum bis in die Krone. Die Schlange zog sich so hoch hinauf wie nur möglich. Die rasende Meute verdoppelte ihre Kräfte, Holzsplitter flogen durch die Luit. Mit dumpfem Aufschlag fiel der Körper des toten Tieres auf den Waldboden. Die Schweine erschraken und sprangen zurück, doch gleich darauf warfen sie sich mit noch größerer Wucht gegen den Stamm. Es war klar, daß der Baum dem Ansturm nicht mehr lange widerstehen konnte. Das begriff auch die Schlange. Während der ganzen Zeit hatte Lasana ihren Bogen betätigt. Der Kampf tobte ungefähr zwanzig Schritt von uns entfernt. Jeder Pfeil, den sie abschoß, fand sein Ziel, wenn auch nicht jeder tödlich war. Unwillkürlich fiel mein Blick immer wieder auf die hübsche Frau. Vom Jagdeifer erhitzt, die schwarzen Haare zerzaust, bot sie einen reizenden Anblick. Sie saß rittlings auf einem Ast und hielt sich nur mit den kräftigen Schenkeln fest. Die Geschmeidigkeit ihres Körpers und die schwungvollen Bewegungen ihrer Arme waren bewundernswert. Das Getümmel dort unten und die waidmännische Begeisterung nahmen mich genauso gefangen wie das wohlgestaltete Wesen an meiner Seite, und dabei drängten sich meinen aufgeregten Sinnen Bilder aus der fernen Vergangenheit auf. Als ich noch ein Junge war, entdeckte ich im Vaterhause eines Tages eine Zeichnung. Sie zeigte die römische Göttin Diana, die einen Pfeil auf einen Hirsch abschoß. Das Bild hinterließ damals einen unverlöschlichen Eindruck in mir, und in diesem Augenblick erstand es besonders deutlich vor meinen Augen. Auch ich wagte nun einen Schuß aus der Büchse. Die Wildschweine hörten wohl einen Knall über ihren Köpfen, doch sahen sie in ihrer verblendeten Wut nur einen Feind, die Schlange, und schrieben ihr alles zu, was sich ereignete. So konnte ich ungestört wieder laden und schoß wieder und wieder mit gutem Erfolg in die Herde. Die Schlange erkannte, daß ihre Zufluchtsstätte nicht mehr sicher war und jeden Augenblick umfallen konnte. Die Zweige der benachbarten Bäume reichten dicht bis an die Äste heran, auf die die Mörderin sich zurückgezogen hatte. Leider waren diese Zweige ziemlich dünn und biegsam und hätten die Last des Schlangenkörpers nicht ertragen, doch gab es genug Lianen, darunter auch sehr starke, die sich wie Girlanden von einem Baum zum andern schwangen und mehrere Stämme miteinander verbanden. Eine solche Liane wählte die Schlange für ihren Fluchtweg. Sie traf eine schlechte Wahl. Die Pflanze selbst war stark, unzerreißbar, doch hatte sie sich an dem Ast nicht sehr festgehakt. Die Schlange, die sich mit äußerster Vorsicht bewegte, befand sich ungefähr in der Mitte der Liane, als diese unter der gewaltigen Last nach unten zu rutschen begann. Die Wildschweine bemerkten es, brachen in höllischen Lärm aus und sprangen immer wieder in die Höhe, um den Feind zu packen, erreichten ihn aber nicht. Die Schlange hätte sich vielleicht gerettet, wenn sie nicht die Beherrschung verloren hätte. Sie trachtete danach, möglichst schnell den nächsten Baum zu erreichen, und machte eine ruckartige Bewegung. Es krachte verdächtig in den Zweigen, und die Liane senkte sich erneut um einige Fuß tiefer. Die Schweine waren wie von Sinnen. Sie schaubten wütend, sprangen immer wieder hoch — doch vergebens. Es war nicht leicht für die Schlange, auf einer so brüchigen, gleitenden Stütze festen Halt zu finden. Einen Augenblick schien es, als habe sie das Gleichgewicht verloren. Sie verlagerte die Windungen ihres Körpers und löste dabei unwillkürlich den Schwanz von der Liane. Einem großen Keiler, der gerade in die Höhe sprang, gelang es, sich im Schwanz festzubeißen. Er ließ nicht mehr los. Durch den plötzlichen Ruck wurde die Schlange etwas heruntergezogen. Andere Schweine sprangen hinzu und schlugen ihre Zähne in den Körper des Feindes und zerrten ihn auf den Boden. Mit zwei oder drei Schweinen wäre die Riesin fertig geworden, aber nicht mit allen. Während sich ihr Rachen an der Schnauze des einen festbiß, rissen die andern in unbezähmbarer Wut ganze Stücke aus ihrem Körper, bis sie in kurzer Zeit zerfetzt war. In der Luft breitete sich ein starker, moschusartiger Geruch aus. Der Wut der Wildschweine war mit dem Sieg nicht Genüge getan, sie rächten sich nun an dem Körper der Schlange. Zum Teil fraßen sie ihn auf, begleitet von lautem Schmatzen und anderen abstoßenden Geräuschen. Langsam begannen sie sich zu beruhigen. Plötzlich hoben einige Tiere den Kopf und witterten. Irgend etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Im ersten Augenblick glaubte ich, daß sie uns entdeckt hätten; doch blickten sie nicht zu uns herüber, sondern ins Dickicht, aus dem sie gekommen waren. Aufgeregt schnaufend und sichtlich erschreckt, rannten sie hinter dem Teil der Herde her, der bereits weitergezogen war. Nur die von uns getöteten und verwundeten Schweine, die am Verenden waren, blieben auf dem Schauplatz zurück. Noch konnten wir den Lärm der fliehenden Herde vernehmen, als im Dickicht unter uns eine große Gestalt auftauchte — ein gelblicher, gefleckter, länglicher Körper glitt durch das Gebüsch dahin. Ein Jaguar! durchzuckte es mich. Ja, es war ein Jaguar, der den Spuren der Wildschweine folgte. Auch er wollte der Herde ein Stück entreißen. Als er näher kam und die vielen toten und verwundeten Tiere erblickte, stutzte er. Er war keine dreißig Schritt von uns entfernt, wir konnten ihn genau beobachten. Das Gebaren des Raubtieres zeigte deutlich, daß es durch den ungewöhnlichen Anblick berunruhigt war. Es duckte sich ganz auf den Boden, und seine stechenden Katzen- augen schweiften nach rechts und nach links. Ohne Zweifel versuchte es zu ergründen, welch rätselhafter Kampf sich hier abgespielt hatte. „Er sieht zu uns herüber”, flüsterte Lasana. „Bewege dich nicht’, gab ich zurück und vergaß in der Aufregung, daß ich doch nicht arawakisch sprechen durfte. Der Jaguar ließ uns nicht mehr aus den Augen, die grausam blitzten. Er hatte uns also entdeckt. Ob er uns für Affen hielt und sich einen guten Fang versprach? Ich will es nicht verhehlen: mir liefen Schauer über den Körper. Die Büchse war leergeschossen, und zum Laden war keine Zeit mehr. Es blieben also nur die Pistole und das Messer im Gürtel. Die Pistole war wohl geladen, aber wie es mit dem Pulver auf der Pfanne aussah, das wußte ich nicht. Vorsichtig tastete ich nach dem Griff der Waffe, zog sie ganz langsam heraus und brachte sie in Anschlag. Ich spannte den Hahn. Das Pulver war trocken. Erleichtert atmete ich auf. Das Raubtier schenkte den vor ihm liegenden Wildschweinen überhaupt keine Beachtung mehr, dafür verschlang es uns geradezu mit seinen blutdürstigen Augen. Endlich begann es sich zu bewegen und schob sich langsam auf uns zu. In diesem lauernden Schleichen lag die fürchterliche Drohung eines unerbittlichen Schicksals, vor dem es kein Entrinnen gab. Mit einem Satz konnte uns der Jaguar von unten nicht erreichen, dazu war der Ast zu hoch; doch konnte die auf Bäumen sehr gewandte Raubkatze den Stamm erklettern und so der gesichteten Beute näher kommen. Während ich mit beiden Händen die schußbereite Pistole auf den Jaguar richtete, warf ich ab und zu einen Blick auf meine Gefährtin. Ich bemerkte, daß sie keinesfalls den Kopf verloren hatte, im Gegenteil, auch sie bereitete sich auf die Verteidigung vor. Sie hatte ihren letzten Pfeil auf die Sehne gelegt und wartete geduckt auf den Angriff. Ihre Ruhe, ihr Mut und ihre Bereitschaft zum Kampf beeindruckten mich zutiefst und erfüllten mein Herz mit eigenartiger Zärtlichkeit. Der Jaguar schlich immer näher. Es gab keinen Zweifel mehr, daß er es auf uns abgesehen hatte. Er kam bis auf etwa zehn Schritt heran und kauerte sich nieder. Seine Augen schienen Feuer zu sprühen, und sein völliges Schweigen steigerte das Entsetzliche der Situation. Das Tier verharrte regungslos, nur der Schwanz fegte den Waldboden. Plötzlich bemerkte ich, daß sich sein Körper über den Hintertatzen etwas anhob — das war der Augenblick vor dem Sprung. Die Pistole in meinen Händen war ständig auf seinen Schädel gerichtet. Als die Raubkatze zum Sprung ansetzte und das Korn auf dem Lauf ihr Auge deckte, krümmte ich den Finger. Zugleich mit dem Knall des Schusses tat der Jaguar einen verzweifelten Luftsprung und stieß ein durchdringendes kurzes Brüllen aus. Es war ein schmerzvolles Aufbrüllen Schwer fiel er zu Boden, lag eine Weile wie bewußtlos und verschwand dann mit plumpen Sprüngen im Dickicht. Er lief ungeschickt, wie betäubt, als ob ihm etwas hinderlich wäre. „Es hat ihn erwischt, es hat ihn erwischt!” schrie Lasana aus Leibeskräften, ergriff mich vor lauter Freude an den Schultern und zog mich zu sich. „Gib acht, sonst fallen wir hinunter!” Ich wehrte mich, während wir beide in lautes Lachen ausbrachen. Dieses Lachen überkam uns plötzlich und verschaffte uns Erleichterung nach der unmenschlichen Anspannung der letzten Minuten. Langsam beruhigten wir uns und suchten zunächst einmal den Schauplatz des Kampfes mit den Augen ab. Der Jaguar war im Dschungel verschwunden, er war nicht mehr gefährlich, wahrscheinlich saß ihm die Kugel im Kopf. Überall lagen Wildschweine, fürwahr eine stattliche und schöne Beute. Mit diesem Fleisch konnten wir alle Freunde und Nachbarn für einige Zeit mit Nahrung versorgen. Das Glück war uns wirklich hold gewesen. Ich war ganz trunken und außer mir vor Freude. Zu allem Überfluß strahlte die Sonne wieder vom Himmel herab und tauchte die Welt in zauberhaftes Licht, dessen Strahlen auch den Weg in die Gründe des Waldes fanden und wie goldene Schnüre in der Luft hingen. Bevor ich vom Baum hinunterstieg, lud ich zur Vorsicht Büchse und Pistole. Von unten blickte ich in das freudestrahlende Gesicht Lasanas, und noch nie war sie mir so reizend und so liebenswert erschienen. Ich legte Waffen und Jagdgerät neben den Stamm auf die Erde, streckte die Arme empor und deutete ihr an, sie solle herunter-springen. Sie tat es mit der Anmut eines flatternden Kolibris und fiel mir in den Arm wie eine reife Frucht. Ich war wie betäubt. Wie Raubtiere erwachten plötzlich die begehrenden Sinne. Ich ergriff mit der linken Hand ihre Nackenhaare und zog ihren Kopf zu mir heran. Mit dem harten Blick eines Menschen, der entschlossen ist zu besitzen, sättigte ich mich an jedem Zug ihres reizvollen Gesichts und trank erregendes Lustgefühl aus ihren Augen. Diese Augen, die eben noch lustig dreingeschaut hatten, überzogen sich mit einem feuchten Schleier. Ich hielt ihre Haare fest, als hätte ich die unsinnige Befürchtung, daß sie mir entwischen könnte, umschlang mit dem rechten Arm ihre Taille und preßte sie an mich. Sie wehrte sich nicht. Mit beiden Armen umspannte sie meinen Hals. Wir waren im Begriff, auf die Erde zu gleiten, als wir von weitem die Stimme Waguras hörten, der fröhliche Rufe ausstieß und schnell auf uns zukam. Das brachte uns in die Wirklichkeit zurück. Ich ließ Lasana los und trat zurück. Sie schüttelte den Kopf, damit sich die Haare ordneten, griff sich in die Nackengegend, wo ich sie festgehalten hatte, und drohte mir lächelnd: „Das tat weh!” „Sehr?” Sie verneinte schnell und lachte schelmisch. Wir töteten die verwundeten Wildschweine, trugen sie alle an einer Stelle zusammen und machten uns an die zeitraubende Arbeit des Ausweidens. Sie nahm einige Stunden in Anspruch. Dann hängten wir die Beute an den Ästen der umstehenden Bäume auf; die Indianer aus dem Dorf sollten sie später holen. Zwei Schweine banden wir zusammen, hängten sie über einen Stock und nahmen sie mit. Im ganzen hatten wir mehr als zwanzig Wildschweine er-legt, einige davon waren das Opfer von Waguras Blasrohr geworden. Den Jaguar fanden wir nicht, allerdings suchten wir auch nicht lange. Zwischen Leben und Tod Als wir uns der Siedlung näherten, hatte die Sonne gerade erst ihren höchsten Punkt überschritten. Da das Fleisch der Wildschweine sehr leicht averdarb, eilten wir ohne zu rasten den Pfad entlang. Ein Vorfall, der mich fast das Leben gekostet hätte, ereignete sich nicht mehr weit von unseren Hütten, viel-leicht hundert Schritt, bevor wir den Rand des Urwaldes erreichten. Ich ging voran und trug das eine Ende des Stockes, an dem die Schweine hingen, auf meiner Schulter. Der Pfad war schmal, so daß uns öfter Zweige ins Gesicht schlugen. Wieder einmal verspürte ich einen Schlag an der linken Schulter, weder schmerzhaft noch außergewöhnlich. Als ich zur Seite blickte, schien es mir, als bewege sich etwas im Gebüsch. Ich sah genauer hin und erkannte, daß es eine Schlange war. Noch lag sie auf dem Zweig auf der Lauer. Sie mochte an die drei Fuß lang sein, und die Form ihres Kopfes verriet mir sofort, daß sie giftig war. „Vorsicht!” rief ich und gab mir Mühe, meiner Stimme einen möglichst ruhigen Klang zu verleihen. „Eben hat mich eine Schlange gebissen!” „Wo?” rief Wagura aus, als schräke er aus einem Traum hoch. »Wo?* „An der linken Schulter”, antwortete ich und trat schnell auf die rechte Seite des Pfades. „Dort auf dem Ast liegt sie!” Lasana, die hinter uns ging, war der Schlange am nächsten. Sie tat einen Sprung und führte einen so mächtigen Schlag mit dem Bogen, daß der Schlange das Rückgrat brach. Das getroffene Reptil glitt von dem Zweig herunter, fiel aber nicht zur Erde, sondern blieb in der Luft hängen. „Sie ist angebunden!” rief Wagura verwundert aus. Wirklich, die Schlange war mit dem Schwanz an dem Ast festgebunden. Irgend jemand mußte sie über dem Pfad befestigt haben, damit sie Vorüberkommende beiße, und sie hatte ein Opfer gefunden! Beide Gefährten eilten zu mir. Ich zeigte ihnen die Stelle, an der ich den Biß verspürt hatte. Es waren nur zwei winzige Pünktchen zu sehen; niemand hätte vermutet, daß dies ein Schlangenbiß sei. Auf den Gesichtern der Freunde malte sich große Bestürzung. „Ein Messer!” stieß Lasana heiser hervor; ihre Stimme klang völlig fremd. Sie riß das Messer aus meinem Gürtel; doch Wagura nahm es ihr aus der Hand und erklärte, daß er das besser verstände. Beide verlangten, ich solle mich schnell niedersetzen. Der junge Indianer hielt meine Schulter fest und begann an der Stelle des Bisses mit schnellen Schnitten die Haut zu öffnen. Die tiefe Wunde blutete stark, doch er schenkte dem keine Beachtung und schnitt immer weiter. Gleichzeitig knetete er die Schulter, um möglichst viel Blut herauszupressen. Ich verbiß den Schmerz, denn ich war mir bewußt, was auf dem Spiel stand. Endlich legte Wagura das Messer beiseite und neigte sich über die Wunde, um Blut aus ihr zu saugen. Lasana aber stieß ihn gewaltsam zur Seite und herrschte ihn an: „Nein, das darfst du nicht tun! Du hast eine Wunde an der Lippe!” Dann beugte sie sich über mich und begann kräftig Blut zu saugen, das sie seitwärts ausspie. Sie saugte nicht nur, sondern biß in das Fleisch der Wunde, als wolle sie die Öffnung noch vergrößern. In kurzer Zeit waren ihre Hände, das Gesicht und die Brust mit Blut beschmiert. Das alles geschah blitzschnell, viel schneller, als man es beschreiben kann. Seit dem Biß der Schlange mochte kaum eine Minute vergangen sein, als sich Lasana, vor Anstrengung nach Atem ringend, einen Augenblick aufrichtete. Kaum gewahrte sie den untätig zuschauenden Wagura, da fauchte sie ihn auch schon an: „Lauf zu meiner Mutter! Erzähl ihr, was geschehen ist!” „Und was weiter?” „Sie soll sofort mit der Medizin hierherkommen. Los, lauf schon!” Und Wagura raste davon; erjagte dahin wie ein Hirschbock. Wie hatten mich die beiden doch in ihr Herz geschlossen! Ich selbst saß da wie ein Götzenbild und versuchte der Verblüffung über die Bestürzung und wahnsinnige Hast meiner Begleiter Herr zu werden. Obgleich ich mich noch gut an den Hund erinnerte, der nach einem Schlangenbiß so schnell verendet war, und manche anderen traurigen Ereignisse hatte erzählen hören, wollte mir der Ernst des Augenblicks und die Bestürzung der Freunde nicht in den Sinn, da ich weder Schmerz verspürte — außer dem, den das Messer Waguras verursacht hatte — noch unter Krämpfen litt. Lediglich ein leichtes Schwindelgefühl machte sich manchmal bemerkbar. Lasana saugte noch immer mit aller Kraft das Blut, das immer spärlicher floß, da ich sicher bereits ein Liter verloren hatte. Als sie innehielt, blickte ich in ihr blasses Gesicht, aus dem der Ausdruck der Bestürzung nicht schwinden wollte, und fragte sie, war-um sie Wagura verboten habe zu saugen. „Das Blut in deiner Wunde ist schlecht’, erklärte sie mir, „es kann zehn Menschen vergiften, wenn nur ein Tropfen davon in ihr Blut gelangt. Wagura hat eine Wunde im Mund.” „Und du? Kannst nicht auch du eine kleine verborgene Wunde haben?” „Ich glaube, daß ich keine habe.” „Du bist dir also nicht ganz sicher?” „Wer kann völlig sicher sein?” „Und trotzdem saugst du das Blut?” „Ich sauge es’, erwiderte sie in einem Ton, als ob es ihre selbstverständliche Pflicht sei nur zu helfen und sich dieser Gefahr auszusetzen. Während dieses kurzen Gesprächs überkam mich plötzlich ein starkes Schwindelgefühl, und da auch die Schulter zu schmerzen begann, wurde ich unruhig. Gleich darauf fühlte ich, wie mir der Schweiß aus allen Poren trat und in Bächen den Körper hinabrann. Das Gift war also doch in den Körper gelangt und breitete sich immer weiter aus. Mit quälender Deutlichkeit erstand nun vor meinen Augen das Bild des Hundes, der sich in den letzten Zuckungen wand. „Du wirst nicht sterben!” hörte ich Lasanas geflüsterte Worte dicht an meinem Ohr; der Klang ihrer Stimme schien durch eine Wand zu kommen. „Nein, du wirst nicht sterben!” Sie wiederholte es wie eine Beschwörung. Vom Fluß her kamen Menschen gelaufen. Sie stützten mich und forderten mich auf, einen abscheulich bitteren Absud aus irgendwelchen teuflischen Kräutern zu trinken. Das Zeug schmeckte so scheußlich, daß sich die Eingeweide im Leib umzudrehen schienen, und tatsächlich begann ich mich fürchterlich zu erbrechen und mich meiner Notdurft zu entledigen. Zwar fühlte ich mich zusehends schwächer, doch im Kopf wurde es klarer, und der Schmerz in der Schulter ließ nach. Gleich darauf drückte mir Arasybo einen großen Kürbis an den Mund und goß mir besonders starken Kaschiri in die Kehle. Andere hielten meinen Kopf, damit er nicht nach hinten falle. Bereits nach einigen Schlucken war ich ganz benommen, doch der Hinkende ließ nicht nach und goß mir so lange Kaschiri in den Mund, bis ich, völlig betrunken, das Bewußtsein verlor. Als ich wieder zu mir kam, war es bereits dunkel. Nur langsam erwachten die starren Sinne, als ob es ihnen Mühe bereite, in diese Welt zurückzukehren. Erst der dumpfe Schmerz unerträglichen Durstgefühls ließ mich völlig zu Bewußtsein kommen. Ich lag auf dem Lager in unserer Hütte. Vor der Hütte brannte ein Feuer, dessen Schein mir in die Augen fiel. Neben mir stand ein Krug mit Wasser. Ich streckte die Hand aus, führte ihn an die Lippen und trank gierig. Den linken Arm konnte ich nicht bewegen. Die um das Feuer sitzenden Freunde vernahmen die Geräusche, die ich verursachte, und kamen zu mir herein. Als sie sahen, daß ich das Bewußtsein wiedererlangt hatte, waren sie außer sich vor Freude. „Die Seele kehrt in den Körper zurück”, behauptete Manauri. „Gebt ihm noch mehr Wasser zu trinken.” Ich war völlig klar, nur fühlte ich mich sehr schwach. Der Schmerz am linken Arm hatte nachgelassen, das war ein gutes Zeichen. Arnak berührte meine Stirn. „Er schwitzt nicht mehr!” rief er den Freunden frohlockend zu. Auch mir schien es, daß ein Wendepunkt eingetreten sei, daß der Körper das Gift überwunden hatte, dieses schreckliche Gift, dessen Wirkung so entsetzlich war. Nur ein kleines Tröpfchen war durch den Biß der Schlange unter meine Haut gelangt, Wagura hatte es sofort herausgeschnitten, Lasana hatte das Blut aus der Wunde gesaugt, und doch hatte das tausendste Teilchen des Giftes, das trotz allem in die Blutbahn gelangt war, genügt, um einen starken, gesunden Mann umzuwerfen, als habe ihn der Blitz gefällt. Was für eine unermeßliche, verderbenbringende Macht wohnte ihm inne, der widerstrebende menschliche Verstand konnte es kaum fassen, und dieses Böse, Vernichtende lauerte im Urwald, aber nicht nur im Urwald allein, auch im Innern mancher Menschen. „Wir haben noch zwei Schlangen im Gebüsch gefunden”, berichtete Arnak. „Waren sie auch angebunden?’ fragte ich mit schwacher Stimme. „Ja, sie waren ebenfalls angebunden”, antwortete er und biß sich auf die Lippe. Nach einer Weile rückte er noch näher an mein Lager heran, schwieg und starrte finster zu Boden. Plötzlich stieß er mit gepreßter Stimme hervor: „Wir haben beraten, was wir tun sollen. Das hier muß ein Ende nehmen.” „Was?” Ich sah ihm ernst ins Gesicht. „Einige sind der Meinung, daß es am besten sei, Serima zu verlassen und weiter oben am Itamaka eine neue Siedlung zu gründen. Andere widersetzen sich diesem Vorschlag, sie wollen hierbleiben und Karapana und Koneso töten. Es ist die Mehrzahl unserer Sippe.” Arnak sah, daß sich mein Gesicht verzog, und unterbrach seine Rede. „Was wurde beschlossen?” fragte ich. „Von Serima wegzugehen ist gefährlich. Jeden Tag können die Akawois auftauchen. Solange wir zusammenbleiben, sind wir stark, trennen wir uns aber, so sind wir leicht einem Überfall ausgesetzt, der uns zum Verderben werden kann. Es gibt also nur die zweite Möglichkeit: hierbleiben und sie töten! Wir haben daher beschlossen, daß wir hingehen und sie totschlagen.” Trotz meiner Schwäche richtete ich mich auf und rief zornig: „Nein, das werdet ihr nicht tun! Das dürft ihr nicht tun!” wiederholte ich so laut, wie meine Kräfte es zuließen. Mit aufgerissenen Augen verfolgte Arnak meinen Zornesausbruch. Von einem Menschen, der dem zweiten hinterhältigen Anschlag auf sein Leben noch nicht entronnen war, hatte er diesen Widerspruch nicht erwartet. „Denk daran, wer dir mit den Schlangen nachgestellt hat’, brachte er entrüstet vor. „Ich denke daran!” „Und dennoch nimmst du sie in Schutz?” „Ich nehme sie nicht in Schutz!” „Du hast doch eben gesagt, du gestattest nicht, daß sie getötet werden.” „Das werde ich auch nie zulassen!” Ängstlich betrachtete mich Arnak, als wolle er sich überzeugen, ob ich nicht den Verstand verloren hätte. Ich mußte lächeln. „Nehmt doch Vernunft an”, sagte ich dann und seufzte. „Vernunft?” In seiner Stimme lagen Empörung und Hohn. „Die Vernunft gebietet, daß wir sie erschlagen wie räudige Hunde! Warum läßt du es nicht zu?” „Wir sind kaum dreißig Krieger, sie aber sind zehnmal mehr.” „Es werden viele zu uns halten.” „Viele, aber nicht alle. Der Oberhäuptling und der Zauberer, das bedeutet Ansehen und Macht, du selbst hast es oft genug gesagt. Sicher ist die Zahl ihrer Anhänger groß, und diese werden ihren Tod rächen. Es wird zu einem Bruderkrieg kommen, dem abscheulichsten aller Kriege, der schon manchen viel mächtigeren Volksstamm als den euren völlig ausgerottet hat. Außerdem besteht die Gefahr, daß die Akawois über euch herfallen.” „Vielleicht kommen sie gar nicht. Wer will es wissen?” „Auch wenn sie nicht kämen! Soll sich der Stamm im eigenen Dorf gegenseitig vernichten? Nein, Arnak, dein Beschluß gefällt mir nicht.” „Ich will nur dein Bestes, Jan! Es geht um dich”, erwiderte er etwas verlegen. Im Schein des flackernden Feuers merkte ich, was die verschlossenen Züge Arnaks verbargen. Sorge und Trauer erfüllten ihn. Ich ergriff mit der Rechten seine Hand und drückte sie herzlich. „Ich weiß, Arnak, daß du es gut meinst.” Bewegt nickte ich ihm zu. „Doch wenn es euch um mich geht, so höre mich an.” In kurzen, aber eindringlichen Worten legte ich ihm meinen Standpunkt dar: Gerade, weil es sich um mich handele, wolle ich um jeden Preis ein Blutvergießen vermeiden. Ich sei ein Fremder, wenn auch kein Eindringling, und würde es nicht ertragen, wenn meinetwegen ein Bruderkrieg entstehen sollte. Zwar seien Koneso und Karapana durch irgendwelche Vorstellungen verblendet und verfolgten mich mit verbissener Wut, doch habe ich die Hoffnung nicht verloren, daß sie sich früher oder später von ihrem Irrtum überzeugen würden. „Und wenn sie sich nicht überzeugen?” unterbrach er mich. „Dann bleibt nichts anderes übrig, als doppelt wachsam zu sein. Verstehst du mich, Arnak?” „Ich verstehe dich, Jan.” Ich bat ihn, Manauri und den andern meine Anordnung zu über-bringen, daß keine feindseligen Schritte getan werden dürften. Das widersprach natürlich ihren Absichten, besonders denen des Häuptlings, doch hatten sie gelobt, mir zu gehorchen. Als der Morgen graute, brachen alle Männer auf, um die erlegten Wildschweine aus dem Urwald zu holen. Vor dem Aufbruch teilte mir Arnak mit: „Lasana und ihre Mutter werden dich betreuen.” Bevor er die Hütte verließ, fragte er mich noch: „Soll ich dir eine Waffe bereitlegen?” „Wozu? — Nun gut, lege die Pistole hierher.” Das Gespräch mit den Freunden hatte an meinen Kräften gezehrt. Nachdem sich die Männer auf den Weg gemacht hatten, erschien Lasana und deckte frische Heilkräuter auf meine Wunde. „Ich danke dir, Zauberpalme”, sagte ich in herzlichem Ton. „Wofür bedankst du dich?” „Für das, was du jetzt getan hast, und für das im Wald.” „Daß ich von deinem Blut getrunken habe?” Fröhlich lachend zeigte sie ihre Zähne. „Es hat sehr gut geschmeckt. Übrigens wirst du in drei Tagen wieder gesund sein.” „Und wann wird die Wunde verheilen?” „Das dauert länger, o ja. Den linken Arm wirst du viele Tage nicht gebrauchen können.” „Das bereitet dir sicher Freude?” „Das sollte mich freuen?” Sie überlegte. „Weshalb sollte ich mich darüber freuen?” „Weil ich dich mit dieser Hand nun nicht am Schopf fassen und dir keinen Schmerz bereiten kann!” „Ach so!” Sie beugte sich zu mir herab, in ihren Augen zuckten spöttische Blitze. „Hast du nicht noch eine Hand, die gesund ist?” Im nächsten Augenblick aber trat sie verwirrt einen Schritt zu-rück und betrachtete mich mit forschendem Blick, als wolle sie in meinem Innern lesen. „Hallo!” rief ich lachend. „Erkennst du den nicht mehr, der hier liegt?” „Nein”, erwiderte sie kurz und streng. „Ich bin es, der Weiße Jaguar”, scherzte ich weiter. „Ich habe wohl im Urwald schon so etwas gemerkt”, murmelte sie in Gedanken, ohne auf meinen fröhlichen Ton einzugehen. „Du sprichst doch arawakisch! Wie ist das möglich?” „Ich habe es gelernt.” „Wann denn?” fragte sie verwundert. „Ich habe euren Gesprächen zugehört, Arnak, Wagura, Manauri und dir. Ja, ja, auch dir habe ich zugehört.” Ich lachte lautlos vor mich hin. „Was stimmt dich denn so fröhlich?” „Mir fällt da ein nächtliches Gespräch zwischen einer gewissen hübschen jungen Frau und ihrem Häuptling ein, das am Fuße des Geierberges an Bord eines Schoners geführt worden ist.” „Das hast du auch verstanden?’ „Ja.” „Und du hast nichts gesagt?’ „Ihr habt doch genug gesprochen.” Ich merkte an den Augen Lasanas, wie sehr sie durch das, was ich ihr eben verraten hatte, in Verwirrung geriet. Sie war einfach sprachlos. „Du hast keinen Grund, dich zu schämen.” Zärtlich streichelte ich ihr die Hand. „Damals wurde von dir verlangt, daß du mich, wie Manauri sich ausdrückte, an dich fesseln sollst. Du aber fühltest dich in deiner Würde verletzt und hast dieses Ansinnen entschieden zurückgewiesen. Damals hast du mein Herz für dich eingenommen.” „So habe ich dich doch gefesselt!” platzte sie heraus. „Allerdings’, gab ich zu, „und möchtest du es nicht noch mehr für dich einnehmen?” „Das möchte ich schon.” „So sage niemandem, daß ich Arawakisch verstehe. Das soll unter uns bleiben.” In den folgenden Minuten überfiel mich wieder eine Art Ohnmacht, die Augenlider fielen mir zu, und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Lasana plapperte noch etwas, doch konnte ich den Sinn ihrer Worte nicht mehr verstehen. Scheußliche Traumbilder begannen mich zu quälen. Kämpfende Brudermörder erschienen, schlangenartige Ungeheuer drangen auf mich ein, fauchend und hartnäckig, bis plötzlich ein schneidendes Sausen das Traumgespinst zerriß und ich langsam zu mir kam. Vom Hofe her waren erregte Stimmen zu hören — diesmal aber wirklich. In einem klaren Augenblick erkannte ich an den Stimmen, wer dort draußen stritt. Es waren Lasana, Koneso und Karapana. Lasana verwehrte ihnen den Eintritt in meine Hütte. „Es geht nicht”, rief sie gereizt und hartnäckig. „Manauri hat es verboten, ich darf niemanden einlassen!” „Auch mir, dem Oberhäuptling, hat er den Zutritt verboten?” „Für jeden! Niemand darf hinein!” „Mach Platz, du, sonst schlagen wir dir den Schädel ein”, zischte Koneso. „Wir wollen ihn nur sehen — und ihm helfen!” Lasana sah ein, daß sie allein mit diesen beiden nicht fertig werden konnte, und alle Männer unserer Sippe waren im Urwald. Nach einiger Überlegung willigte sie daher ein und erklärte: „Gut. Die Waffen aber legt ihr vor der Hütte ab! Mit den Keulen dürft ihr nicht hinein.” „Du sollst deinen Willen haben”, lenkte der Häuptling ein. „Dieses Weib ist ein Satan.” „Hündin”, knurrte der Zauberer. Es war bereits heller Tag, vor einer Stunde ungefähr mochte die Sonne aufgegangen sein. Obwohl der Eingang mit einem Fell verhängt war, konnte man in der Hütte gut sehen. Kaum hatte ich die Stimmen erkannt, griff ich schnell nach der Pistole, spannte den Hahn und verbarg sie unter der Matte, mit der ich zugedeckt war. Ich behielt die Waffe in der Hand, legte sie neben meinen rechten Schenkel und hatte den Zeigefinger am Abzug. Zunächst erschienen die beiden Männer, hinter ihnen betrat Lasana die Hütte. Sie ließen den Eingang offen und näherten sich meinem Lager. Lasana blieb seitwärts stehen und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Ich lag auf dem Rücken und hielt die starr auf die Kante des Daches gerichteten Augen nur halb geschlossen, wie es bei bewegungsunfähigen Menschen zu sein pflegt. Durch den Spalt des Augenlides konnte ich die Gestalten der Näherkommenden gerade erkennen. Sie blieben vor mir stehen und betrachteten mich lange, ohne ein Wort zu sprechen. Dann beugte sich Karapana herab und versenkte seinen aufmerksamen Blick in meine Augen. Lange verharrte er so, und ich mußte alle Kraft aufbieten, um mich nicht durch eine unbedachte Bewegung zu verraten. Ich sah, wie sich der Adamsapfel in seinem dürren Hals auf und nieder bewegte. „Es hat ihn richtig erwischt”, preßte er endlich zwischen den Zähnen hervor und verzog sein Gesicht zu einem häßlichen Grinsen. „Er ist halbtot.” „Ob er stirbt?’ fragte Koneso. „Bestimmt stirbt er, bestimmt.” „Wann?’ „Das weiß ich nicht. Vielleicht schon bald.” In der Überzeugung, daß ich ihre Sprache nicht verstehe, unterhielten sie sich offen, ohne Rücksicht auf die Anwesenheit Lasa-nas. Da sie genau neben mir standen, konnte ich jedes ihrer Worte verstehen. „Seine Augen sind etwas geöffnet”, bemerkte der Häuptling mißtrauisch. „Aber er sieht nicht mehr viel”, beruhigte ihn Karapana. „Es sei denn... ” „Was meinst du?” „Es sei denn, daß er sich vor uns verstellt.” Da kam Koneso ganz nahe heran und betrachetete mich eine gute Minute lang eindringlich. „Er ist sehr bleich”, bestätigte er, „aber er lebt.” „Lange wird er nicht mehr leben”, knurrte der Zauberer, und noch einmal erschien seine runzlige, böswillige Fratze vor meinen Augen. Er bedachte mich mit einem so schrecklichen, haßerfüllten Blick, der leicht erraten ließ, daß dieser unversöhnliche Feind das Todesurteil über mich gesprochen hatte. „Und wenn er sich verstellt?’ fragte Koneso zweifelnd. „Auch dann wird er nicht mehr lange leben, du kannst beruhigt sein”, wiederholte Karapana, der seiner Sache sehr sicher schien. Bisher hatte ich alles, was sich um mich herum abspielte, mit äußerster Spannung verfolgt. Der Griff der Pistole, den ich in meiner Hand fühlte, wirkte beruhigend. Bei den letzten Worten des Zauberers, die eine geheimnisvolle Drohung enthielten, wurde ich unruhig, und mein Herz begann wild zu schlagen. Von welcher Seite drohte die Gefahr? „Lasana”, wandte sich der Zauberer an die Frau, „zeige uns die Wunde.” „Wir wollen ihn nicht berühren”, ergänzte der Häuptling, „das könnte schlecht ausgelegt werden.” „Die Wunde ist mit Blättern überklebt’, wehrte Lasana ab. „Das macht nichts! Hast du ihn gepflegt?” „Nein, meine Mutter.” „Rufe die Mutter herbei!” Sie zögerte einen Augenblick, ob sie mich mit den beiden allein, lassen solle, doch dann erkannte sie wohl, daß mir gegenwärtig keine Gefahr drohe. Übrigens entfernte sie sich nur zwei Schritt vom Eingang und rief ihrer Mutter einige Worte zu, die sich in der nahe gelegenen Hütte befand; dann kehrte sie sofort zurück. In dieser kurzen Zeit geschah etwas Geheimnisvolles in der Nähe meines Lagers. Karapana huschte hinter mich, beugte sich nieder, als ob er etwas suche, doch konnte ich nicht bemerken, was er tat, da ich den Kopf nicht bewegen wollte. Ein feines, eigenartiges Geräusch drang an mein Ohr, aber so schwach, daß ich nur schwer erraten konnte, was es verursacht hatte. Es hörte sich an wie ein leises Gluckern oder Klingen, es konnte aber auch ein Rascheln gewesen sein. Es blieb mir nur ganz kurze Zeit gegenwärtig, denn schon trat Lasana ein und betrachtete die beiden Männer und das Innere der Hütte mit mißtrauischem Blick. Als sie nichts Verdächtiges wahrnehmen konnte, erklärte sie, daß ihre Mutter gleich kommen werde. Als die alte Frau erschien, entblößte sie meine Wunde; zum Glück schlug sie die Matte nur auf der linken Seite zurück, so daß die Pistole unentdeckt blieb. Karapana lobte die Behandlung und übergab den Frauen einige von seinen Kräutern, die er als äußerst wirkungsvoll bezeichnete. Gleichzeitig fügte er jedoch hinzu, daß es fraglich wäre, ob sie in diesem Fall noch Hilfe bringen könnten, denn nach seiner Meinung sei dem Kranken doch nicht mehr zu helfen. „Warum sollten sie nicht heIfen?” fragte die Alte verwundert. „Es geht ihm doch schon besser.” „Das habe ich nicht feststellen können”, erklärte der Zauberer barsch. „Liegt er bereits. lange so starr?” „Schon eine ganze Zeit, zuvor aber hat er sich bewegt.” „Der Tod ist nicht mehr fern, deshalb ist er so starr. Bis zum Abend wird er sterben.” Die Frau war anderer Meinung, doch sie durfte dem Zauberer nicht widersprechen, und seine Eröffnung versetzte sie in Schrecken. „Er wird sterben”, wiederholte Karapana und schwelgte in dieser Vorstellung. „Er stirbt, weil ihn eine ganz besondere Schlange gebissen hat.” „Eine besondere Schlange?’ „Ja, er wurde von einer beschworenen Schlange gebissen.” „Wir wissen, wer sie beschworen und an dem Zweig festgebunden hat!” brauste Lasana zornig auf. „Du überkluges Mädchen”, wies sie der Zauberer mit düsterer Miene zurecht. „Du, in deiner Dummheit, würdest nie darauf kommen, wer die Schlange beschworen hat.” „Wer hat sie denn beschworen?” „Er selbst.” „Wer? Der Weiße Jaguar?” „Er selbst war es!” In dem folgenden Schweigen gaben die Gesichter der Frauen ihrem Zweifel beredten Ausdruck. „Ja, er selbst, es ist so”, versicherte Karapana. „Du, Lasana, bist jung und dumm, aber deine Mutter kann dir erzählen, daß Ka-naima in verschiedenen Gestalten auftritt. Die schlimmsten sind solche, die den Eindruck erwecken, daß sie gute Menschen sind. Vielleicht sind sie wirklich gute Menschen, nur wissen sie nicht, daß ihr Körper die verderbenbringende Seele Kanaimas beherbergt. Während ihr Körper im Schlaf liegt, trennt sich die Seele von ihm und fügt Menschen und Tieren viel Böses zu; sie tötet, vergiftet das Blut und hetzt Schlangen auf die Menschen. — Sage ihr, ob es solche Menschen gibt.” Er wandte sich der Alten zu. „Die gibt es!” bestätigte diese verängstigt. „Und nun sagt mir, ihr Dummköpfe, was wißt ihr schon von eurem Weißen Jaguar? Was wißt ihr von seinen Untaten und Freveln, die er im Schlaf begeht, wenn er wahrscheinlich selbst: nichts davon ahnt, wenn er selbst nicht weiß, daß die verbrecherische Seele Kanaimas in ihm steckt?” „Und du, woran erkennst du denn, daß er eine solche Seele hat?’ fragte Lasana. „Sieh mich an, Mädchen! Betrachte mein Gesicht und zähle die Jahre, die es .zeigt — so viele Jahre, so viele Erfahrungen. Wenn du zu sehen vermagst, dann wirst du es verstehen!” „Meine Augen sind gut’, antwortete sie stolz, „und gerade deshalb sehe ich in ihm nichts von Kanaima, in dir aber sehe ich Wut und maßlosen Haß, obgleich du ein großer Zauberer bist!” Einen Augenblick trat Schweigen ein. Ich war entschlossen, dem Zauberer eine Kugel in den Schädel zu jagen, wenn er sich auf Lasana stürzen sollte. Aber er rührte sich nicht. Er schluckte seine Wut hinunter, zwang sich, ruhig zu bleiben, und zischte mit heiserer Stimme: „Er wird jetzt krepieren. Und du, böses Weib, nimm dich in acht, daß du ihm nicht bald nachfolgst.” Nach diesen Worten drehte er sich um und ging dem Ausgang zu. Koneso aber packte Lasana an den Schultern und begann sie wild zu schütteln. „Wenn du Verstand hast und am Leben bleiben willst”, sprudelte er hervor und schluckte, da ihm vor Begierde und Wut der Speichel aus dem Munde floß, „wenn du am Leben bleiben willst, so weißt du, was du zu tun hast! Ich allein, nur ich kann dich vor dem Tode bewahren. Ich befehle dir, sofort in meine Hütte zu gehen!” „Rühr mich nicht an, du ekliges Scheusal”, vernahm ich Lasanas kalte Stimme. „Ich will, daß du am Leben bleibst”, lallte der Häuptling mit fast flehender Stimme. „Ich befehle dir. . .” Plötzlich ließ er von ihr ab und eilte Karapana nach, der die Hütte bereits verlassen hatte. Nachdem die beiden gegangen waren, deutete die Mutter auf mich und fragte ihre Tochter: „Haben sie ihn berührt?” „Nein.” Das beruhigte die Alte, zerstreute aber ihre Bedenken nicht. Ihr Gesicht verriet Unwillen, und die Blicke, mit denen sie mich betrachtete, waren nicht sehr freundlich. Sollte das lächerliche Gefasel des Zauberers über meine unheilbringende Seele doch einen Eindruck hinterlassen haben? Vielleicht nahm sie mir auch die Scherereien übel, die sie meinetwegen in Kauf nehmen mußte? Ich lächelte ihr zu, doch sie rührte sich nicht. Erst als ich die Pistole unter der Matte hervorzog, heiterten sich die Gesichter der Frauen auf, da sie erkannten, daß wir Koneso und Karapana nicht wehrlos gegenübergestanden hatten, und die Alte wurde wieder freundlicher zu mir. Sie machten sich beide daran, die von Karapana überbrachten Kräuter genau zu untersuchen, ob er nichts Giftiges daruntergemischt habe. Ich selbst durchforschte die Umgebung meines Lagers, wo sich der Zauberer so geheimnisvoll zu schaffen gemacht hatte. Hier befand sich aber nur der Krug mit dem für mich bestimmten Trinkwasser. Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke, bei dem es mich heiß überlief. Es konnte gar nicht anders sein: Das Gluckern und Scharren mußte dadurch entstanden sein, daß das Wasser im Krug um-gerührt worden war, umgerührt aber wurde es, um darin etwas aufzulösen. Sollte es ein Gift gewesen sein? Es mußte wohl so sein, sonst hätte Karapana nicht mit solcher Sicherheit behauptet, daß ich noch heute das Zeitliche segnen würde. Meiner Wachsamkeit war es zu verdanken, daß wir die Absicht dieses schlauen Lumpen entdeckten, bevor es zu spät war. „Kommt einmal her”, rief ich. „Hier wartet eine Überraschung auf euch.” Ich bat Lasana, einen halben Flaschenkürbis zu bringen, das Wasser aus meinem Krug hineinzugießen und es dem fremden Hund, der mit den beiden Gästen in unsere Hütte gekommen war und noch in der Nähe umherlief, zu saufen zu geben. „Das ist Konesos Hund”, bemerkte Lasanas Mutter. „Um so besser!” Ich war nicht ganz sicher, ob sich mein Verdacht bestätigen werde. Als der Hund von dem Wasser getrunken hatte, tollte er mit andern Kötern vor der Hütte umher. Nach ungefähr einer Viertelstunde kam Lasana gelaufen und berichtete, daß der Hund zusammengebrochen sei und hilflos mit den Pfoten um sich schlage. Bald darauf erlag er der Wirkung des Giftes. Als ich dies hörte, lächelte ich befriedigt; innerlich aber war ich traurig und erregt. Der grenzenlose Haß des Zauberers übte eine tiefe Wirkung auf mich aus. Mit der drückenden Vorstellung, daß ein Kampf auf Biegen und Brechen unvermeidlich sein werde, fiel ich von neuem in einen bleiernen Schlaf. Ich erwachte durch lautes Schreien. Diesmal waren es freudige Rufe, die ich zu hören bekam, die Unsern kehrten mit der Jagdbeute zurück. Während sie die vielen Wildschweine vor der Hütte ablegten, stürzten Wagura und Arnak herein und schwenkten mit leuchtenden Augen ein über Bambusstangen hängendes Jaguarfell. „Hier ist er!” jauchzte Wagura. „Das Fell ist unversehrt”, lobte Arnak. „Kein einziges Loch. Hast du ihn durch Zauber getötet?” Der gute Junge wußte genau, auf welche Weise der Jaguar sein Leben gelassen hatte, er scherzte nur; mich aber brachte dieser Scherz auf einen bestimmten Gedanken. „Vielleicht habe ich ihn durch Zauber getötet, das ist eigentlich kein schlechter Einfall!” Ich lachte. „Lag er weit entfernt vom Ort des Schusses?” „Hundert Schritt. Die Kugel ist ihm durch das linke Auge ins Gehirn gedrungen.” Nun erschienen Manauri, der Neger Miguel und einige Indianer in der Hütte. Alle waren froher Laune. „Zehn und zehn und noch acht Schweine liegen draußen!” rief Manauri freudig erregt. „Rate uns, wie wir sie verteilen sollen, Jan.” „Zwölf gebt Konesos Leuten, acht sind für Pirokaj, und die restlichen acht bleiben für unsere Sippe.” ,Ist das nicht zuviel für die dort?” Dem Häuptling kamen Bedenken. „Nein!” „Und Karapana erhält nichts von der Beute?” „Natürlich bekommt auch er seinen Teil. Er erhält das Jaguarfell.” „Das Jaguarfell? Das Fell des Jaguars soll ihm gehören?” Alle waren der Meinung, sie hätten mich schlecht verstanden oder ich hätte die Frage Manauris nicht richtig aufgefaßt. „Ihr habt schon richtig gehört, Karapana erhält das Jaguarfell”, wiederholte ich noch einmal. Wagura griff sich an den Kopf, die andern erhoben ein Geschrei: „Jan! Diesem Lumpen ein so schönes Fell? Das ist Wahnsinn! Der Jaguar, dein Symbol, soll ihm gehören?” „Jawohl, er soll ihm gehören!” bekräftigte ich und amüsierte mich köstlich über ihre verdutzten Mienen. „Jan, er wird es falsch auslegen. Er wird der Meinung sein, daß du Angst vor ihm hast und ihn besänftigen willst; er darf das Fell nicht bekommen”, wandte Arnak empört ein. „Er bekommt es!” beharrte ich auf meiner Entscheidung. „Und ihr werdet sehen, daß er mich richtig versteht.” Jetzt meldeten sich die beiden Frauen zu Wort und erzählten den Freunden, daß der Zauberer einen neuen Anschlag auf mein Leben verübt habe. Das Auge des Jaguars Das Volk der Arawaken, dessen nördlicher Teil jetzt am Itamaka lebte, führte ein anderes Dasein als die Mehrzahl der südamerikanischen Indianer; insbesondere unterschied es sich von den Stämmen, die in den Wäldern hausten. Die Arawaken waren im Gegensatz zu den Akawois und den anderen Kariben Ackerbauer, die ihren Unterhalt durch Bearbeitung des Bodens sicherstellten. Das zwang sie nicht nur zu einer seßhaften Lebensweise, sondern hatte auch zur Folge, daß sie sich gewisse handwerkliche Fertigkeiten aneigneten. Vor allem waren ihre Töpf erarbeiten bekannt, und die besonders von den Frauen hergestellten Gewebe hatten geradezu Berühmtheit erlangt. Auf primitiven Geräten entstanden vielfarbige Erzeugnisse der Weberei sowie mannigfach geformte Gefäße von manchmal riesigen Ausmaßen. Sie dienten als Tauschwaren, die bei den übrigen Stämmen sehr begehrt waren. Wenn es nicht regnete, saß Lasanas Mutter jeden Tag vor der Hütte und webte mehrere Stunden kunstvoll gemusterte Matten aus Pflanzenfasern. An Geistesgewandtheit dagegen überragten die Arawaken die anderen Stämme nur wenig und waren wie diese von einem Netz verworrenen Aberglaubens umgeben. Zauber, Beschwörungen, Geister und Dämonen in vielerlei Gestalt bestimmten ihr Leben. Manchmal hatte ich das Empfinden, daß ihre düsteren abergläubischen Vorstellungen der verwirrenden Schrecklichkeit der uns von allen Seiten umgebenden Wildnis ähnelten; denn sie waren genauso ineinander verhaftet und ließen sich genauso schwer zerreißen oder entwirren wie das marternde Dickicht, das dem Vordringen Einhalt gebot. Die durchweg bösartigen und stets angriffslustigen Dämonen vermochten angeblich verschiedene Gestalten anzunehmen. Bald erschienen sie als gräßliche Untiere, bald als furchterregende Gespenster, oder sie blieben unsichtbar und waren dann noch schrecklicher. Sie peinigten die Menschen im Schlaf, vergifteten ihnen das Blut, ließen die Pfade im Urwald verschwinden und verwirrten den Jägern den Verstand; anderen brachten sie Krankheiten und Tod. Der Mensch stand ihnen meistens wehrlos gegenüber und versuchte sich durch Amulette zu schützen, so gut er es vermochte. Doch gab es auch Menschen, die mit den unheilbringenden Kräften einen Bund geschlossen hatten, ja, die sich selbst nach Belieben in Dämonen oder blutgierige Bestien verwandeln konnten. Diese menschlichen Ungeheuer fügten nach dem Glauben der Indianer ihren Nächsten viel Böses zu, und der Zauberer des Stammes mußte seine ganzen Fähigkeiten, aufbieten, um sie zu entlarven und dem Tod zu überantworten. Besonderen Schrecken verbreiteten solche Unheilbringer, die völlig unschuldige, ehrliche und gutmütige Menschen waren, aber die blutdürstige Seele eines grausamen Dämons in sich beherbergten, ohne daß sie es wußten. Wenn sie schliefen, verließ die Seele heimlich ihren Körper und richtete in der Umgebung entsetzliches Unheil an, selbst im engsten Kreis der Familie. Diese unfreiwilligen Feinde des Stammes aufzuspüren war am schwierigsten. Der schurkische Hinweis Karapanas, daß ich eine solche Seele besitze, konnte mich in große Bedrängnis bringen, denn wie sollte ich die Unwahrheit einer derartigen Beschuldigung nachweisen? Zum Glück wurden die Angehörigen unserer Sippe nicht mehr so stark von diesen Vorstellungen beherrscht, und Arnak hatte erst vor kurzem die letzten Reste des Aberglaubens von sich abgeschüttelt. Am Tage nach der Verteilung der Jagdbeute berief ich Arnak, Wagura, Manauri, Arasybo und Lasana an mein Lager, um ihnen darzulegen, was ich gegen den Zauberer zu unternehmen gedachte. „Endlich ist es soweit.” Manauri knirschte wütend mit den Zähnen. „Endlich hast du es eingesehen. Wann sollen wir ihn töten?’ „0 nein”, erwiderte ich. „Getötet darf er nicht werden.” „Er wird uns immer neuen Schaden zufügen.” „Wir werden ihn mit der gleichen Waffe bekämpfen, die er gegen mich gebraucht hat: mit einem Zauber!” „Mit einem Zauber?’ Zweifel erklangen in der Stimme des Häuptlings, als er die Worte langsam wiederholte. Ich wollte sie nicht weiter auf die Folter spannen und begann ihnen meinen Plan zu erläutern: „Du, Arnak, überbringst mit zwei Freunden Karapana das Jaguarfell und eröffnest ihm feierlich, daß es ein Geschenk von mir ist. Dann erklärst du ihm, daß das Auge, durch welches ich das Tier getötet habe, über magische Kräfte verfügt, daß es alles sieht, was der Zauberer im Schilde führt, und es dem Schädel des Jaguars mitteilt, den ich zurückbehalte. Der Schädel aber setzt im gleichen Augenblick mich davon in Kenntnis. Er habe mir auch verraten, daß mein Trinkwasser vergiftet worden war, und Konesos Hund habe es mit dem Leben bezahlen müssen. Außerdem sagst du ihm, daß es sinnlos sei, das Fell beiseite zu schaffen oder zu vernichten, denn das Zauberauge werde trotzdem alles sehen und den Schädel und mich unterrichten. Dann fügst du noch hinzu, daß mich das Jaguarfell vor allen Gefahren schütze, daß es jeden gegen mich gerichteten Anschlag abwende und auf den Urheber selbst zurückfallen lasse. Genauso, wie es Konesos Hund ergangen sei, würde es auch jedem Menschen ergehen; es gebe keine Zauber, die ihn davor bewahren könnten. Willst du das tun, Arnak?” „Ich gehe.” „Ob das Karapana bezähmen wird?’ warf Manauri ein. „Ich glaube, ja”, versicherte ich, obgleich ich nicht fest davon überzeugt war. Das alles war vielleicht etwas primitiv, doch rechnete ich mit der krankhaften Einbildungskraft und dem abergläubischen Wahn Karapanas und seiner Anhänger. „Das wirkt, das macht ihn zahm!” schrie Arasybo in einem plötzlichen Ausbruch haßerfüllter Begeisterung. „Der Schreck wird in ihn fahren. Das Auge des Jaguars wird ihn in seinen Zauberbann zwingen!” Manauri warf ihm einen unfreundlichen Blick zu und fuhr ihn an: „Was schreist du so? Dummkopf!” „Arasybo ist gar nicht so dumm”, nahm Arnak den Hinkenden in Schutz und fügte belustigt hinzu: „Er ist doch selbst ein halber Zauberer. Er kennt die Kniffe von dem dort!” Der Häuptling zuckte die Achseln, Arasybo aber rief mit mächtiger Stimme: „Ich sage euch, Karapana bekommt einen gewaltigen Schreck! Er wird das Auge des Jaguars fürchten!” Das Fell war bereits mit dem Absud einer giftigen Liane bearbeitet worden, um es vor der Zerstörung durch Parasiten zu schützen; und konnte daher gleich überbracht werden. Die Gesandten trafen Karapana in seiner Zeremonienhütte, die mehrere hundert Schritt von der eigentlichen Siedlung Konesos entfernt lag. Der Zauberer begrüßte Arnak mit einem spöttischen Kichern. Gelassen hörte er sich die Botschaft an, zeigte weder Verblüffung noch Schrecken, sondern gab lediglich seiner Freude darüber Ausdruck, daß er ein so schönes Fell besitzen dürfe. „Das linke Auge ist verzaubert’, wiederholte Arnak noch ein-mal mit einem drohenden Unterton, als hätte Karapana seine Worte vorher nicht richtig vernommen. „Das Auge gehorcht dem Weißen Jaguar und unterrichtet ihn über alles.” „Der Weiße Jaguar hat also das linke Auge herausgeschossen?” fragte der Zauberer. „So ist es.” „Und das rechte Auge hat er nicht verletzt?” „Nein.” „Er hat es nicht verletzt, sagst du?” Karapana ließ ein unmenschliches Lachen hören. Es dröhnte wie grollendes Bellen, gleich darauf wie brüllendes Wiehern, daß Arnak und seinen beiden Gefährten vor Schreck das Herz im Leibe stockte. „Er hat das rechte Auge nicht verletzt”, krächzte der Zauberer. „So gehorcht nur das linke Auge dem Weißen Jaguar! Und das rechte Auge? Gehorcht es ihm auch? Sprich!” „Das weiß ich nicht’, stotterte der junge Indianer. „Über das rechte Auge hat der Weiße Jaguar nichts gesagt?’ „Nein.” „So, darüber hat er nichts gesagt?’ knurrte der Alte. „Dann werde ich es dir sagen! Weißt du, wem das rechte Auge des Tieres gehorsam sein wird?” „So sage es!” „Das linke Auge dient dem Weißen Jaguar, aber das rechte Auge wird mir gehorchen.” Er wurde von einem unaufhörlichen häßlichen Lachen geschüttelt und stieß immer öfter schrille Schreie und fürchterliche Beschwörungen aus, die er wie Keulenschläge auf die Köpfe der drei herabsausen ließ. Dabei wiederholte er von Zeit zu Zeit: „Mir gehorcht es! Mir wird es dienen!” Eine halbe Stunde später vernahmen wir in der Hütte den Bericht Arnaks und verharrten in düsterem Schweigen. „Ich habe es gleich gesagt’, äußerte Manauri vorwurfsvoll. „Karapana ist ein großer Zauberer, er ist unüberwindlich. Er hat sich über dich lustig gemacht, Jan! Er hat deinem Zauber standgehalten! Ihm kann man so nicht beikommen. Es gibt nur ein Ding, mit dem an ihn unschädlich machen kann.. „Wir wissen, wir wissen es”, entgegnete ich ungeduldig. „Eine Kugel in den Schädel!” „Sehr richtig: eine Bleikugel in seinen Schädel!” „Nein”, widersetzte ich mich. „Daraus wird nichts!” „Für deinen Zauber hatte er nur Spott”, bohrte der Häuptling hartnäckig und bissig weiter. „Das rechte Auge wird ihm gehorsam sein. Ausgerechnet ihm! Wir haben nicht daran gedacht, an dieses Auge.. Plötzlich trat Arasybo an mein Lager heran. Sein Gesicht mit den schielenden Augen war durch wütenden Jähzorn noch mehr entstellt. „Das stimmt nicht’, krächzte der Hinkende. „Das rechte Auge des Jaguars wird ihm nicht gehorsam sein!” „Pah!” schnaubte Manauri höhnisch. „Nein, es wird ihm nicht gehorchen! Du bist ja so mächtig, du bringst das bestimmt zuwege!” „Ja, das werde ich!” Arasybos Worte klangen wie ein Schlag mit der Axt. Alle Blicke wandten sich dem Krüppel zu, der äußerst erregt war. Seine Augen schossen flammende Blitze. Mit vor Aufregung gedämpfter Stimme setzte er uns sein Vorhaben auseinander: „Der Weiße Jaguar kann ruhig schlafen und seiner Genesung entgegengehen. Karapana wird ihm keinen Schaden zufügen. Er ist zwar ein großer Zauberer und ein böser Mensch, aber über das Auge des Tieres wird er keine Macht gewinnen. Wie der Weiße Jaguar erklärt hat, wirken die Augen des Jaguars nur über den Schädel. Ich werde die rechte Augenhöhle mit Lehm verschmieren, dann kann Karapana über dieses Auge nichts mehr wahrnehmen und niemandem Schaden zufügen. Den Schädel aber bringe ich vor der Hütte an, damit es alle sehen können, daß ein Auge mit einer Kruste überzogen, also machtlos ist.. .” „Und wenn den Schädel jemand stiehlt?” Manauri verzog den Mund und schnaubte verächtlich. „Das soll er versuchen!” In den schielenden Augen glimmte Haß auf. „Ich werde den Schädel Tag und Nacht bewachen. Wer versuchen sollte, ihn zu stehlen, der ist des Todes!” Die Freunde versanken in Nachsinnen. Mir wurde plötzlich unwohl. Alles um mich herum begann sich zu drehen, die gequälten Sinne versagten den Dienst, und beklemmende Hitze erschwerte mir das Atmen. Vielleicht war es eine Folge des Schlangengiftes, daß mich ein geradezu schmerzhaftes Gefühl der Verlassenheit überkam. Wer waren diese Menschen dort? Waren es wirklich Freunde? In dem Halbdunkel konnte ich ihre bronzefarbenen Gesichter nicht mehr unterscheiden, und auch das legte sich drückend auf mich wie eine Last. Gewaltige Angst vor der Fremdheit jener Menschen schnürte mir die Kehle zu, ich befürchtete, daß weder ich sie noch sie mich jemals wirklich verstehen würden. Wie war das doch gewesen? Ich hatte den Streich mit dem Zauberkraft besitzenden Auge des Jaguars mehr in spielerischer Absicht ersonnen, um diesem Haßbesessenen einen Schreck einzujagen, um ihn in die Enge zu treiben und durch diese Posse zur Besinnung zu rufen. Ich konnte doch nur aus Scherz auf so eine Idee verfallen sein, ebenso meine Freunde, anders war es gar nicht möglich! Und nun war dieser spielerische Scherz wie ein Ball an der Hütte Karapanas abgeprallt und in veränderter Gestalt zu uns zurückgekehrt. Er hatte aufgehört, Scherz zu sein; Auge, Fell und Schädel des Jaguars waren tatsächlich zu Merkmalen magischer Kräfte geworden. Arasybo, dieser ehrliche, ergebene Bursche, sprach bereits begeistert und mit ungewöhnlichem Ernst von diesem Zauber, und auch die Freunde nahmen seine Worte ernst und hörten ihm nachdenklich zu! Es war beängstigend und versetzte mich in nie gekannten Schrecken. Alles ringsumher stand mir feindlich, unmenschlich, unbegreiflich gegenüber, durchdrungen von Zaubern und Geistern, atmete grauenvolle Fremdheit. Aus dem Düster der Wildnis und aus dem Dunkel der abergläubischen Seelen brachen Dämonen in meine Hütte ein, gespenstische Wesen und Wahnvorstellungen schoben sich als feindliche Schwelle zwischen mich und die mir befreundeten Menschen, nahmen diesen die menschlichen, wohlvertrauten Züge. Ein krankhafter Sehnsuchtsschrei löste sich aus meinem Innern, ein Schrei nach einem Menschen, nach einem guten, fröhlich lächelnden Menschen, der nicht der Zauberkraft eines Jaguarauges nachgrübelte. Die Schwüle wurde immer drückender, zeitweise raubte sie mir das Bewußtsein. Im Kopf verspürte ich einen abscheulichen Druck, und plötzlich durchzuckte mich ein schneidender Schmerz. Mir wurde schwarz vor den Augen. In diesem Augenblick vernahm ich wie aus weiter Ferne die besorgte Stimme Arnaks. „Jan, was ist dir? Wie er schwitzt! Jetzt ist er ohnmächtig geworden.” Seine Stimme, die Besorgnis des jungen Freundes verliehen den schwindenden Sinnen neue Kraft, wandten sie wieder dem Leben zu. Langsam kehrte das Bewußtsein zurück. Ich zwang mich zu einem Lächeln und sah mich um. „Wer ist ohnmächtig geworden?” fragte ich. „Ich glaubte, du hättest.. .”, murmelte er englisch. Wie dankbar war ich ihm, daß er die Laute meiner Muttersprache an mein Ohr dringen ließ. Er berührte meine Stirn. Gleichzeitig drückte mir jemand mitfühlend und kräftig die Hand: es war Lasana. Ich kam völlig zu mir, der Schwächeanfall war vorüber. Alles in der Hütte war wie zuvor. Dort stand Manauri mit höhnisch verbissener Miene, hier der erregte Arasybo mit blitzenden Augen. „Karapana? Er hat sich über eure Botschaft lustig gemacht”, wiederholte der Häuptling eigensinnig. „Euer Jaguar läßt ihn völlig kalt. Er lacht euch ins Gesicht. Er verhöhnt euch. Er hat euch ausgelacht. Haha!. . .” Plötzlich fuhr er mit veränderter Stimme fort: „Es gibt nur eines: ihm eine Kugel in den Schädel jagen!” Arasybo winkte mit beiden Händen ab, um den spöttischen Erguß Manauris zu unterbrechen, und wandte sich dann Arnak zu: „Ich kenne ihn durch und durch.” Seine Stimme überschlug sich. „Ich kenne diesen Teufel wie kein anderer!” „Ich glaube es”, erwiderte der junge Indianer, den die Heftigkeit des Hinkenden überraschte. „Sage mir, Arnak, wie sah er aus, als er euch empfing, als er lachte? Sprich schon!” „Wie soll er ausgesehen haben? Wie immer ...” „Kannst du dich nicht erinnern, ob sein Adamsapfel auf und nieder hüpfte, hinauf, herunter, hinauf, herunter?” „Allerdings... und wie er hüpfte! Er flog geradezu hinauf und herunter!” „Wie eine Ratte in der Falle?” „Genauso, wie eine Ratte in der Falle.” „Du irrst dich bestimmt nicht?” „Nein.” Langsam wandte' Arasybo sein wutverzerrtes Gesicht dem Häuptling zu und fragte in spöttischem Tonfall: „Hast du gehört, was Arnak sagt?” „Natürlich habe ich es gehört’, schnaubte Manauri, „doch was soll es schon bedeuten?” „Es bedeutet, daß der Spott des Zauberers nur äußerlich war, im Herzen aber saß ihm die Angst. Ich kenne diesen Lumpen. Wenn ihm der Adamsapfel auf und nieder hüpft, so ist das ein Zeichen seiner Unruhe.” Die Worte des Hinkenden machten Eindruck. Nur Manauri schenkte ihnen keinen Glauben und beharrte auf seinem Standpunkt. Höhnisch rief er immer wieder: „Er hat euch verlacht, ausgelacht hat er euch!” „Er hatte Angst!” schrie Arasybo. „Ausgelacht hat er euch!” brüllte der Häuptling noch lauter. „Die Angst hatte ihn gepackt, er war sehr erschrocken!” Wütend standen die beiden einander gegenüber und maßen sich mit jähzornigen Blicken. Wieder kam die Schwäche über mich, ich fühlte eine Ohnmacht nahen und war von Ekel und Abscheu erfüllt. Das Blut wich aus dem Kopf, vor den Augen wurde es dunkel. „Genug’, stöhnte ich mit letzter Kraft. „Habt doch Vernunft!” Bestürzt und beschämt sahen sie zu mir hin, langsam verrauchte ihre Wut, und ihre Züge begannen sich zu glätten. „Gehen wir hinaus”, flüsterte Arnak. „Er soll schlafen.” Sie verließen die Hütte, nur Lasana blieb zurück. Sie trat an das Lager heran, erschrak und beugte sich zu mir herab. Ihre Augen, die große Sorge und Anhänglichkeit verrieten, waren in diesem Augenblick mehr als schön, es waren mütterliche Augen. Hier stand ein Mensch mit Herz und voller Hingabe. Aber war er mir nahe? Ob er verstehen konnte, was mich so schaudern ließ, wie mich diese Fremdheit, diese feindselige, abergläubische Welt quälte? „Es würgt mich, ich habe keine Luft”, stöhnte ich. Sie neigte sich noch mehr herab und blickte mir forschend in die Augen. Ihre Haare berührten mein Gesicht. In ihnen lagen der Duft des warmen Frauenkörpers und der herbe Geruch der Wildnis. Lasana hatte wohl einen beängstigenden Ausdruck in meinem Gesicht festgestellt, denn sie wurde unruhig. „Was bedrückt dich so?” fragte sie mit weicher Stimme. „Ihr Haß.” „Wessen? Karapanas?” „Nicht nur der Haß Karapanas. Auch Manauris, Arasybos ...” Sie wandte sich ab und überlegte eine Weile, dann sprach sie laut: „Ich empfinde keinen Haß!” „Ihre Wut, ihre Feindseligkeit vergiften mich.” Klagend entrangen sich die Worte meiner Brust. „Jan, ich bin kein Feind. In mir ist kein Zorn.” „Ach, Lasana, ob du mich verstehen kannst? Ihre düsteren Vorstellungen lähmen meine Kräfte, ihr Aberglaube will mich in die Finsternis zerren. . .” „In mir ist es hell, Jan. Strahlender Sonnenschein. Ich verstehe dich.” „Du gehörst zu ihnen, Mädchen.” „Nein! Ich gehöre zu dir, Jan!” In ihrer Stimme schwang tiefe Zuneigung. Sie ließ sich nicht verstoßen. Sie kämpfte um ihren Platz an meiner Seite. Ihre Augen waren weit geöffnet. Ich fühlte, wie mir das Blut machtvoller zum Herzen drängte. Als ich die rechte Hand auf ihre Schulter legte, war es mir, als berührte ich das Leben selbst. Ein warmer, erfrischender Strom ging von ihr auf mich über. Am nächsten Tag erwachte ich bedeutend gesünder und kräftiger. Ich stand auf und setzte mich einige Minuten vor die Hütte. Die Niedergeschlagenheit des gestrigen Tages war verflogen, ich war von einem neuen Geist beseelt. Etwa zwanzig Schritt von meiner Hütte entfernt war ein zwei Meter hoher Pfahl in die Erde gerammt, und auf der Spitze dieses Pfahles stak der Schädel des Jaguars. In einem Ameisenhaufen war er von den Fleischresten gesäubert worden und fletschte nun die stattlichen Raubtierzähne. Er war schon von weitem zu sehen. Anstelle des linken Auges gähnte eine dunkle Öffnung, während das rechte, mit Lehm und Holzspänen überzogene Auge blind und aus einer gewissen Entfernung überhaupt nicht zu erkennen war. Es sah aus, als wäre hier nur das Zeichen unserer Sippe zur Schau gestellt, und doch hatten wir ihm die fürchterliche Kraft einer Zauberfalle verliehen, die den Feind verwirren, seinen Wider-stand brechen und ihn vernichten sollte. Unwillkürlich schauderte mich beim Anblick von Arasybos Werk. Der Hinkende selbst hatte in der Nähe Posten bezogen, kam aber sofort aus seinem Versteck hervor, als er meiner gewahr wurde. Sein häßlicher Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. „Siehst du, wie schön er hängt?” begrüßte er mich lebhaft. „Ich bewache ihn auch gut.” Die linke Augenhöhle des Schädels war auf Serima und die Hütte Karapanas gerichtet. Zwischen der Siedlung und unseren Hütten zog sich eine schmale Baumreihe bis zum Flußufer hin. Konesos Niederlassung war also von uns aus nicht zu sehen, der Schädel aber bleckte seine Fangzähne genau in diese Richtung. Arasybo befand sich in ausgezeichneter Laune. „Worüber freust du dich so?” sprach ich ihn an. „Ich habe Grund zur Freude”, antwortete er mit geheimnisvoller Miene und stolz erhobenem Haupt, gleichzeitig deutete er mit dem Daumen auf den Jaguarschädel. „Die Saat ist aufgegangen!” „Welche Saat?” „Karapana ist rasend! Hörst du die Maraka?” Einige Nachbarn traten aus ihren Hütten und kamen zu uns. Sie waren alle erregt und bestätigten, daß sich der Zauberer wie rasend gebärde. Als Arasybo gestern den Schädel aufgestellt hatte, wurde dies durch Späher Karapana hinterbracht, und dieser hatte sofort begonnen, aus allen Kräften dem Zauber entgegenzuwirken und das böse Auge unschädlich zu machen. Er verfiel in Raserei. Wie ein Verrückter umkreiste er tanzend seine Zeremonienhütte und tat es immer noch, ohne in der Nacht ein Auge geschlossen zu haben. Er stieß entsetzliche Verwünschungen aus, wurde von Zuckungen und Krämpfen befallen und hatte Schaum vor dem Mund. Tatsächlich war im ganzen Ort ein ununterbrochenes Raunen und Rasseln zu vernehmen, begleitet vom Dröhnen der Trommel des Zauberers. Die Menschen in Serima befanden sich in großer Angst. „Was ist das, die Maraka?” „Sie ist das wichtigste Gerät des Zauberers.” Wie ich erfuhr, war es eine hohle, harte Frucht, in der sich kleine Steinchen befanden, also eine simple Klapper, der aber eine große Zauberkraft innewohnen sollte. „Es hilft ihm alles nichts.” Arasybo kicherte, und sein ganzes Gesicht strahlte Grausamkeit, Haß und eine an Wahnsinn grenzende Befriedigung aus. „Wir haben ihn, Weißer Jaguar, wir haben ihn! Und wir lassen ihn nicht mehr entkommen.” „Ob das wirklich von uns abhängt?” äußerte ich zweifelnd. „Das Auge des Jaguars verfolgt ihn!” schrie er triumphierend. „Er ist in der Gewalt des Auges!” „Vielleicht kann er sich daraus frei machen?” „Nein, das gelingt ihm nicht! Er wird tanzen, bis er die Besinnung verliert und umfällt wie ein krepierender Hund; dann wird er sich von neuem erheben, tanzen und wieder umfallen; so geht es weiter bis zum Ende. . .” „Wird er zugrunde gehen?” „Er ist dem Tode verfallen. Er verliert den Verstand, das Herz wird ihm zerreißen, und er wird sterben. . .” Arasybo schwelgte in einer geradezu lasterhaften Wollust, er fühlte sich als Rächer einstmals erlittenen Unrechts. Die übrigen Mitglieder unserer Sippe aber teilten seine Gefühle nicht. Ihnen war es schwer ums Herz, denn sie befürchteten, daß der schreckliche Zauberer, wenn er auch schließlich umkommen würde, in seiner Raserei entsetzlicher Verbrechen fähig sei. Wie allgemein bekannt, ist ein tollwütiger Hund äußerst gefährlich, um wieviel gefährlicher war erst ein rasender Zauberer! Sie hatten Angst, Arasybo aber triumphierte. „Wir haben ihn!” Er knirschte mit den Zähnen. „Der Schädel bringt ihn um!” Als mich Lasanas Mutter draußen auf dem Platz entdeckte, kam sie herbeigelaufen, schalt mich aus und jagte mich zurück auf mein Lager. Nachdem ich einige Stunden geruht hatte, hielt ich es nicht mehr aus und stand gegen Abend wiederum auf. „Oh, du fühlst dich ja sehr stark”, hänselte mich Lasana, ihre Augen aber drückten Anerkennung aus. „Du bist ein richtiger Jaguar, du hast das Gift überwunden!” „Das habe ich dir zu verdanken, Zauberpalme.” „Du wirst zusehends kräftiger.” Sie maß mich von oben bis unten mit frohlockenden Augen, aus denen der Spott völlig verschwunden war. Beide mußten wir lachen, es war ein glückliches Lachen. Ich fühlte, daß ich bald gesund sein würde. Von weit her, aus der Richtung von Serima, ertönte ununterbrochen das dumpfe Dröhnen der Trommel. Arnak, Arasybo und ich unternahmen einen Erkundungsgang. Wir gingen gemächlichen Schrittes, damit es mir nicht schade. Ich hatte das Fernrohr mitgenommen, die beiden Gefährten waren mit Büchsen bewaffnet. Wir durchquerten nun den schmalen Waldstreifen, der unsere Hütten von Serima trennte, und hielten uns am Dickichtrand, um von den Bewohnern der Siedlung nicht gesehen zu werden. Die Hütte Karapanas stand etwas abseits, fast am Rande des Urwalds. Wir waren ungefähr dreihundert Schritt von ihr entfernt und konnten sie gut beobachten, da sie von einem breiten Wiesenstreifen umgeben war. Plötzlich entdeckten wir den Zauberer. Tanzend umkreiste er die Hütte, dabei vollführte er eigenartige Bewegungen, die denen eines Betrunkenen ähnelten. Er stieß wilde Beschwörungsformeln aus, rief Rachegeister an, schwenkte geistesabwesend die Arme und stampfte mit den Füßen. Seine beiden Hände schüttelten unablässig je eine Maraka, deren schnarrende Töne bis zum Fluß zu hören waren. Etwas seitlich saß Karapanas Lehrling auf der Erde und schlug auf der Trommel den Takt. Es hatte ihn gewaltig gepackt! Länger als vierundzwanzig Stunden tobte er bereits ohne Unterbrechung, und doch konnten wir keine Anzeichen von Ermüdung an ihm bemerken. Sicher hatte er ein stark wirkendes Kräftigungsmittel eingenommen. Zwar schleuderte er abscheuliche Verwünschungen nach allen Seiten, doch sah man ihm an, daß ein mächtiger Fluch, der ihn wie ein unsichtbares Netz umspannte, seine Bewegungen beeinflußte und ihn zwang, Sprünge und Drehungen zu vollführen wie ein Raubtier an der Kette. Ob es ihm gelang, sich frei zu machen? „Er ist verloren”, rief Arasybo mit sonderbar gurgelnder Stimme. „Sein Verstand verwirrt sich!” Dieser erschütternde Anblick erweckte Widerwillen und zugleich eine gewisse Befriedigung. Hier hatte das Schicksal in grausamer Weise Gerechtigkeit walten lassen. Dort drüben geschahen geheimnisvolle, abstoßende Dinge; doch was ich auch immer von ihnen halten mochte, eines war sicher: Karapana war in eine Schlinge geraten, der er wohl kaum noch entrinnen konnte. „Die Leute sagen, er wäre fähig, in seiner Raserei Schaden anzurichten”, warf ich ein. „Das kann eintreten”, bestätigte Arnak. „Dazu kommt er nicht, er stirbt bald!” brauste Arasybo auf. Das aufgeregte Wesen des Hinkenden tat seiner Wachsamkeit keinen Abbruch, argwöhnisch hielt er die Augen stets offen. Da er wußte, welchen verderblichen Einfluß der Schädel des Jaguars auf den Zauberer ausgeübt hatte, hütete er ihn wie seinen Augapfel. In der Nacht verbarg er ihn in einem Versteck, das nur ihm bekannt war. Indessen ging Karapana doch nicht den Weg seines unausbleiblichen Verderbens, wie Arasybo es sich vorgestellt und wir es ihm geglaubt hatten. Vielleicht war er seines Wahnsinns Herr geworden. Er tanzte nicht mehr um die Hütte, kurz darauf verstummte auch das Schnarren der Marakas, nur die dumpfen Trommelschläge hallten noch herüber. Die Trommel aber bediente nicht der Zauberer, sondern der junge Lehrling. „Er selbst liegt in der Hütte, es geht zu Ende mit ihm”, frohlockte Arasybo. Die Krankheit des Kindes Aber mit Karapana war es nicht zu Ende gegangen. Man sah ihn wieder in Serima mit den Leuten Gespräche führen. Angeblich lag in seinen Augen Funkeln wie bei einer rasenden Bestie; doch die Furcht und die Achtung vor ihm waren noch größer als zuvor. Sichtlich war er weder gewillt, den Kampf aufzugeben, noch zurückzuweichen. Im Gegenteil, in diesen Tagen entstand in seinem schlauen Kopf ein satanischer Plan. Von Serima her war eine neue große Gefahr für mich im Anzug. Das fast einundeinhalb Jahre alte Kind Lasanas — ein Sohn des auf der Insel der Verwegenen ums Leben gekommenen Negers Mateo — wurde von einer rätselhaften Krankheit befallen. Der Knabe begann zu fiebern, an seinem Körper bildeten sich Geschwüre, er schrie vor Schmerzen und nahm zusehends ab. Lasanas Mutter, deren heilkräftige Mittel mir so schnell die Gesundheit zurückgegeben hatten, ließ nichts unversucht, um den Enkel gesunden zu lassen. Doch war alles vergebens. Weder Kräuter noch andere Maßnahmen zeigten eine Wirkung, das Kind wurde von Tag zu Tag schwächer. Gleichzeitig machten seit dem ersten Tag der Krankheit beunruhigende Gerüchte die Runde. Niemand wußte, woher sie kamen. Zunächst waren sie vereinzelt und kaum merkbar, wie ein leises Lüftchen, später zudringlicher wie Fliegen, schließlich erhoben sie sich wie ein giftiger Dunst: es waren Gerüchte über meine verbrecherische Seele. Nicht nur die Menschen in Serima, sondern auch einige Angehörige unserer Sippe begannen untereinander zu flüstern. Sobald ich sie ansah, wandten sie sich schnell ab, um meinem Blick nicht zu begegnen. Je weiter die Krankheit des Kindes fortschritt, desto stärker wurde das Raunen, und ich wurde bereits offen mit diesem Unglück in Verbindung gebracht: Meine verbrecherische Seele habe das Kind getötet. Lasana hing sehr an ihrem Sohn und war verzweifelt, als die Arzneien der Mutter keine Hilfe brachten. Sie kam in meine Hütte, aufrecht, mit erhabener Sicherheit stand sie vor mir, nur in ihren Augen schimmerte schmerzliches Leid. Ernst und entschlossen sprach sie zu mir: „Jan, höre nicht auf den Klatsch der Leute. Ich stehe zu dir!” Auch die vier treuen Freunde, Arnak, Wagura, Manauri und der Neger Miguel, versicherten mir mit gerunzelter Stirn das gleiche. Sie erklärten mir, daß dieses Geschwätz bald vorübergehen, sich von mir abwenden und verstummen werde. Während sie sprachen, schweiften ihre Blicke in die Ferne, glitten den Urwald entlang oder hafteten auf den nächstgelegenen Hütten. Nur Arasybo schwieg, doch beobachtete auch er lauernd und argwöhnisch die Umgebung. Am dritten oder vierten Tag der Krankheit waren alle Arawaken am Itamaka in Aufruhr. Karapana hatte offen erklärt, daß ihm unsichtbare Kräfte verraten hätten, wer Schuld trage an der Krankheit des Kindes. Der Schuldige sei der Weiße Jaguar. Im Schlaf hätten dienstbare Geister dem Zauberer folgendes Bild vor Augen geführt: Vor vielen Wochen, während eines schnellen Marsches durch die Steppe im Norden, habe der Weiße Jaguar Lasana das Kind entrissen und an seine Brust gedrückt; so habe er es eine ganze Zeit getragen. Dabei sei die Seele des Kindes in der Gewalt der Seele des Weißen Jaguars gewesen, und diese habe den Tod für das Kind heraufbeschworen. Wenn es nun sterben sollte — und es werde bestimmt sterben —, so wisse man, wer der Schuldige sei. „Genauso war es auch!” Wagura griff sich an den Kopf. „Jan hat Lasana den Kleinen abgenommen, damit sie leichter vorwärts kam. Ich kann mich deutlich erinnern.” „Wir alle erinnern uns daran.” Arnak rollte wütend die Augen. „Karapana hat es erfahren, denn es war ja kein Geheimnis, und hat daraus in niederträchtiger Weise dieses schöne Märchen gegen Jan zusammengesponnen. Hätten wir ihn doch getötet, diesen elenden Schuft!” Die Lage war ernst. Ein Abgrund tat sich auf, ich schwebte in höchster Gefahr, mein Leben hing an einem dünnen Faden. In der mir feindlich gesinnten Umgebung Konesos hatten sich bereits Stimmen erhoben, die verlangten, ich solle aus dem Stamm ausgestoßen werden, damit ich nicht noch andere vernichte. Einige besonders Wütende hatten meinen sofortigen Tod gefordert. Doch der Zauberer selbst — wie liebenswürdig von ihm — war ihnen entgegengetreten und hatte ihnen geraten, so lange zu warten, bis das Kind sterbe, und dann erst den Weißen Jaguar zu töten. Die Nachricht über diese Ereignisse fand schnell den Weg in meine Hütte. „Das Kind wird sterben”, sagte Manauri kaum hörbar. Der Häuptling fühlte sich von den letzten Vorfällen am meisten betroffen, er glaubte sich schuldig, weil er mich aufgefordert hatte, dem Stamm beizutreten. In Wirklichkeit war es mein eigener Wunsch gewesen, hierherzukommen. Manauri war sich auch bewußt, daß er der nächste war, der sterben würde, wenn sich der Urteilsspruch des Zauberers an mir vollziehen sollte. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Bestürzung, und man sah es ihm an, daß er seine ganze Kraft aufbieten mußte, um nicht restlos die Fassung zu verlieren. In diesen schweren Tagen erkannte ich die wahren Freunde. Der prächtige Arnak zögerte keinen Augenblick und behielt seinen nüchternen Verstand. Er war entschlossen, mich zu verteidigen und, wenn es sein mußte, mit mir zugrunde zu gehen. Genauso Wagura, wenn ihn auch einen Augenblick ein unklares Gefühl beschlichen hatte. Die fünf Neger mit Miguel an der Spitze versicherten, ohne zu überlegen, daß sie ganz auf meiner Seite ständen. Auch die Mehrzahl der Männer unserer Sippe erklärte, daß sie mich nicht verlassen werden, obwohl sie durch verschiedene Bande mit den Einwohnern Serimas verbunden waren. Pedro war als Gefangener mit meinem Schicksal auf Gedeih und Verderb verbunden. In dieser gespannten Situation sorgte Arasybo dafür, daß sich meine tiefe Beunruhigung noch steigerte. Er war völlig verändert und betrug sich höchst sonderbar. Finster und mißmutig ging er einher, allen sandte er schielende Blicke nach. Er war gereizt und hüllte sich in Schweigen, als hätte er die Sprache verloren. Obwohl er mit niemandem sprach, bewegte er sich jedoch stets in unserer Gesellschaft. Wenn wir in der Hütte saßen und über irgend etwas berieten, wählte er seinen Platz immer in der Nähe des Eingangs und beobachtete hartnäckig den Hof; gleichzeitig spitzte er die Ohren, damit ihm ja keines unserer Worte entgehe. Lautlos bewegten sich seine Lippen, die Augen funkelten böse, kurz, er bot einen abstoßenden Anblick. Arnak und Wagura maßen ihn mit steigendem Mißtrauen. Obgleich die Sippe zu mir stand, wollte ich es zu keinem Kampf mit dem anderen Teil des Stammes kommen lassen und Blutvergießen vermeiden. Immer öfter ging das Gerücht um, wir sollten uns weiter oben am Itamaka ansiedeln. Wir besaßen den Schoner und verfügten über zwei große, schnelle Boote der Warraulen sowie über mehrere kleinere Fahrzeuge. Dem Abzug stand also nichts im Wege. „Und du, Lasana?” fragte ich. „Würdest du mit uns fahren?” Verwundert darüber, daß ich ihr überhaupt so eine Frage stelle, blickte sie mich an. „Natürlich fahre ich mit.” „Mit dem Kind? „Mit dem Kind.” Wenn die Mehrzahl der Sippe bereit war, einem Angriff Kara-panas entgegenzutreten, so herrschte über meine Person keine einheitliche Ansicht. Die giftige Saat des Zauberers hatte in mancher Seele Wurzel geschlagen. So mancher Angehörige der Sippe schlug schnell einen anderen Weg ein, wenn er mich herankommen sah, um mir nicht begegnen zu müssen, und verfolgte, hinter einem Baum verborgen, argwöhnisch jede meiner Bewegungen. So mancher Gefährte, der mir einst zugetan war, wandte sich ab und fürchtete meinen Blick. Noch gehörte er nicht offen zu meinen Feinden, aber das Gift des Zweifels nagte an ihm, wer ich wohl eigentlich sei. Wer wollte wissen, ob nicht doch eine verbrecherische Seele in mir hauste? Die Schatten dieses Zweifels setzten sich sogar in der nächsten Umgebung fest. Einmal trat ich in die Hütte Lasanas, um die junge Frau etwas zu fragen. Ganz unbewußt fiel mein Blick auf das unglückliche Kind. Als Lasanas Mutter dies gewahrte, stieß sie einen entsetzten Schrei aus, warf sich auf das Kind, deckte es mit ihrem Körper und rief mir mit bebender Stimme zu, ich solle hinaus-gehen. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ich wandte mich ab und verließ die Hütte. Vor dem Eingang zu meiner Behausung setzte ich mich auf den Boden. Plötzlich hinkte Arasybo heran, blickte sich um und ließ sich dicht neben mir nieder. Die Natur lag in drückendem Schweigen, unbeweglich lastete die schwüle Luft auf den Hütten. Noch war kein Tropfen gefallen, doch hingen regenschwere Wolken über unseren Köpfen. Vereinzelte Wolkenfetzen saßen in den Wipfeln der hohen Bäume. Das einförmige, nie verstummende Dröhnen der Trommel in Serima war deutlicher zu vernehmen als je zuvor. Diese Töne, die wie unheilvolles Raunen von Dämonen die Luft durchdrangen, waren eindeutig. Mit unerbittlicher Beredsamkeit verkündeten sie den Tod. Wir beide lauschten, und unsere Gedanken bewegten sich in der gleichen Richtung. Nach einiger Zeit stieß mich Arasybo an, hob langsam den Arm, deutete in die Richtung von Serima und murmelte spöttisch: „Dieser dumme Kanaholo!” „Welcher Kanaholo?” „Ach!” Der Hinkende gähnte gelangweilt. „Der Lehrling des Zauberers. Er ist dumm.” „Dumm ist er?” „Ja, er ist dumm.” Nach einer Weile begann er von neuem halblaut vor sich hin zu sprechen, seine Stimme klang verschlafen: „Der dumme Kanaholo glaubt, er schlage die Trommel zu deinem Verderben... Dabei trommelt er für einen anderen.” „Wahrscheinlich gilt es dem Kind Lasanas. Neben mir gluckerte es wie verhaltenes Kichern, dann vernahm ich die Worte Arasybos: „Nein, dem Kind Lasanas schadet es nichts. Kanaholos Trommelschläge bedeuten den Untergang Ka-rapanas, doch das weiß er nicht, der Trottel.” „Du faselst, Arasybo.” Ich lächelte müde. „Karapana wird heute sterben.., oder morgen . . .” Er sprach dies so nachlässig aus, als sei er zu unpassenden Scherzen aufgelegt. Vielleicht hatte ich ihn auch schlecht verstanden. „Was soll das, Arasybo?” „Heute nacht... vielleicht auch morgen nacht... wird Karapana sterben.” In seiner scheinbar nachlässigen Stimme schwang ein verborgener harter Unterton, der meine Aufmerksamkeit erregte. Erst jetzt betrachtete ich seinen Gesichtsausdruck. Die düstere Starrheit, die ihn die letzten Tage umfangen hatte, war völlig verschwunden. Der alte Haß züngelte wieder aus seinen Augen, doch unter dem Haß brach sich teuflische Freude Bahn. „Was ist mit dir?” fragte ich verwundert. Er weidete sich an meiner Verblüffung. Lachen verzerrte seine Züge. Offensichtlich hatte er etwas erfahren, doch er spreizte sich und hielt damit zurück. „Sprich offen, Arasybo!” „Wenn ein Jäger von uns auf Jagd geht, so sind seine Pfeile nicht immer mit Kurare vergiftet, denn dieses ist in unserem Wald nicht zu finden. Man muß es bei den weit von hier lebenden Ma-kussis kaufen und diesen Lumpen viel dafür bezahlen. Doch wächst auch bei uns ein Gift, es heißt Kumarawa. Zwar ist es nicht so stark wie das Kurare, doch verwenden wir es für die Jagd, da es auch den Tod herbeiführt." „Komm endlich zur Sache!” „Spreche ich vielleicht nicht zur Sache? Ich habe eben gesagt, daß auch das Kumarawa den Tod herbeiführt, und zwar dessen Blätter. Wenn man sie unversehens mit der Hand berührt, bilden sich Geschwüre, und man fühlt sich wie betrunken. Kommt man öfter mit ihnen in Berührung, so stirbt man. Es sind hinterhältige Blätter... ” „Zur Sache, Arasybo, zur Sache! Quäle mich nicht!” Er betrachtete mich mit einem langen, anzüglichen Blick und konnte seine Freude über meine Ungeduld nicht verbergen. „Warum bist du so hitzig, Weißer Jaguar?” schnatterte er belustigt und rollte die schielenden Augen. „Ich weiß nicht, wie du dich fühlen würdest, Jaguar, wenn man dir Nacht für Nacht ein Kumarawablatt in dein Lager legen würde und du keine Ahnung davon hättest. Du würdest dich winden und wimmern vor Schmerzen, Geschwüre würden dich peinigen, dein Körper würde immer magerer, und schließlich würdest du sterben. Und alles wegen eines so kleinen Blättchens. Sieh dir es an.” Er faltete einen alten Fetzen, den er bisher in der Hand gehalten hatte, auseinander und deutete auf das, was zum Vorschein kam. Es war ein kleines, halbvertrocknetes Blättchen von graugrüner Farbe. „Rühr es nicht an.” Er spitzte die Lippen. „Kumarawa ist bösartiger als jeder Skorpion.” Als sei er lange genug ausgelassen gewesen, wurde er plötzlich ernst und stieß in scharfem Ton hervor: „Ich habe es in der Matte von Lasanas Kind gefunden.” Arasybo fügte noch hinzu: „Jede Nacht wurde es ihm untergeschoben, es mußte krank werden.” „Wer hat es dem Kind untergeschoben?” Diese Frage war sinnlos, denn ich hatte bereits alles begriffen. „Er war es, Karapana.” Mir wurde fast schwindlig. Das war eine Entdeckung! Ich hatte ihre Reichweite sofort erfaßt. Welch ein Triumph, wenn es gelingen sollte, den Zauberer auf frischer Tat zu ertappen! Ich wäre befreit von diesem schrecklichen Verdacht, und er wäre entlarvt als heimtückischer Verbrecher. In wahnsinniger Freude faßte ich Arasybo an den Schultern und schüttelte ihm fast die Seele aus dem Leibe. Völlig außer Atem drang ich in ihn: „Arasybo, sage mir, wie hast du das entdeckt?” „Ja. . . ich habe es gefunden. . . Ich habe nachgedacht, gesucht.” „Und das Kind? Ist es zu retten?” „Das Kind ist zu retten.” Fast hätte ich den lieben, häßlichen Freund zerdrückt. Immer wieder rief ich aus: „Du Zauberer! Du Schlaukopf! Du Wundertäter! Als wir uns etwas beruhigt hatten und in die Wirklichkeit zurückgekehrt waren, fragten wir uns, was nun geschehen solle. Wir mußten sofort eine geheime Beratung der Freunde einberufen. Wer sollte daran teilnehmen? Manauri, Arnak und Wagura, sonst niemand. Der Neger Miguel? Nein, nur Indianer. Es ging um eine Angelegenheit des Stammes. Und Lasana? Natürlich, Lasana sollte auch dabeisein. Die Freunde weilten am Fluß. Sie bereiteten den Schoner vor, um im Fall eines plötzlichen Angriffs von Serima her sofort abfahren zu können. Natürlich unterbrachen sie die Arbeit und eilten herbei. Als Lasana geholt worden war, versicherten wir uns, daß wir allein in der Hütte waren, dann berichtete Arasybo noch einmal von seiner Entdeckung. Den Gefährten erging es genau wie mir. Zunächst waren sie wie betäubt, dann aber erfaßte sie ein wilder Freudentaumel. Uns allen fiel ein schwerer Stein vom Herzen, gleichzeitig aber wurde uns bewußt, daß uns die schwerste Aufgabe noch bevorstand: die Auseinandersetzung mit dem Zauberer. Ein Kampf auf Leben und Tod. „Auf den Tod! Auf seinen Tod!” wiederholte Manauri mit zusammengebissenen Zähnen. Wir kamen zu dem Schluß, daß Karapana dem Kind jede zweite oder dritte Nacht ein frisches Kumarawablatt untergeschoben habe, und da das gefundene Blättchen schon vertrocknet war, erwarteten wir ihn in dieser Nacht. Daher beschlossen wir, zu zweit zu wachen und uns um Mitternacht abzulösen. „Du bist davon ausgeschlossen, Jan”, ordnete Manauri an. „Deine Wunde ist noch nicht verheilt.” Tatsächlich war ich noch nicht im vollen Besitz meiner Kräfte, doch konnte ich in diesem entscheidenden Augenblick nicht abseits stehen und wurde deshalb als dritter der ersten Wache zugeteilt, die Arnak und Arasybo übernommen hatten. „Noch eines gilt es zu beschließen”, sagte der Häuptling nach längerem Überlegen. „Es ist eine einzigartige Gelegenheit, ihn umzubringen. Wir müssen ihn töten!” „Wir müssen es”, zischte Arasybo. „Ist jemand dagegen?” fragte Manauri und sandte einen unruhigen Blick zu mir herüber. Arnak und Wagura schüttelten zum Zeichen ihres Einverständnisses schweigend den Kopf, ich tat das gleiche. Es blieb keine andere Wahl mehr als sein Tod. „Erlaubt mir, daß auch ich mich an der Wache beteilige”, bat Lasana. „Ja, auch du sollst wachen”, antwortete Manauri. „Aber nicht mit uns auf dem Hof, sondern in eurer Hütte, bei deinem Kinde.” Niemand, auch nicht die nächsten Angehörigen, durfte von unserem Vorhaben erfahren. Lasana erhielt den Auftrag, die Matte des Kindes zu verbrennen und ihm an einer anderen Stelle der Hütte ein neues Lager zu bereiten, aber so, daß ihre Mutter nichts Absonderliches daran finde. Gegen Abend ging ein kurzer, aber starker Regenguß nieder. Als der Regen aufhörte, war der Himmel immer noch mit Wolken überzogen. Wir befürchteten, daß es in der Nacht sehr dunkel sein werde, als aber der Mond über den Wolken aufging, hellte sich das Dunkel etwas auf. Lasanas Hütte befand sich etwa fünfzig Schritt vom Wasser entfernt, die Rückseite war dem Fluß, der Eingang dem Urwald zugewandt. Außer niedergetretenem Gras und vereinzelten Sträuchern wuchs nichts in der Umgebung. Dieser Umstand und die halbwegs gute Sicht kamen unseren Absichten entgegen. Wir bewaffneten uns mit kurzen, handlichen Knütteln aus hartem Holz. Arnak und Arasybo nahmen außerdem Messer mit, während ich die Pistole mit gehacktem Blei lud. Wir vereinbarten Lautzeichen und bezogen nach Einbruch der Nacht unsere Plätze. Arnak versteckte sich hinter der Hütte, gegen den Fluß zu, Ara-sybo und ich unweit des Eingangs. Im Innern der Hütte wachte Lasana, so wie es Manauri angeordnet hatte. Einigemal stürzten kurze, heftige Regenschauer auf uns herab. In diesen Minuten herrschte völlige Finsternis; die Luft blieb warm und schwül. Langsam schlichen die Stunden dahin. Das ständige Lauschen und Spähen wirkte in der Dunkelheit sehr ermüdend und stumpfte mit der Zeit die Sinne ab. Dazu quälte uns die Ungewißheit, ob der Feind in dieser Nacht kommen werde. Sowohl vom Rande des Urwalds als auch vom Ufer des Flusses erklangen wie immer eigenartige und mannigfaltige Stimmen. Geheimnisvolle Schatten huschten im Dunkel dahin. Es waren Hunde und anderes zahmes Getier oder auch scheue Reptilien, die ihre Schlupfwinkel im Dickicht verlassen hatten, dazu riesige Insekten und anderes scheußliches Ungeziefer. Mitternacht kam heran, und ich wollte mich gerade auf den Weg machen, um die Freunde für die zweite Wache zu wecken, als hinter der Hütte das dreimalige klagende Quaken eines Frosches erscholl — das mit Arnak verabredete Zeichen. Er mußte also etwas bemerkt haben. Ich packte den Knüttel fester, mit der linken Hand tastete ich nach dem Griff der Pistole. Es war weder ganz finster, noch konnte man gut sehen. Die beiden Eckpfähle der vom Regendach überschatteten Hütte hoben sich als dunkle Linien von dem etwas helleren freien Platz ab. Plötzlich glaubte ich auf dem helleren Untergrund einen schwarzen Fleck wahrzunehmen, es sah aus, als ob sich eine Gestalt der linken Ecke näherte. Ich stieß Arasybo an und deutete mit der Hand auf die rätselhafte Erscheinung. „Das ist er”, flüsterte der Hinkende aufgeregt. Irgendein Fremder machte sich dort zu schaffen, auf keinen Fall war es Arnak, denn wir hatten mit ihm vereinbart, daß er seinen Platz nicht früher verlassen solle, bevor nicht Alarm geschlagen werde. Das rätselhafte Wesen sah aber auch nicht wie Karapana aus. Es war kräftiger und kleiner, während der Zauberer von hagerer Gestalt und ziemlich groß war. Geduckt schob sich der geheimnisvolle Mensch langsam auf den Eingang der Hütte zu. Ich hatte inzwischen die Überzeugung gewonnen, daß es auf keinen Fall Karapana sein könne. Vielleicht waren sie zu zweit? Vielleicht würde der Zauberer noch erscheinen? Als ich merkte, daß Arasybo aus dem Versteck vorspringen wollte, faßte ich ihn an der Schulter und raunte ihm zu: „Hast du gesehen? Es ist nicht Karapana!” „Er ist es nicht’, erwiderte er kurz. „Wir müssen ihn lebend fangen.” „Lebend?” Enttäuschung und Auflehnung lagen in der Stimme des Gefährten. „Wozu?” Da zu Erklärungen keine Zeit war, schüttelte ich kräftig Ara-sybos Schulter und zischte ihn an: „Lebend, sage ich dir! Wag es nicht, ihn zu töten!” Er riß sich los und stürzte vor, in der Rechten schwang er das Messer. Seine Sprünge waren so gewandt, wie ich es ihm nie zugetraut hätte. Vier, fünf Schritte höchstens betrug die Entfernung bis zur Hütte, doch der Gegner war auf der Hut. Entweder hatte er etwas Verdächtiges bemerkt, oder er hatte unser Flüstern vernommen, jedenfalls sprang er plötzlich zur Seite. Das Messer verfehlte sein Ziel, aber auch die Hand Arasybos glitt an dem eingefetteten Körper ab. Der Überfallene entschlüpfte ihm und wandte sich zur Flucht. Doch er kam nicht weit. An der Ecke, wo ich ihn zuerst gesehen hatte, vertrat ich ihm den Weg und schlug ihm mit dem Knüttel über den Kopf. Der Schlag war wohl zu schwach, denn der Unbekannte strauchelte zwar, raffte sich aber sofort wieder auf. Als er um die Ecke biegen wollte, lief er Arnak genau in die Arme. Beide stürzten zu Boden. Ich schlug ihm noch einmal auf den Kopf, Arnak wälzte sich über seinen Körper und versuchte ihn niederzudrücken. „Wir müssen ihn lebend haben!” schrie ich aus vollem Hals. „Ich kann ihn nicht festhalten, er ist so schlüpfrig!” erwiderte Arnak zornig. Der Gegner warf sich von einer Seite auf die andere, aber es half ihm nichts mehr. Ich umklammerte mit beiden Händen seinen Hals und ließ nicht mehr los, Arnak entwand ihm das Messer und drehte seine Arme nach hinten, daß es in den Gelenken krachte. Der Gefangene war nackt, um die Hüfte hatte er eine Schnur gebunden, und sein ganzer Körper war mit Fett eingerieben, um ihn schwerer fassen zu können. In der Dunkelheit konnten wir nicht erkennen, wen wir vor uns hatten, Karapana war es jedenfalls nicht. Unsere Frage, wer er sei, beantwortete der Gefangene mit Schweigen. Lasana brachte Stricke herbei, und wir fesselten ihn. Offensichtlich war er allein gekommen, von einem zweiten hatte niemand etwas bemerkt. „Er kam in einem Boot’, berichtete Arnak. „Ich vernahm das Geräusch, das er beim Aussteigen verursachte.” „War er allein?” „Ja. Ich habe niemanden sonst gesehen.” „Lauf zum Fluß und sieh nach, ob das Boot noch da ist.” Das Boot war da. Während des kurzen Kampfes war Lasanas Mutter erwacht, hatte einen feindlichen Überfall vermutet und fürchterlich zu schreien begonnen. Die Nachbarn schreckten aus dem Schlaf hoch, bewaffneten sich mit dem ersten besten Gegenstand und eilten von allen Seiten herbei. Der Alarm funktionierte über Erwarten gut. Es war kaum eine halbe Minute vergangen, als der erste Krieger zur Stelle war, gleich darauf erschienen alle andern. Viele hatten sämtliche Waffen bei sich, niemand aber war ohne seine Schußwaffe gekommen. Unsere Sippe hatte sich gut entwickelt. Trotz der Aufregung weitete ein stolzes Gefühl meine Brust, denn diese Kampfbereitschaft war zum größten Teil mein Verdienst. Einige Umsichtige hatten brennende Fackeln mitgebracht, manche waren auch mit Öllämpchen gekommen. Als der Lichtschein das Gesicht des Gefangenen traf, malte sich Verblüffung auf den Gesichtern: es war Kanaholo, der junge Lehrling des Zauberers, ein kaum vierzehnjähriger Bursche, dem, wie es schien, das Verbrecherhandwerk bereits vertraut war. Flink und gewandt wie ein Affe hatte er sich zur Wehr gesetzt, auch ein Messer hielt er in der Hand. Doch jetzt, als er gefesselt auf der Erde lag, wurde ihm angst und bange. Als er die vielen wutverzerrten Gesichter über sich erblickte, glaubte er, seine letzte Stunde sei gekommen — womit er keinen großen Irrtum beging. Manauri verkündete den Anwesenden mit lauter Stimme, was den jungen Frevler hierhergeführt habe. Je mehr er die gemeinen Intrigen Karapanas enthüllte, um so größer wurde die Wut auf dessen Lehrling und Helfershelfer. Besonders erregt waren die Frauen. Lasanas Mutter stürzte sich auf ihn und wollte ihm die Augen auskratzen. „Du Mörder!” schrie sie. „Du Scheusal! Meinen Enkel hast du umgebracht, ein unschuldiges Kind!” Sie mußte mit Gewalt von ihm losgerissen werden. Aber auch die andern waren nicht gewillt, sein Leben zu schonen, und forderten seinen sofortigen Tod. Dieser Entrüstungssturm konnte einen nicht gutzumachenden Schaden anrichten; es galt, ihn zu dämpfen und von dem Burschen soviel wie möglich zu erfahren. Manauri ordnete an, daß in der Nähe zwei Feuer entfacht würden, und bestimmte zwei junge Männer, die darüber zu wachen hatten, daß sie nicht verlöschten. Nun wurde es ziemlich hell, und man konnte den Gefangenen besser betrachten. Als er überwältigt worden war, hatten seine Augen nur wahnsinniges Entsetzen gezeigt, jetzt aber schien Kanaholo zu merken, daß seinem Leben keine unmittelbare Gefahr drohe, und er wurde kühner. In seinen Augen spiegelte sich ein Ausdruck lauernder Durchtriebenheit — man sah, daß sich der Zauberer keinen Tölpel als Lehrling und Nachfolger ausgesucht hatte. Die Stellung des Gefangenen war unnatürlich. Er lag halb auf die rechte Seite gedreht, was zunächst den Eindruck entstehen ließ, er sei vielleicht verletzt. Manauri ließ ihn auf den Rücken legen, aber er nahm so schnell wie möglich wieder die vorherige, unbequeme Stellung ein. Das konnte Zufall sein oder auch nicht, auf jeden Fall hatte es meine Aufmerksamkeit erregt. Wollte Kanaholo auf diese Weise etwas vor uns verbergen? „Wurde kein Giftblatt bei ihm gefunden? fragte ich den neben mir stehenden Arasybo. „Nein, wir haben noch nicht nachgeforscht. Wir müssen warten, bis es Tag wird, dann werden wir den Rasen absuchen.” „Das Blatt ist das wichtigste. Es ist der unwiderlegbare Schuldbeweis.” „Ja, aber jetzt ist es zu dunkel zum Suchen.” „Und bei ihm selbst könnte man es nicht finden?” Arasybo betrachtete den Gefesselten mit einem unsicheren Blick. Der Gefangene konnte das Blatt nirgendwo an sich verstecken, denn er war nackt und hielt die Hände geöffnet. Manauri richtete einige Fragen an ihn, doch erhielt er keine Antwort. Der Bursche hüllte sich in hartnäckiges Schweigen. Dreißig oder vierzig Menschen standen um ihn herum, Männer, Frauen und auch Kinder. Wenn sich auch ihre erste Erregung gelegt hatte, so war ihre Neugier noch nicht befriedigt; sie warteten auf ein entscheidendes Wort, harrten auf den Schuldbeweis, auf einen sichtbaren Beweis. In der Menge, die den Gefangenen umstand, befanden sich auch einige Indianer, die nicht zu unserer Sippe gehörten. Sie wohnten in der Nähe und waren genau wie die andern durch den Lärm herbeigelockt worden. Sie gehörten weder zu meinen Feinden noch zu meinen Freunden. Als sie aus dem Munde Manauris die schweren Anschuldigungen gegen Karapana vernahmen, erschraken sie zutiefst. Die Macht ihres Zauberers war ihnen heilig, sie standen unter seinem Einfluß und waren nicht gewillt, ihn als ehrlos zu beschimpfen, nur weil jemand behauptete, daß er ein Verbrechen begangen habe. Sie begannen untereinander zu flüstern, und als Kanaholo weiter in seinem Schweigen verharrte, wandten sie sich an Manauri und brachten ihre Zweifel vor: „Wir haben schwerwiegende Worte vernommen, du hast verwegene Behauptungen ausgesprochen.” „Ich weiß, was ich gesagt habe”, entgegnete der Häuptling. „Der Weiße Jaguar ist unschuldig, seine Seele ist gesund. Karapana will ihn vernichten, deshalb hat er Lasanas Kind vergiftet, durch Kanaholo ließ er ihm Kumarawablätter unter die Matte legen.” „Wer hat die Blätter gesehen?” riefen die andern. „Du sagst, daß Arasybo sie gesehen hat? Arasybo ist ein Krüppel, ein Rappelkopf. Was kann man von ihm erwarten? Er haßt Karapana, deshalb hat er sich diese Lügen ausgedacht.” „Ich habe mit eigenen Augen so ein Blatt gesehen, das dem Kind untergeschoben worden war.” „Wer hat es dir gezeigt? Wo ist es?” „Arasybo hat es gefunden.. .” „Er hat es gefunden? Arasybo hat es dir also gebracht! Er kann es genauso selbst im Urwald geholt haben.” „Und Kanaholo?” brauste Manauri auf. „Warum versuchte Kanaholo diese Nacht in die Hütte des kranken Kindes einzudringen?” „Das wissen wir nicht. Aber auch du weißt es nicht!” „Ich weiß es! Sobald es hell wird, werden wir in der Nähe der Hütte ein Kumarawablatt finden.” „Das ist möglich. Vielleicht hat es Arasybo dort hingelegt.” Sie begannen zu lachen. Die jungen Burschen, denen die Feuer anvertraut worden waren, hatten wohl vergessen, Holz aufzuwerfen, denn die Flammen waren dem Erlöschen nahe. Ich stand dem Gefangenen am nächsten. Die Hände waren ihm auf den Rücken gebunden, und er lag auf ihnen. Als die Flammen immer kleiner wurden, bemerkte ich, daß der Junge im Halbdunkel verzweifelte Bewegungen machte, als wolle er mit den gebundenen Händen irgend etwas ergreifen, das unter seiner rechten Hüfte verborgen war. Kurz darauf schossen neue Flammen empor, und der Gefangene verhielt sich wieder still. In diesem Augenblick machte ich eine interessante Entdeckung: Unter der Hüfte des Gefesselten mußte ein Gegenstand liegen, ein Ende davon lugte hervor. Ob es nicht die Spitze eines Bambusrohres war? Ein Stück Bambusrohr, wie es hier allgemein zum Aufbewahren kleiner Gegenstände verwendet wurde? Jetzt gab es für mich keine Zweifel mehr, warum Kanaholo eine so eigenartige Stellung einnahm. Er versuchte etwas unter sich zu verbergen, das sein Geheimnis verraten könnte. Als ich mich Arnak zuwandte, um ihn auf meine Entdeckung aufmerksam zu machen, kam Arasybo, der uns vor einer Weile verlassen hatte, mit dem Jaguarschädel angerannt. Er stieß einen Speer schräg in die Erde, daß sich das Ende über dem Gefangenen befand, dann befestigte er den Schädel daran und richtete ihn mit der offenen Augenhöhle genau auf den Jungen. In dem flackernden Licht schien der Schädel zu neuem Leben zu erwachen, die fletschenden Zähne schienen sich zu bewegen, und die leere schwarze Augenhöhle blickte unheimlich und drohend auf den Verbrecher herab. Die Wirkung war augenscheinlich. Der Jüngling begann zu zittern, die Augen traten ihm aus den Höhlen, doch schwieg er weiterhin hartnäckig. „Jetzt wirst du uns alles sagen, du Lump”, knurrte Arasybo. „Sprich, sonst reißt dich der Jaguar in Stücke!” Am liebsten hätte ihn Arasybo mit seinen eigenen Händen zerrissen, doch brachte auch er nichts aus ihm heraus. Der Bursche verzog nur den Mund und schwieg wie ein Grab. „Nichts werdet ihr von ihm erfahren”, ertönte eine Stimme aus der Gruppe der Anhänger des Zauberers, als wolle sie dem Jungen Mut zusprechen. anauri schickte einen Boten zu Kanaholos Vater, der in Serima wohnte, in der Hoffnung, daß der Anblick des Vaters den Trotz des Jünglings brechen werde. „Es steht schlecht’, raunte mir Arnak zu. „Das ist ein verfluchter Strolch. Wir werden verspielen.” „Was, wir sollen verspielen? Arnak, so leicht streichst du die Segel?” „Wir können ihnen die Schuld nicht nachweisen.” „Ich erkenne meinen Arnak nicht wieder! Vor so einer Rotznase gibt er klein bei? Lieber Arnak, wo hast du deine Augen? Kannst du nicht mehr sehen?” Dem Freund fiel die versteckte Höflichkeit in meiner Stimme auf, so wie mir am Nachmittag die veränderte Stimme Arasybos aufgefallen war. Er blickte mir in die Augen und fragte: „Kannst du vielleicht etwas Günstiges sehen?” „Ich sehe etwas.” Leise vertraute ich ihm meine Vermutung an, auf die mich die eigenartigen Bewegungen des Gefangenen und sein Versuch, das Bambusröhrchen unter sich zu verbergen, gebracht hatten. Arnaks Augen blitzten, obwohl er sich sonst immer in der Gewalt hatte. Nach einer Weile hatte er sich von der Richtigkeit meiner Beobachtungen überzeugt. ,;Der Schuft verbirgt etwas, jetzt sehe ich es auch”, flüsterte er mir zu und betrachtete mich anerkennend. „Jan, dein scharfer Blick und deine alte Kraft sind zurückgekehrt. Wir lassen uns nicht unterkriegen! Erlaube mir, daß ich ihren Schurkenstreich enthülle.” „Aber gern. Tu, was du willst.” Arnak setzte Manauri, Wagura und Arasybo mit einigen Worten von der Entdeckung in Kenntnis, ließ trockene Zweige in die Feuer werfen, daß die Flammen hoch aufloderten, und rief dann etliche ältere Krieger aus unserer Sippe und aus den Reihen der andern, besonders aus der Gruppe der Zweifler, zu dem Gefangenen hin. Als alle versammelt waren, verkündete er mit schallender Stimme, daß sich das Auge des Jaguars nicht betrügen lasse. Das Auge habe uns die verbrecherischen Absichten des Zauberers verraten und auch mitgeteilt, wo Kanaholo das Ku-marawablatt verborgen halte. „Wollt ihr wissen, wo es ist?” fragte er und. blickte triumphierend in die Runde. „Da sind wir aber neugierig”, ließen sich einige Stimmen vernehmen. „Gleich werdet ihr es sehen!” Er trat an den Gefangenen heran, griff ihm unter die Arme und stellte ihn mit einem Ruck auf die Beine. „Seht ihr es jetzt?’ rief er zornig aus. Wir sahen es alle: An der Schnur, die um die Hüfte des Jünglings geschlungen war, baumelte ein Stück Bambusrohr. „Was hast du in diesem Rohr?” herrschte Arnak den Gefangenen an. Der bot ein Bild des Jammers. Das war nicht mehr der hochmütige, trotzige Lehrling des Zauberers; der hier stand, war ein Lausejunge, halb ohnmächtig vor Schrecken, ein Bengel, der vor Angst und Aufregung bebte. „Was steckt in dem Bambusrohr?” wiederholte jetzt Manauri scharf und befehlend die Frage. „Sprich!” Kanaholo murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Seine plötzliche Erschütterung festigte unsere Überzeugung, daß das Röhrchen etwas Verdächtiges enthalten müsse, doch waren wir noch nicht völlig sicher. Arasybo sprang hinzu, riß das Bambusstückchen von der Schnur ab, zog den Verschluß heraus und schüttete den Inhalt vor unser aller Augen auf seine Handfläche. Vor Aufregung ließ er jede Vorsicht außer acht. Es kamen zwei oder drei zusammengedrehte Blätter zum Vorschein. „Kumarawa!” brüllte der Hinkende mit wutzitternder, sich überschlagender Stimme. In diesem Augenblick sah er einem höllischen Dämon ähnlicher als einem Menschen. Er hielt die ausgestreckte Hand in den Feuerschein und forderte die Umstehenden auf, näher zu kommen und sich die Blätter genau anzusehen. „Ist das Kumarawa oder nicht?” fragte er einen jeden; dabei gurgelte, scharrte und pfiff es in seiner Kehle vor unbezähmbarer Erregung. Er fühlte, daß der Augenblick gekommen war, in dem sich alles entschied, in dem er die Herrschaft des Zauberers, seines erbitterten Feindes, vernichten konnte. Siegesfreude, Haß und Wahnsinn spiegelten sich in seinem zuckenden Gesicht. Wie ein Besessener krächzte er jedem Hinzutretenden entgegen: „Sage mir, ob das Kumarawa ist.” „Es ist Kumarawa”, bestätigten die Angehörigen unserer Sippe voller Abscheu. Die andern beantworteten seine Frage nicht; bedrückt hüllten sie sich in Schweigen. Sie sahen die Blätter, erkannten sie und konnten nichts in Abrede stellen. Lasanas Mutter drängte sich mit einer weißen Matte durch die Menge. „Wirf die Blätter hier hinein”, forderte sie den Hinkenden auf. „Du wirst dir noch selbst Schaden zufügen.” Arasybo warf die Blätter darauf, nahm die Matte in seine Hände und hielt sie immer neuen Menschen unter die Augen. Währenddessen glaubte Kanaholo, der wieder auf der Erde lag, daß seine letzte Stunde gekommen sei, und zitterte wie im Fieber. „Sieh dir den Jaguar an”, rief ihm Manauri zu, „und sprich die Wahrheit, wenn dir dein Leben lieb ist! Willst du nun reden?” „Ich ... ich werde sprechen”, schluchzte der Gefangene. „Wer hat dich hierher geschickt?” „Karapana.” „Sprich lauter, damit es alle hören können: Wer hat dich geschickt?” „Karapana. . . der Zauberer.” „Hat er dir auch die Kumarawablätter gegeben?” „Er. . . hat sie mir gegeben.” „Und was solltest du mit ihnen tun?” „Er trug mir auf, ich soll sie dem.. . dem Kind Lasanas unterlegen.” „Wie oft hast du es getan?” „Dreimal... nein, viermal.., ja, viermal.” „Sollte das Kind sterben?” „Ja. . . ja, es sollte. . .” „Damit die Schuld auf den Weißen Jaguar fällt?” Der Bursche konnte nicht mehr antworten, da er von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt wurde. Außerdem genügte das, was er gesagt hatte, um die Versammelten zu überzeugen. Alle hatten gehört und verstanden: Karapana war der Anstifter dieses Verbrechens, niemand durfte an seiner Schuld zweifeln. Der Vater des Jungen, den unser Bote geweckt hatte, kam herbei. Eigentlich war seine Anwesenheit nicht mehr erforderlich, denn der anfangs so trotzige Knabe hatte seine Schuld eingestanden. Auf den ersten Blick war zu erkennen, daß Aripaj — so hieß der Vater des Gefangenen — ein aufrechter, ehrlicher Mensch war, der von dem bösen Treiben des Sohnes bestimmt keine Kenntnis hatte. Kanaholo mußte noch einmal wiederholen, was er zuvor gestanden hatte. Der Vater hörte mit düsterer Miene zu, betroffen wanderten seine Augen zwischen uns und dem Sohn hin und her. „Was werdet ihr mit ihm machen?” fragte er schließlich. Einige forderten den Tod des jungen Schuldigen und beriefen sich dabei auf den überlieferten Stammesbrauch. Die Mehrzahl aber urteilte nicht so streng und gab zu bedenken, daß Kanaholo nur das Werkzeug in den Händen des eigentlichen Täters gewesen war. Diese Gemäßigten verlangten nicht sein Leben, und als ich um meine Meinung gefragt wurde, unterstützte ich diese Gruppe mit allen Kräften. Darauf wurden dem Jüngling die Fesseln abgenommen, und seinem Vater wurde bedeutet, er solle mit ihm nach Hause gehen. „Paß auf ihn auf’, sagte ich zu Aripaj. „Kümmere dich mehr um ihn und gib ihn nicht in unsichere Hände.” Der Indianer freute sich, daß Kanaholo mit heiler haut davongekommen war, doch blieb seine Miene düster. „Mein Sohn”, antwortete er niedergeschlagen, „befindet sich nicht in meiner Obhut. Er wurde dem Zauberer übergeben und muß auch zu diesem zurückkehren.” Am nächsten Tag lief das traurige Gerücht durch die Hütten der Arawaken, Kanaholo sei plötzlich gestorben. Man hatte den unglücklichen Burschen unweit von Serima am Rande des Urwalds tot aufgefunden, ohne Zeichen äußerer Gewalt. Die Angehörigen unserer Sippe nahmen die Nachricht mit ungewöhnlicher Ruhe auf, sie hatten etwas Ähnliches erwartet. Der arme Schlucker hatte, wenn auch nicht aus freien Stücken, das Geheimnis des Zauberers verraten und nun die Strafe dafür empfangen. Die Repartimientos Der Umstand, daß wir Kanaholo auf frischer Tat ertappt hatten, sowie dessen Geständnis befreiten mich von dem blödsinnigen Verdacht, ich besitze eine verbrecherische Seele. Aber auch der eigentliche Urheber des Verbrechens blieb ungeschoren. Der durchtriebene Zauberer verstand sich herauszuwinden. Sein Ansehen im Stamm ermöglichte ihm dies. Obwohl alles gegen ihn Zeugnis ablegte, nicht zuletzt der Tod Kanaholos, waren die Menschen in Serima so eingeschüchtert und furchtsam, daß sie es nicht wagten, sich gegen ihn zu erheben. Lieber schenkten sie den unglaubwürdigen Einflüsterungen des Zauberers Gehör, der das Gerücht in Umlauf setzte, daß es bei Kanaholo wohl nicht mit rechten Dingen zugegangen sei; wahrscheinlich habe man das Geständnis durch Anwendung geheimnisvoller Mittel von ihm erpreßt und dem Tölpel die giftigen Blätter heimlich untergeschoben. Mit einem Wort, Karapana verkehrte alles ins Gegenteil, und es gab Leute in Serima, die aus Furcht oder Bequemlichkeit diesem ungereimten Geschwätz Glauben schenkten. In unserem Freundeskreis fanden mehrere leidenschaftliche Beratungen statt. Was sollten wir tun? Wir gelangten zu der Überzeugung, daß der zwar erschütterte, aber immer noch sehr große Einfluß des Zauberers nicht ausgeschaltet werden könne, ohne blutige Unruhen im Stamm hervorzurufen. Aus diesem Grund kamen wir auf unsere ursprüngliche Absicht zurück und beschlossen, alles für die Abreise vorzubereiten. Unsere ganze Sippe sehnte sich danach, so schnell wie möglich von hier wegzukommen, denn die verbrecherischen Machenschaften des Zauberers steckten allen wie ein Knochen im Halse. In den letzten Tagen hatten sich die Freundschaftsbande zwischen der Sippe und mir noch mehr gefestigt, es waren Bande der Hoffnung und des Vertrauens in unsere gemeinsame Zukunft. Bald zeigte es sich, daß auch Serima nicht mehr eine verschworene Gemeinschaft von Menschen eines Sinnes beherbergte, wie es einst gewesen war. Als die Nachricht von unserem beabsichtigten Aufbruch dorthin durchsickerte, äußerten viele Indianer den Wunsch, sich uns anzuschließen. Sie wollten nicht länger unter der Herrschaft des fürchterlichen Zauberers bleiben. Nach dem Stammesbrauch der Arawaken hatten sie das Recht dazu, und niemand durfte sie daran hindern. Den Oberhäuptling beunruhigte dies, und Karapana geriet darüber in rasende Wut. Um eine Spaltung des Stammes zu vermeiden — eine Befürchtung, die beide seit unserer Ankunft gehegt hatten —, entstand in dem heimtückischen Kopf des Zauberers der ungeheuerliche Plan, uns zu überfallen und, wenn auch nicht die ganze Sippe, so doch ihre wichtigsten Mitglieder, auch Manauri, Pedro und Lasana, umzubringen. Zum Glück wurden wir durch wohlgesinnte Menschen rechtzeitig gewarnt und waren auf der Hut. Aufmerksam verfolgten wir jede Bewegung in Serima und beschleunigten unsere Vorbereitungen für die Abreise. In dieser für beide Seiten äußerst gespannten Lage traten plötzlich unerwartete Ereignisse ein, die die guten und die bösen Absichten aller Beteiligten durchkreuzten. Eines Tages, zwei Stunden nach Sonnenaufgang, tauchten am Rande des Wäldchens, das unsere Hütten vom Sitz des Oberhäuptlings trennte, zwei Einwohner Serimas auf und rannten aus Leibeskräften auf uns zu. Es handelte sich nicht um einen Angriff, wie wir im ersten Augenblick vermuteten, denn die beiden Indianer waren allein und schrien uns eigenartige Worte zu. „Verstehe ich richtig?” sagte Arnak, von einer bösen Ahnung erfüllt. „Spanier?” „Ja, dieses Wort rufen sie”, erwiderte einer der Freunde mit belegter Stimme. Unsere warnenden Rufe trieben die Menschen aus den Hütten. Aufgeregt eilten sie herbei. Inzwischen waren die Indianer aus Serima herangekommen, sie rangen nach Atem und konnten sich kaum auf den Beinen halten. Nicht nur der schnelle Lauf, sondern ein entsetzlicher Schreck saß ihnen in den Gliedern. „Spanier!” stießen sie keuchend hervor. „Spanier... dort!” „Wo?” schrie sie Manauri an. „Bei uns in Serima... Sie kamen in Booten ... und sind ausgestiegen! Spanier!” Spanier! Welch schreckeinflößendes Wort! Alle Angehörigen unserer Sippe waren bis vor kurzer Zeit in der spanischen Sklaverei gewesen und wußten nur zu gut, was es bedeutete, in dieser Hölle zu leben. Nur Arnak und Wagura bildeten eine Ausnahme, sie hatten den Engländern als Sklaven gedient. Das Wort Spanier lag wie ein Fluch in den Ohren der Indianer. Wo immer wir ihnen begegnet waren, ob auf der Insel oder in den Llanos nahe dem Geierberg, jedesmal hatten wir uns verzweifelt gegen ihre Feindseligkeit zur Wehr setzen müssen. Kein Wunder, daß mancher von uns im Innern erbebte. „Haben sie euch überfallen?” fragte Manauri. „Haben sie jemanden getötet?” „Nein, sie haben uns nicht überfallen.” „Es ist zu keinem Kampf gekommen?” „Nein.” „Konnten alle aus Serima fliehen?” „Nein, die Spanier haben uns überrascht. Nur einigen gelang es zu entkommen.” „Die Spanier suchten also keinen Kampf?” „Nein, sie gingen nur an Land, doch sind sie bis an die Zähne bewaffnet und sehen furchterregend aus.” „Wie viele sind es?” Die beiden rangen immer noch nach Luft und konnten sich über die Anzahl der Spanier nicht einig werden. Der eine behauptete, es seien soviel wie Finger an beiden Händen, der andere erklärte, er habe zehnmal soviel gezählt. „Nein”, widersetzte sich der erste. „Spanier sind nicht viele dabei, die übrigen sind Indianer.” „Von welchem Stamm sind die Indianer?” „Wir kennen sie nicht, es sind fremde.” „In wieviel Booten sind sie angekommen?” „In fünf Booten.” „Sind es große Boote?” „Ja, es sind Itauben.” „Nicht fünf Boote sind es, sondern nur drei”, verbesserte der zweite Ankömmling. „Was sie hier wollen, das wißt ihr nicht?” Sie wußten es nicht, hegten auch keinerlei Vermutungen. Sie konnten nur das eine berichten, daß die Spanier, obgleich sie keinen Kampf vom Zaun gebrochen hatten, sehr herrisch und herausfordernd aufgetreten waren; sie benahmen sich wie strenge Gebieter und nicht wie Gäste. Unglück und Leid gingen von ihnen aus, und sie verbreiteten Schrecken. Ich verständigte mich durch Blicke mit Manauri und Arnak, sodann forderte ich die Anwesenden auf, ihre Waffen zu holen und sich vor meiner Hütte zu versammeln. Zum Glück war die ganze Sippe beisammen. Neben mir stand Pedro. Als er vernahm, daß Landsleute von ihm angekommen waren, wich ihm das Blut aus dem Gesicht, und er war bleich wie Wachs. Ich stieß ihn freundschaftlich mit dem Ellbogen an. „Nun sind sie da”, sagte ich spanisch zu ihm, er hatte mich ja in dieser Sprache unterrichtet. Pedro war so verwirrt, daß er wohl kaum hätte bis fünf zählen können. In seinem vertrauenerweckenden, offenen Gesicht malte sich grenzenlose Verblüffung. „Ob ...”, stotterte er voll schreckhafter Ungewißheit, „ob ich...?” „Aber natürlich! Du bist frei und kannst mit ihnen abfahren, sobald es dir beliebt.” „0 Herr! Ich danke!” „Nanu, Pedro!” Ich mußte lachen. „Bist du mir schon so fremd, daß du mich plötzlich mit ,Herr' ansprichst?” „Nein. Verzeih mir, Jan... In meinem Kopf geht alles durcheinander.” „Lieber Pedro, behalte jetzt einen klaren Kopf, denn ich brauche dich noch. Vielleicht errätst du, weshalb deine Landsleute uns besuchen.” Doch auch Pedro konnte keine Erklärung finden. Da Serima einige Meilen von der Mündung des Itamaka in den Orinoko entfernt war, also abseits des üblichen Wasserweges lag, mußten wir annehmen, daß die Spanier kein Zufall hierhergebracht hatte, sondern daß sie mit einer bestimmten Absicht gekommen waren. „Aber von wo könnten sie gekommen sein?” fragte ich mich und Pedro. Ich hieß ihn die Karte bringen, an der er mehrere Wochen gearbeitet hatte. Sie zeigte im Norden den Unterlauf des Orinoko und weit im Süden den fast parallel dazu verlaufenden Cuyuni sowie eine ganze Anzahl ihrer Nebenflüsse. Zwischen den beiden großen Strömen breiteten sich Bergketten aus, und mit besonderer Sorgfalt waren die wichtigsten Pfade eingezeichnet, deren sich die Indianer auf ihrem Weg vom Cuyuni zum Orinoko bedienten. „Wo liegen die Siedlungen der Spanier?” fragte ich. „Zwischen uns und der Mündung des Orinoko gibt es überhaupt keine”, erklärte Pedro, „davon haben wir uns mit eigenen Augen überzeugt. Die Ankömmlinge könnten also von der Insel Trinidad ausgelaufen sein, wo sich eine spanische Niederlassung befindet, oder von der Insel Margarita.” „Ist das nicht zu weit?” „Man kann nicht wissen, Jan! Vielleicht sind sie hinter jemandem her? Wahrscheinlicher allerdings ist es, daß sie den Orinoko heruntergefahren sind und aus den Gegenden kommen, wo sich die Spanier schon vor langer Zeit festgesetzt haben.” „Haben sie dort starke Stützpunkte?” „Soldaten sind dort stationiert, aber wie stark die Stützpunkte sind, das weiß ich nicht. Mir ist nur bekannt, daß bei einigen Indianerstämmen Dominikanermissionen bestehen, außerdem habe ich von einer Siedlung gehört, die Angostura heißt.” „Wie weit von hier liegt diese Siedlung?” „Angostura? Genau kann ich es nicht sagen. Ich schätze hundert bis hundertfünfzig Meilen.” Während meiner Unterhaltung mit Pedro versammelten sich die Krieger unserer Sippe, und da sie alle mehr oder weniger gut Spanisch verstanden, hörten sie aufmerksam zu. Auch einige Indianer aus anderen Sippen gesellten sich zu ihnen. Diese verstanden überhaupt nicht Spanisch; doch als sie das Wort Angostura vernahmen, entstand lebhafte Bewegung unter ihnen. Der Name war ihnen bekannt. Sie kamen näher heran, und einer sprach mich an: „Weißer Jaguar, wir wissen, was Angostura ist. Dort sitzen die Spanier! Vor zwei Trockenzeiten, kurz nachdem wir uns hier am Itamaka niedergelassen hatten, waren sie bei uns. Damals haben sie uns entdeckt. Sie sagten uns auch, daß sie wieder-kämen.” „Erzähl dem Jaguar, was sie damals gemacht haben”, forderte ein anderer Indianer den Sprecher auf. „Was sie gemacht haben?” Der Indianer lachte. „Sie haben Ko-neso eine ganze Menge verschiedener Sachen übergeben. Nicht als Geschenke, o nein! Sie erklärten, daß sie wiederkämen und daß wir ihnen dann die Sachen bezahlen müßten. Vielleicht ist das der Grund, warum sie heute wieder aufgetaucht sind?” „Was waren es denn für Sachen?” „Ganz verschiedene! Hemden und Hosen, wie sie die Spanier tragen, aber schon sehr alte und zerrissene. Auch Schuhe ließen sie uns hier, die hatten aber Löcher, und getrocknetes Fleisch von ihren Kühen. Das Fleisch stank fürchterlich und wimmelte von Würmern, unsere Hunde sind dick und fett geworden davon. Außerdem gaben sie uns einige ganz komische Messer. Auch du besitzt so ein Messer, Weißer Jaguar! Am Morgen kratzt du dir damit vor der Hütte das Kinn.” „Das ist ein Rasiermesser. Rasiermesser haben sie euch gegeben? Euch wächst doch gar kein Bart!” Der Indianer blickte mich verwundert an, als ob ich eine ganz außergewöhnliche Entdeckung gemacht hätte, und brach dann in kindliche Fröhlichkeit aus. „Wer sagt denn”, seine Mundwinkel zuckten spöttisch, „wer sagt denn, daß uns die Messer die Haare vom Gesicht nehmen sollten?” „Wozu hätten sie sonst dienen sollen?” „Wir konnten sie zu nichts gebrauchen. Sie waren abgenutzt, schartig und verrostet, nicht einmal weiches Holz schnitten sie. Sie zerbrachen schon, wenn man sie in die Finger nahm.” „Warum habt ihr sie dann angenommen?” „Wir mußten sie nehmen. Die Spanier zwangen uns dazu und drohten, daß sie uns sonst in die Sklaverei mitnehmen würden.” „In die Sklaverei wollten sie euch verschleppen?” „Ja. Es waren keine Händler. Der Corregidor, der spanische Kommandant in Angostura, hatte sie geschickt und ihnen Söldner mit vielen Schußwaffen mitgegeben.” Die Auskunft des Indianers erschien mir unglaubwürdig und phantastisch; doch Pedro, der bereits etwas Arawakisch verstand, erklärte mir, daß alles durchaus so gewesen sein konnte, wie der Indianer es eben erzählt hatte. Eine der Methoden, mit denen die Spanier die Indianer in Schach hielten, waren die sogenannten Repartimientos. Sie beruhten darauf, daß die Corregidoren oder Bezirkspräfekten die Stämme nötigten, von ihnen zu übertrieben hohen Preisen verschiedene Waren zu kaufen, für die diese kaum Verwendung hatten oder die bereits völlig unbrauchbar waren. Die Indianer brauchten diese Waren nicht gleich zu bezahlen, sondern erst nach ein oder zwei Jahren, und zwar forderten die Spanier Naturalien dafür, Waldfrüchte, Produkte des Ackerbaus oder auch Erzeugnisse des Handwerks. Konnten die Indianer die Schuld nicht bezahlen oder erregten sie auf andere Weise den Unwillen der Ab-gesandten des Corregidors, so wurde zur Strafe eine bestimmte Anzahl junger Männer mitgenommen, die auf den Haziendas oder in den Bergwerken arbeiten mußten. „In der Regel sind sie verpflichtet, diese Arbeit eine bestimmte Zeit zu leisten, zwei, drei oder fünf Jahre”, fügte Pedro noch hinzu; „doch kehrt in Wirklichkeit keiner von ihnen jemals in sein Heimatdorf zurück. Die meisten sterben in der Fremde vor Entkräftung und Heimweh, da sie ihr Herr bis zum Ende ihres Lebens nicht freigibt. Ich habe es öfter gesehen. Es sind unglückliche arme Teufel.” „Du meinst also, es könnten Abgesandte des Corregidors sein, die die Schuld eintreiben wollen?” „Das ist möglich.” Manauri hatte sofort zwei Späher an den Rand des Urwaldes entsandt, die die Bewegungen der Spanier verfolgen und uns ein Zeichen geben sollten, falls diese sich uns nähern würden. Am Ufer lag unser Schoner, eine willkommene Beute für die habgierigen Spanier. Von Serima aus konnte er nicht gesehen werden. Die Ankömmlinge sollten weder unseren Segler noch unsere Freunde, die Neger, entdecken. Ich bedeutete Manauri, Arnak und dem Neger Miguel unauffällig, mir in die Hütte zu folgen. Als wir allein waren, setzte ich ihnen meinen Plan auseinander. Miguel und seine vier Gefährten sollten sofort den Schoner flußaufwärts schleppen. Das war nicht allzuschwer, weil die Flut das Wasser vom Orinoko in den Itamaka drückte. Etwa eine Meile oberhalb unserer Siedlung bildete das alte Flußbett im Urwald eine schmale, langgezogene Bucht, dort würde das Schiff vor den Augen jedes Spähers sicher sein. „Alle Neger bewaffnen sich mit Büchsen, Pistolen und Keulen, ver- bleiben mit der Negerin Dolores auf dem Schoner und werden abwechselnd Wache halten.” Die Freunde waren mit diesem Vorschlag einverstanden, nur Manauri äußerte den Wunsch, die Neger mögen den Segler weiter flußaufwärts bringen. Drei Meilen von hier befinde sich eine zweite Bucht, die Potaro genannt werde, dort könne das Schiff noch besser verborgen werden. „Gut so”, entgegnete ich und wandte mich an Miguel: „Die Hauptsache ist, daß niemand eure Abfahrt bemerkt, verstehst du? Das ist durchaus möglich, weil die Aufmerksamkeit aller auf Serima gerichtet ist und der Fluß in der Niederung hinter dem Hügel dahinfließt.” Die verbleibenden Krieger unserer Sippe teilte ich in zwei Gruppen, die unter dem Kommando Arnaks und Waguras stehen sollten. Ich wollte gerade mit Manauri und Pedro auf Erkundung gehen, als einer unserer Späher im Laufschritt zurückkehrte und berichtete, daß Koneso zu uns gelaufen komme. „Er läuft?” fragte ich verwundert. „Der Oberhäuptling läuft?” „Und wie!” Koneso lief tatsächlich. Zwar rannte er nicht so schnell wie die beiden Indianer, die uns das Eintreffen der Spanier in Serima gemeldet hatten, schließlich war er ja viel dicker und auch älter als sie, aber er lief, er hatte es sehr eilig, mit uns zu sprechen. Er eilte geradewegs auf Manauri zu. Im Gesicht des Oberhäuptlings war keine Spur mehr von Hochmut, seine Aufgeblasenheit war völlig verschwunden. Das hier war nur noch ein schnaufender Dicker in großer Verlegenheit. „Manauri”, keuchte er. „Ich brauche dich! Schnell, schnell! Du mußt mir helfen!” „Gut, aber wie soll ich dir helfen?” Manauri tat überrascht. „Ich kann mich nicht mit ihnen verständigen. Du sprichst doch Spanisch.” „Allerdings.” „Du mußt ihnen sagen, daß ich keine Reichtümer besitze. Sie verlangen so viel, als hätten sie den Verstand verloren. Das ist ausgeschlossen. Wir sind arm, das können wir unmöglich. Das muß man ihnen sagen.” „Was fordern sie denn eigentlich?” „Alles, alles! Frage lieber, was sie nicht verlangen! Wenn wir ihre Gier befriedigen wollten, so müßte der ganze Stamm mindestens ein Jahr lang auf dem Feld, im Wald und auf dem Fluß schuften. Und dann wäre es noch zuwenig. Ersticken sollen sie! Ich weiß nicht, womit ich zahlen soll, und sie fordern und fordern.” Ich mischte mich in das Gespräch: „Wieviel sind es denn?” Koneso verstummte, um sich zu sammeln. „Zehn oder zwölf Spanier sind es. An ihrer Spitze steht Don Esteban, der Abgesandte des Corregidors in Angostura. Alle sind schwer bewaffnet.” „Und wieviel Indianer?” „Bestimmt fünf mal zehn. Es sind die Ruderer, tragen aber alle indianische Waffen bei sich. Sie sind vom Stamm der Tschaimas.” „Was sind das für Indianer? Wo leben sie?” „In der Nähe von Angostura. Sie sind aus der Dominikanermission.” „Sind es die gleichen Spanier, die vor zwei Trockenzeiten hier waren und die euch damals die verdorbenen Sachen aufgenötigt haben?” „Genau die gleichen! Woher weißt du das?” „Ich weiß es.” Der Fall hatte sich also geklärt, es waren tatsächlich Reparti-mientos. Die Spanier waren nicht gekommen, um zu kämpfen oder zu töten, sondern verlangten Bezahlung, forderten Tribut. Doch was würden sie tun, wenn sie diesen nicht erhielten? Würden sie sich nicht auf die Indianer werfen, da sie gegenüber den „Wilden” immer sehr schnell zur Gewalt griffen? Die gleichen Befürchtungen hegte auch Koneso, deshalb war er so aufgeregt und suchte krampfhaft nach einem Ausweg. Als seine umherirrenden Augen auf Pedro fielen, schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. Er ging schnell auf den Jüngling zu und legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter, sein ganzes Gesicht strahlte Wohlwollen aus. „Du bist doch unser Gefangener, nicht wahr?” sagte er freundlich lächelnd. „Hast du es schlecht gehabt bei uns? Ist dir ein Unrecht widerfahren, oder hat dich jemand gekränkt?” Pedro war verwirrt und wußte nicht, was er antworten sollte. „Nein”, stammelte er schließlich. „Du kannst dich also nicht über uns beklagen. Ich werde dir die Freiheit zurückgeben, aber du mußt dich bei Don Esteban für uns einsetzen! Wir schenken ihm einen Landsmann, wenn er als Gegenleistung Rücksicht zeigt und uns die Schuld erläßt! Wirst du dich dafür einsetzen?” „Wenn du willst... Ich kann. . .” „Hör zu, Koneso”, unterbrach ich das Gespräch. „Du scheinst vergessen zu haben, daß Pedro mein Gefangener war.” „Läuft das nicht auf das gleiche hinaus?” Der Häuptling warf mir einen schiefen Blick zu, in seinen Augen blitzte Zorn auf. „Es läuft nicht auf das gleiche hinaus!” „Willst du Pedro noch länger in Gefangenschaft halten?” „Nein, ich habe ihm bereits erklärt, daß er frei ist.” „Warum verwehrst du es ihm dann, zu Don Esteban zu gehen?” „Ich lege ihm nichts in den Weg. Ich will dir nur sagen, daß ich ihn freigelassen habe, ohne eine Bedingung zu stellen, und dabei bleibt es!” „Willst du Pedro vielleicht verbieten, daß er sich bei den Spaniern für uns einsetzt?” brüllte Koneso giftig. „Ich habe nicht die Absicht, mich mit dir zu streiten, Oberhäuptling’, gab ich zur Antwort und zuckte mit den Schultern. In diesem Augenblick bemerkte ich, daß seine unruhigen Augen plötzlich erstarrten, ein schlaues Leuchten glimmte in ihnen auf, das gleich darauf wieder erlosch. Ein neuer Einfall schien ihm gekommen zu sein. Unwillkürlich warf er einen schnellen Blick zum Fluß hinunter, genau in die Richtung, in der unser Schoner lag. Zwar blieb das Schiff durch eine Bodenwelle unseren Blicken entzogen, doch verrieten mir die ruckartige Bewegung Konesos und dessen durchtriebener Gesichtsausdruck, daß sich seine Gedanken mit dem Segler beschäftigten. Der elende Verräter stellte neue Überlegungen an. Da ihm sein Vorhaben mit Pedro nicht geglückt war, sollte ihm nun unser schönes, stolzes Schiff aus der Verlegenheit helfen. Für so ein Geschenk würden ihm die Spanier bestimmt dankbar sein! Kaum hatte ich die schmutzige Absicht des Häuptlings durchschaut, raunte ich Arnak auf englisch zu, er solle schnell zum Fluß hinunterlaufen, die Neger die Arbeit am Schoner unterbrechen lassen und sie irgendwo in der Nähe gut verstecken. Dann ging ich auf Koneso zu, deutete auf den Pfahl mit dem Jaguarschädel und raunte ihm wütend ins Ohr: „Sieh dorthin! Das Auge des Jaguars berichtet mir alles!” Überrascht durch meinen jähen Ausbruch, sahen die umstehen-den Krieger bald mich an, bald den Schädel des Jaguars. Koneso wurde unsicher. „Der Schädel eröffnet mir”, fuhr ich fort, „daß du auf Verrat sinnst. Du willst dich mit unserer Beute loskaufen. Ich warne dich davor!” „Der Schädel — der Schädel?” murmelte der Häuptling erschreckt. „Der Zauberschädel!” „So ist es! Er hat mir genau den schändlichen Plan verraten, den du eben geschmiedet hast.” Seine Erregung war die Bestätigung meiner Vermutungen. Ich ließ ihn stehen, ging mit Manauri einige Schritte zur Seite und beauftragte ihn, dem Wunsche Konesos zu entsprechen und mit ihm nach Serima zu gehen; doch solle er einen gewandten Gefährten aus unserer Sippe mitnehmen, der Spanisch verstand. Dessen Aufgabe sei es, mich zur rechten Zeit über den Stand der Dinge und über den Verlauf der Unterredung mit den Spaniern zu unter-richten. Kurz darauf machten sich Koneso, Manauri und der bewußte dritte auf den Weg. Koneso näherte sich dabei dem Ufer, um einen Blick auf den Fluß werfen zu können. Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Er war etwas ruhiger geworden und schien seine Aufregung bezwungen zu haben. Beim Anblick des Schiffes, das wie gewöhnlich am Ufer festgemacht war und einsam auf den Wellen schaukelte, huschte ein Ausdruck der Genugtuung über sein Gesicht. Auch ich lächelte befriedigt. Kaum waren sie außer Sichtweite, als ich das Fernrohr nahm und an den Rand des Wäldchens ging, um ihre Ankunft in Serima zu beobachten. Am Ufer des Flusses erblickte ich drei große Boote; unweit davon hatten sich die Ruderer am Ufer niedergelassen. Es waren mit Bogen und Keulen bewaffnete Indianer. In der Nähe der ersten Hütten gewahrte ich die Spanier, auch sie hielten sich in einer Gruppe. Einige hatten sich auf dem Rasen ausgestreckt und schienen zu schlafen, andere standen und hielten wahrscheinlich Wache. Die Schußwaffen waren zu Pyramiden zusammengesetzt. Soweit ich es durch das Fernrohr erkennen konnte, trugen die Spanier alle schwarze Bärte und machten den Eindruck verwegener, beutegieriger Haudegen. Ihre Seele und ihr Gewissen schienen kaum heller zu sein als ihre Bärte. Nur Don Esteban, den Abgesandten des Corregidors, wie Koneso ihn genannt hatte, konnte ich nirgends entdecken. Wahrscheinlich saß er bereits mit dem Oberhäuptling und Manauri unter dem Dach einer der Hütten. Obgleich sich die Spanier und die Indianer völlig ruhig verhielten, zeigten die Art ihrer Gruppierung und die griffbereiten Waffen deutlich, daß sie auf der Hut waren. Noch einmal überblickte ich das Gelände, und da weiter nichts Interessantes zu erspähen war, kehrte ich in meine Hütte zurück. Ungefähr zwei Stunden später traf die erste Nachricht aus Serima ein: es stand schlecht um die Verständigung. Die Spanier forderten eine sehr hohe Bezahlung und drohten bei Ablehnung mit den strengsten Strafen. Über die Existenz meiner Person und unserer Sippe waren sie bereits unterrichtet. Noch schlimmer war, daß ihnen mißgünstige Münder hinterbracht hatten, unsere ganze Sippe setze sich aus ehemaligen Sklaven zusammen, die ihrer spanischen Herrschaft entflohen seien und dabei viele Spanier umgebracht hätten. Die Anwesenheit Pedros gestattete uns nicht, den Ankömmlingen alle Ereignisse der Vergangenheit zu verschweigen, trotzdem bereitete es mir großen Schmerz, daß sich unter den Arawaken so niederträchtige Zuträger gefunden hatten, die nicht davor zurückschreckten, ihre eigenen Brüder bei diesem unerbittlichen Feind zu verklagen. Sollte Koneso in seinem Jähzorn so tief gesunken sein? Während dieser Zeit war der Schoner flußaufwärts geschleppt worden und hatte ohne Zwischenfälle das Versteck in der entlegenen Bucht erreicht; ein Bote überbrachte mir diese Nachricht. Vor der Abfahrt des Schiffes hatte ich sämtliche Feuerwaffen sowie Papier und Tinte an Land bringen lassen. Nun mußte ich handeln. „Pedro!” Ich wandte mich dem Jüngling zu. „Es gibt da ein spanisches Buch, das die unterhaltsamen Abenteuer eines etwas sonderbaren Ritters beschreibt. Kennst du es vielleicht?” „Das kann nur Don Quijote sein.” „Ja, ja, das ist es! Wie heißt doch der Schöpfer dieses Werkes?” „Miguel de Cervantes Saavedra.” Ich schrieb mit Pedros Hilfe folgenden Brief an die Spanier: Ilustrisime Senor Comandante! Erlauchter Herr Kommandant! Den glücklichen Umstand des Eintreffens des Wohlgeborenen Herrn in unserer nächsten Umgebung wahrnehmend, lasse ich es mir zur hohen Ehre gereichen, dem Erlauchten Herrn meinen aufrichtigen Gruß und den Ausdruck vorzüglicher Hochachtung zu übermitteln. Gleichzeitig gestatte ich mir, Seine Hochwohl-geboren mit dem größten Vergnügen davon in Kenntnis zu setzen, daß ich den achtbaren Jüngling Pedro Martinez, der durch das launenhafte Walten verschiedener äußerst bedauerlicher, aber nicht durch uns verschuldeter Umstände und Ereignisse während der letzten Monate mein Reisegefährte war, der Obhut des Erlauchten Herrn anvertraue. Mein Ersuchen, der Herr Kommandant möge dem Jüngling seinen Schutz gewähren, darf ich mit der inständigen Bitte verbinden, der Erlauchte Herr möge meinen Freunden, den Arawaken, mit solcher Großmut gegenübertreten, die eines Abgesandten des Volkes, das einen Cervantes Saavedra hervorgebracht hat, würdig ist. Mit allen Zeichen höchster Ehrerbietung grüße ich den Edlen Herrn. John Bober „Kann man das mit dem Cervantes Saavedra so lassen? Klingt es nicht zu geschwollen?” fragte ich Pedro. „Sollte ich zu dick aufgetragen haben?” „Ein Versuch kann nie schaden”, antwortete der junge Mann, der sich in freudiger Stimmung befand, weil seine Sache eine so günstige Wendung genommen hatte, wenn ihn auch bei dem Gedanken an die bevorstehende Trennung von uns ein schmerzhaftes Gefühl überkam. Ich bat Pedro, den Brief zu überbringen und gleich im Kreise seiner Landsleute in Serima zu verbleiben. Wir alle, insbesondere der lustige Wagura, hatten den jungen Spanier sehr liebgewonnen und umarmten ihn herzlich. Es sollte aber nicht der letzte Abschied von ihm gewesen sein. Ein nächtliches Unternehmen Wenig später suchte mich die Mutter Lasanas auf. Sie machte eine geheimnisvolle Miene. Auf dem Rückweg aus dem Urwald, wo sie Kräuter gesammelt hatte, habe sie der alte Katawi, der an der Mündung unseres Flusses (Itamaka) in den großen Fluß (Orinoko) lebe, angehalten und ihr aufgetragen, sie solle mir mitteilen, daß er am Rande des Urwaldes auf mich warte. Außerdem habe er nachdrücklich gefordert, daß niemand etwas davon erfahren dürfe. „Warum kommt er nicht selbst zu mir?” fragte ich entrüstet, denn ich vermutete einen Hinterhalt, den die Frau nicht durchschaut hatte. „Er will hier nicht gesehen werden, es handelt sich um eine sehr wichtige Sache.” „Wer ist dieser Katawi? Kennst du ihn?” „Freilich kenne ich ihn, ich kenne ihn sehr gut. Er hält zu uns. Er ist ein guter Mensch, den Zauberer kann er nicht leiden. Geh zu ihm, er hat es sehr eilig!” Ich weihte Arnak und Wagura in das Geheimnis ein. Obgleich sie Katawi nicht kannten, schenkten beide dem Verstand und der Umsicht der Frau volles Vertrauen. „Gehen wir zu dritt”, schlug Wagura vor, dessen Augen vor Abenteuerlust blitzten. Wir nahmen die Waffen, mit denen wir auf die Jagd zu gehen pflegten, und machten uns auf den Weg. Katawi erwartete uns an der bezeichneten Stelle. Der Indianer war ein bejahrter, aber noch rüstiger Mann,. der sich vom Fischfang ernährte. Seine Hütte befand sich ungefähr fünf Meilen flußabwärts. Obwohl er einen durchaus vertrauenerweckenden Eindruck machte, entfernten wir uns etwa fünfzig Schritt vom Ort unseres Zusammentreffens und beobachteten aufmerksam das Dickicht. Niemand kam hinter uns her. „Sprich, Katawi”, forderte ich ihn auf, als wir zu viert im Schatten eines großen Baumes standen. Katawi mochte vielleicht ein geschickter Fischer sein, ein gewandter Redner war er nicht. Wir mußten sehr aufpassen und aus seinen zusammenhanglosen Worten den eigentlichen Inhalt des-sen, was er erzählen wollte, herausschütteln wie durch ein Sieb. Je klarer dieser Inhalt wurde, um so verwunderter waren wir, und um so mehr stieg unsere Spannung. Bei Tagesanbruch hatte Katawi am Fluß gefischt, als in der Dämmerung plötzlich fünf fremde Boote aufgetaucht waren — lauter Itauben, große Boote, die aus dem Stamm des Itauba-baumes hergestellt werden. Sie kamen vom großen Fluß herauf und waren mit Spaniern besetzt, denn Katawi hörte, daß den indianischen Ruderern spanische Befehle erteilt wurden. Gegenüber der Stelle, an der sich Katawi verborgen hielt, erhob sich unweit des Ufers eine kleine Insel aus dem Wasser. Auf diese hielten die Spanier zu und legten dort an. Gleich darauf setzten drei Boote die Fahrt fort und steuerten in die Mündung des Itamaka hinein. Wie der Fischer inzwischen erfahren habe, seien sie in Serima gelandet. Die beiden andern Itauben, die auf der Insel zurückgeblieben waren, hatten das Interesse Katawis erweckt. Er blieb in seinem Versteck, und als es hell wurde, entdeckte er ungefähr dreißig Gefangene. Sie waren gefesselt und lagen nebeneinander in einem der Boote. Um besser sehen zu können, bestieg er einen Baum, und von dort aus konnte er genau erkennen, daß es sich bei den Gefangenen um Warraulen handelte. Da die Gefangenen gebunden waren, hatten die Spanier nur zwei ihrer Leute und zwei Indianer bei ihnen zurückgelassen. Katawi konnte keine weiteren Wächter feststellen, obwohl er die Insel noch lang beobachtet hatte. „Glaubst du, daß sie die Insel bald wieder verlassen?’ fragte ich den Fischer. „Mir schien nicht, daß sie an baldigen Aufbruch dachten. Sie haben es sich auf der Insel bequem gemacht.” „Sie werden die Insel nicht früher verlassen, bevor nicht die andern aus Serima zurück sind, das ist sicher”, äußerte Wagura. „Ohne Zweifel.” „Und das zweite Boot? Du sagtest doch, daß dort zwei Itauben seien”, fragte ich Katawi weiter aus. „In dem einen liegen die Gefangenen. Was ist in dem andern? Ist es leer?” „Nein, es ist voll bis zum Rand, nur vorn und hinten befindet sich ein kleiner Platz für die Ruderer.” „Womit ist es angefüllt?” „Das weiß ich nicht, denn sie haben Matten darüber gebreitet. Wahrscheinlich ist es die Verpflegung für die ganze Expedition, die, alle zusammen, etwa zehn mal zehn Menschen zählt.” „Und du bist sicher, Katawi, daß es Warraulen sind, die in den Booten liegen?” „Du kannst mich töten, wenn es nicht stimmen sollte!” Bereits bei den ersten Worten des Fischers hatte ich mir fest vorgenommen, die Warraulen zu befreien. Hier fand ich bestätigt, was mir Pedro über das System der Repartimientos gesagt hatte. Sicher waren die Warraulen außerstande gewesen, die Forderungen der Spanier zu erfüllen, und diese hatten jene dreißig mit Gewalt entführt, um sie für sich arbeiten zu lassen. „Wir haben mit den Warraulen ein feierliches Bündnis geschlossen”, sagte ich zu meinen beiden Gefährten. „Sie sind unsere Brüder. Wir werden nicht zugeben, daß ihnen ein Unrecht geschieht.” „Ich würde nicht zu den Spaniern gehen und sie bitten, die War-raulen freizulassen , widersetzte sich Wagura. „Niemand hat von Bitten gesprochen”, erwiderte ich mit fester Stimme. „Wir selbst werden sie befreien!” Die beiden Freunde wären vor Freude am liebsten in die Höhe gesprungen, selbst der so beherrschte Arnak geriet aus der Fassung. „Du, Katawi”, wandte ich mich voller Anerkennung an den Fischer, „hast dir ein großes Verdienst erworben! Wir sind dir dankbar. Aber du mußt uns bei der Befreiung behilflich sein, allein schaffen wir es nicht. Wie bereits gesagt, war Katawi ein alter Fischer und zeigte nicht gerade Begeisterung für Heldentaten. Er stotterte: „Wenn ich dazu imstande bin.” „Du brauchst uns nur den Weg zu weisen, das andere erledigen wir.” „Das ist gut, das ist gut so”, erklärte er und war wieder beruhigt. „Wie kommen wir vom Ufer auf die Insel?” „Oh, das ist sehr leicht! Ich habe zwei kleine Boote, und es ist sehr nahe.” „Wie viele haben in ihnen Platz?” „Sechs, vielleicht sieben.” „Ausgezeichnet! Wir werden sechs Mann sein und du, als unser Fährmann, der siebente. Sobald die Nacht hereinbricht, fahren wir los. Katawi war ein zu wichtiges Glied bei unserem Vorhaben, als daß wir ihn auch nur einen Augenblick aus den Augen lassen konnten. Außerdem sollte er uns noch den Landeplatz genau beschreiben, da wir die uns unbekannte Insel im Dunkel der Nacht betreten wollten. Wir fragten daher nicht lange und nahmen ihn mit, wobei wir die fremden Hütten in weitem Bogen umgingen. Auf Umwegen, geschützt durch das Ufergebüsch, langten wir wohlbehalten in unserer Hütte an. Hier wiesen wir ihm einen Platz in der dunkelsten Ecke zu, und einer unserer Krieger leistete ihm Gesellschaft. Es war sehr wichtig, daß sich jemand an dem Unternehmen beteiligte, der die Sprache der Warraulen gut beherrschte. Wiederum war es Katawi, der uns hierbei einen guten Rat gab. Er nannte uns Aripaj, den Vater des unglücklichen Kanaholo. Dessen Frau war eine Warraulin, und er hatte von ihr diese Sprache er-lernt. Da uns Aripaj freundlich gesinnt war, schickte ich sofort einen Boten zu ihm, der ihn holen und gleichzeitig Manauri über die Lage in Kenntnis setzen sollte. Der Häuptling erhielt den Auf-trag, die Spanier, falls sie Serima verlassen wollten, mit allen Mitteln von dieser Absicht abzubringen. Nach etwa zwei Stunden kamen Aripaj und der Bote zurück und überbrachten die Kunde, daß die Spanier nicht die Absicht hätten, heute von Serima abzufahren. Aripaj wurde in unseren Plan eingeweiht und erklärte sich sofort bereit, an dem nächtlichen Abenteuer teilzunehmen. Als nach den fieberhaften Vorbereitungen etwas Ruhe und Entspannung eintrat, drängten sich mir eigenartige Gedanken auf. In den letzten Stunden jagte ein Ereignis das andere, Unruhe und Unsicherheit griffen immer weiter um sich. Der Stamm der Arawaken war in zwei Lager gespalten, und niemand wußte, mit welchen Niederträchtigkeiten die Gegner uns noch überraschen würden. In Serima saßen die Spanier; man mußte jederzeit damit rechnen, daß sie, einer Laune nachgebend, uns plötzlich ihre ganze Grausamkeit fühlen ließen. Der Zauberer Karapana brütete womöglich schon wieder einen neuen Anschlag auf mein Leben aus, und der wankelmütige, bestürzte Koneso faßte vielleicht gerade den Entschluß, uns an die Spanier zu verkaufen. War unser Schoner gut versteckt, und würde ihn Miguel gegen einen Angriff verteidigen können? Hinzu kam die neue Sorge mit den gefangenen Warraulen und dem nächtlichen Befreiungsversuch, der uns verteufelte Ungelegenheiten bringen mußte, wenn er nicht gelang. Alle diese verworrenen Fäden liefen in meinen Händen zusammen, drehten und verhaspelten sich, und es blieb nur abzuwarten, welcher Faden als erster zerriß und das Unglück auf uns niederstürzen ließ. Wie leicht konnte man straucheln und zu Boden stürzen! Mir drehte sich von all dem der Kopf, und die Sinne verloren den Halt, als aber mein Blick auf den Platz vor der Hütte fiel, faßte ich von neuem Zuversicht und Mut. Dort standen zehn Krieger unserer Sippe in vollem Waffenschmuck. In ihren versteinerten Gesichtern lag verbissene Bereitschaft, sie erwarteten den Befehl, und in ihrer Mitte erkannte ich die unerschütterlichen Freunde Arnak und Wagura. Wer würde den Sieg davontragen, die Spanier oder wir? Die Ruhe währte nicht lange, den Gedanken war keine Erholung vergönnt. Einer der Späher aus dem Wäldchen stürmte herbei wie von Geistern gehetzt. „Sieben Spanier sind im Anmarsch!” sprudelte er hervor. „Alle schwer bewaffnet!” „Ob sie wirklich zu uns kommen?” „Ja, gleich werden sie am Rande des Wäldchens erscheinen.” Die Krieger nahmen die Nachricht mit bewundernswerter Ruhe auf. Ich befahl Arnak und Wagura, mit ihren Gruppen in der Nähe meiner Hütte bereitzustehen, aber in einem gewissen Abstand voneinander, und genau auf meine Zeichen zu achten. „Und ich?” stellte mich Arasybo zur Rede. „Was soll ich tun?” „Geh in meine Hütte und bewache die Waffen, die wir dort gelagert haben. Und vergiß nicht, auf Katawi zu achten!” Tatsächlich traten gleich darauf die Spanier aus dein Wäldchen ' heraus. Festen, gemessenen Schrittes kamen sie genau auf meine Hütte zu, die ihnen sichtlich beschrieben worden war. Die Musketen lagen auf ihren Schultern, wie Söldner sie auf dem Marsch zu tragen pflegen. Als sie bis auf zehn Schritt herangekommen waren, blieben sie stehen, stellten die Büchsen auf den Boden, der älteste von ihnen trat etwas vor und sprach erhaben und mit übertriebenem Ernst: „Senor capitano! Don Esteban, unser Oberst, hat befohlen, seinen aufrichtigen Dank für den Brief zu übermitteln. Er entbietet seinen herzlichen Gruß und bittet den Herrn Kapitän höflichst, als Gast bei ihm zu erscheinen.” Der Abend war nicht mehr fern, in einer Stunde würde die Sonne untergehen. Sobald es Nacht geworden war, wollte ich aufbrechen. Es blieb also heute keine Zeit mehr für einen Besuch, der mich wer weiß wie lange in Serima aufhalten konnte. „Ich danke Don Esteban für die Einladung. Sage ihm, daß es mir eine Ehre sein wird, ihn morgen vormittag zu besuchen.” „Er bittet, daß der Besuch noch heute stattfindet!” „Und ich bitte, er möge sich bis morgen gedulden!” Ein unmutiges Zucken huschte über das Gesicht des Spaniers, dessen Hand ungeduldig den Gürtel zurechtrückte. „Ich habe den Befehl erhalten”, erwiderte er dann mit etwas härterer Stimme als bisher, „dem Herrn Kapitän alle gebührende Achtung zu erweisen und ihn noch heute in unser Lager zu begleiten.” „Ihr sollt also mein Ehrengeleit sein?” fragte ich in lebhafterem Ton. „So ist es, wir sind das Geleit.” Zu seiner Verwunderung brach ich in Fröhlichkeit aus. „Ich brauche aber euer Geleit nicht. Ich habe meine eigene Begleitung. Blickt hierhin und nun nach der anderen Seite!” Ich deutete zunächst nach rechts und dann nach links auf die Gruppen von Arnak und Wagura. Die Krieger standen ungezwungen, hielten aber ihre Büchsen in der Hand und sahen ernst zu uns herüber. Der Spanier verstand und lächelte mit saurer Miene. „Es ist nicht meine Schuld”, sagte er dann, und seine Stimme klang wieder freundlicher, „daß ich meinen Befehl nicht ganz ausführen kann.” „Nein, es ist nicht eure Schuld”, bestätigte ich ihm bereitwillig. Er salutierte und wollte sich entfernen, doch ich hielt ihn noch zurück. „Ich möchte euch noch sagen, daß nach Sonnenuntergang kein Fremder diese Lichtung betreten darf. Die Wachen haben strengen Befehl, auf jeden zu schießen. Die Indianer in Serima wissen es, und nun habe ich auch euch, den Gästen, diese Anordnung zur Kenntnis gebracht.” „Jawohl, Herr Kapitän!” Sie zogen ab, wandten sich aber nicht gegen Serima, sondern nahmen Richtung auf den Fluß, und zwar genau auf jene Stelle des Flusses, an der bis vor kurzem unser Schoner gelegen hatte. Koneso mußte ihnen also doch verraten haben, daß wir ein Schiff besaßen! Nach kurzer Zeit kehrten die Spanier vom Fluß zurück. Sie gingen viel schneller und waren sichtlich erregt. Ich gab Arnak und Wagura ein Zeichen, worauf sie mit ihren Gruppen zu mir herankamen. „Senor, dort hat ein spanisches Schiff gelegen!” rief der Anführer der Gruppe. „Wo ist es?” „Es ist nicht da”, antwortete ich trocken. „Wieso ist es nicht da?” „Habt ihr nicht gesehen, daß es nicht da ist? Wieso kommt ihr übrigens auf den Gedanken, daß es ein spanisches Schiff wäre? Es gehört mir.” „Vorher aber hat es Spaniern gehört.” „Weder früher noch jetzt!” „Senor!” Der Spanier fühlte sich beleidigt. „Wir sind nicht hergekommen, damit andere sich über uns lustig machen!” „Inwiefern?” fragte ich mit unschuldiger Miene und zog die Augenbrauen hoch. „Wegen des Schiffes. Der Kommandant hat uns befohlen, es zu besetzen.” „Dazu hatte er kein Recht.” „Das kümmert uns nicht. Das Schiff gehört uns! Wo ist es?” „An einem sehr sicheren Ort.” „Wo, caramba?” Ich lachte ihm ins Gesicht und gab keine Antwort. Der Spanier war einem Wutausbruch nahe, doch beherrschte er sich, als sein Blick auf unsere Krieger fiel, die von zwei Seiten langsam auf ihn zukamen. „Wenn das alles ist, was du mir eröffnen solltest, dann kannst du jetzt gehen”, forderte ich ihn auf. „Don Esteban überbringe meinen Gruß und sage ihm, daß ich ihn morgen besuchen werde.” Der Spanier verbiß einen Fluch und zog dann mit seinen Leuten zum zweitenmal ab, diesmal aber in Richtung Serima. „Vergiß nicht, daß hier des Nachts niemand etwas zu suchen hat’, rief ich ihm noch nach. „Darin verstehen wir keinen Spaß!” Unsere Leute, die fast alle Spanisch verstanden, freuten sich über die Abfuhr, die ich den Söldnern erteilt hatte. Als die Sonne untergegangen war, wurde es schnell dunkel. Ich suchte drei gewandte Krieger aus, rief Wagura, Aripaj und Katawi herbei, und dann verschwanden wir zu siebt in der Nacht. Arnak blieb zum Schutz der Hütten zurück, außerdem sollte er die Reservewaffen und die Munition in ein sicheres Versteck bringen. Da bei einem nächtlichen Zusammenstoß Büchsen und Bogen nicht zu gebrauchen waren, hatten wir uns mit Pistolen, Messern und kurzen Keulen bewaffnet. Vier Bogen und eine entsprechende Anzahl Pfeile hatte ich trotzdem mitnehmen lassen. Unterwegs fragte mich Wagura: „Was sollen wir mit den Bogen?” „Wir brauchen sie.” „Sollen wir in der Nacht mit Pfeilen schießen?’ „Nein.” „Wozu schleppen wir sie dann mit?’ „Kommst du nicht selbst darauf?” Wagura zerbrach sich den Kopf, konnte aber keine Erklärung dafür finden, wozu wir die Bogen bei unserem nächtlichen Unternehmen brauchen sollten. Über seine ratlose Miene belustigt, überließ ich ihn den Zweifeln. Wieviel Tage war ich nicht mehr im Urwald gewesen! Als nun die altbekannten Gerüche des Waldes und das Pfeifen und Zischen der Tierwelt wieder auf mich eindrangen, als auf dem schmalen Pfad die nassen Zweige meinen Körper trafen, fühlte ich, wie mein Herz sich weitete und ein Strom neuer Kraft mich erfüllte. Katawi, der an der Spitze ging, kannte den Weg sehr gut und schritt energisch aus; wir andern rissen die Augen auf und versuchten mit ihm Schritt zu halten. Nach zweistündigem Marsch erklärte uns der Fischer, daß wir uns der Insel näherten. Zur linken Hand schimmerte ein Stück heller Wasserfläche durch das Gebüsch, und vor uns tauchte, wie aus dem Boden gewachsen, plötzlich eine Gestalt auf. Ein leises Räuspern ertönte, Katawi erwiderte es. Es war sein Sohn. Seit dem Weggang des Vaters hatte er die Insel ununterbrochen beobachtet. Er berichtete, daß sich die Lage nicht verändert habe, lediglich am Nachmittag hatten die Wächter den Gefangenen gestattet, auf der Sandbank ihre Notdurft zu verrichten. Anschließend hatten sie sie wieder ins Boot gejagt und an Händen und Füßen gefesselt. Nach der Beschreibung Katawis war die Insel von gestreckter Gestalt, etwa hundert Klafter lang, jedoch höchstens achtzig Schritt breit. Sie verlief parallel zum Ufer und war von diesem durch einen tiefen, aber nicht sehr breiten Wasserarm getrennt. Das Eiland war aus einer Sandbank entstanden, auf der im Laufe der Jahre verschiedene Pflanzen angeschwemmt worden waren und Wurzeln geschlagen hatten; sogar vereinzelte Bäume ragten hier zum Himmel. Die Spanier waren auf der dem Ufer zugekehrten Seite der Insel gelandet, an einer Stelle, die von hohen Bäumen umstanden war und sich daher vom eigentlichen Flußbett des Itamaka nicht einsehen ließ. Sie waren überzeugt, daß ein zufällig Vorüberfahrender sie nicht entdecken würde. Feuer hatten sie nicht entzündet, da der Rauch leicht zum Verräter werden konnte. Immer zwei von ihnen hielten Wache: ein Spanier und ein Indianer. Während sich diese beiden in der Nähe der Gefangenen aufhielten, schlief die Ablösung im Vorderteil des zweiten Bootes. Ursprünglich war es meine Absicht gewesen, über den schmaleren Flußarm an die Gefangenen heranzukommen, den ersten die Fesseln zu durchschneiden und ihnen Messer und Keulen zuzustecken, damit sie die Wächter überwältigen und sich ohne unsere Hilfe befreien könnten. Da ich aber von ihrem Mut und ihrer Kampfgewandtheit nicht überzeugt war, verwarf ich diesen Plan und beschloß, das ganze Vorhaben mit eigenen Kräften zu Ende zu führen. Die beiden kleinen Boote des Fischers lagen im Ufergebüsch weit oberhalb der Insel. Wir ließen sie vorsichtig ins Wasser gleiten. Ich erteilte die letzten Anweisungen, vor allem schärfte ich den Gefährten ein, daß weder die Spanier auf der Insel noch die in Serima auf den Gedanken kommen dürften, wir hätten die Warraulen befreit. „Auch die auf der Insel nicht?” flüsterte Wagura. „Und da sollen wir sie am Leben lassen?” „Du weißt, daß ich nicht gern töte, wenn es nicht unbedingt sein muß.” „In diesem Fall ist es aber sehr notwendig.” „Der Meinung bin ich nicht! Sie sind nur vier, wir aber sind fünf, mit Aripaj sogar sechs. Wir fallen plötzlich über sie her und schlagen ihnen die Keulen auf den Kopf. Wird dabei einem der Schädel eingeschlagen, so läßt sich daran nichts mehr ändern. Man kann aber den Schlag so führen, daß der Gegner nur das Bewußtsein verliert — und so müssen wir es tun!” „Sollen wir sie fesseln?’ „Selbstverständlich! Wir fesseln sie und wickeln ihnen irgend etwas um die Köpfe, damit sie nichts hören und nichts sehen können. Außerdem werden sie kaum das Bewußtsein wiedererlangen, solange wir auf der Insel sind, denn wir werden sehr schnell verschwinden.” Ich merkte, daß Wagura noch etwas auf dem Herzen hatte. Es waren die Bogen und die Pfeile. Sie ließen ihm keine Ruhe und quälten ihn sogar jetzt. „Mit den Keulen werden wir sie also niederschlagen?” fragte er in scheinbar gleichgültigem Ton. „Ja, mit den Keulen.” „Wir werden nur die Keulen gebrauchen?” „Nur die Keulen.” „Jan, nun gibst du doch selbst zu, daß die Bogen überflüssig sind”, stieß er triumphierend hervor. „Ich hatte doch recht, es war sinnlos, sie mitzuschleppen.” „Oh, du streitsüchtiges Hähnchen!” spottete ich. „Es kommt bald die Zeit, wo du einsehen wirst, daß du nicht recht hattest.” „Soll das heißen, daß wir die Bogen noch brauchen werden?” „Sehr nötig sogar.” „Das verstehe ich nicht.” „Du mußt deinen Gehirnkasten ein wenig anstrengen.” Wir stießen vom Ufer ab. Katawi, dessen Sohn und einer unserer Krieger fuhren mit mir im ersten Boot, im zweiten, das dicht dahinter lag, befanden sich Wagura und die übrigen. Der Strom trieb uns ziemlich schnell flußabwärts. Nach einiger Zeit tauchten über dem Wasser vor uns dunkle Konturen auf: die Spitze der Insel. Wir bogen nicht in den Flußarm ein, sondern fuhren den Hauptstrom hinunter und landeten ungefähr in der Mitte der Insel. Dort verließen wir die Boote, und Katawi versicherte uns, daß die Spanier höchstens sechzig, siebzig Schritt von uns entfernt seien; wir brauchten nur das Buschwerk vor uns zu durchqueren, um zu ihrem Lagerplatz zu gelangen. Da jeder von uns seine Aufgabe genau kannte, setzten wir uns unverzüglich in Bewegung. Das Gestrüpp war nicht allzu dicht und verhältnismäßig leicht zu durchdringen. Wir bewegten uns sehr vorsichtig und verursachten kaum ein Geräusch. Plötzlich hörte das Buschwerk auf, und vor uns breitete sich eine Sandfläche aus. Bis zum Ufer waren es vielleicht noch fünfzehn Schritt. Etwas weiter unten entdeckte ich das Lager der Spanier. Der längliche schwarze Schatten auf dem hellen Sand mußte das Boot sein, das an Land gezogen worden war, während das zweite auf dem Wasser schwamm. „In dem Boot auf dem Land liegen die gefesselten Gefangenen”, flüsterte mir Katawi ins Ohr. „Kannst du den Wächter erkennen?” Ich glaubte eine Gestalt wahrzunehmen, die auf dem Bootsrand saß, zweifellos war es einer der Wächter. Er rührte sich nicht. Wo aber steckte der andere? „Du hast doch gesagt, daß immer zwei Wache halten”, fragte ich Katawi beunruhigt. „Ja, immer zwei.” „Der zweite ist nirgends zu sehen.” Katawi sprach leise mit seinem Sohn, doch konnten sie keine vernünftige Erklärung für die Abwesenheit des zweiten Wächters finden. „Vielleicht hat er sich hingelegt und schläft?” „Und ihr wißt genau, daß die beiden andern in dem zweiten Boot schlafen?” „Ganz genau”, antwortete der Sohn des Fischer. „Sie schlafen im Vorderteil des Bootes, das uns zugekehrt ist.” „Hast du gehört, Wagura?” „Ich habe verstanden.” Wenn wir uns im Schatten des Gebüsches hielten, konnten wir uns den Booten bis auf zwanzig Schritt nähern, dann aber mußten wir über die offene Sandfläche laufen, um zu dem Wächter zu gelangen. Dabei konnten wir leicht vorzeitig entdeckt werden. Um diese Gefahr zu verringern und gleichzeitig herauszubekommen, wo sich der zweite Wächter verbarg, entschloß ich mich zu einer List, die ich in den virginischen Wäldern kennengelernt hatte. Sie diente dem Zweck, die Aufmerksamkeit in eine falsche Richtung zu lenken. Größere und kleinere Steine lagen überall umher, ich belehrte Katawi und dessen Sohn, wann und wie sie die Steine ins Wasser werfen sollten, dann gingen wir ans Werk. Es war so dunkel, daß wir nicht innerhalb des Strauchwerks vorzudringen brauchten, sondern am Rande des Gebüsches entlanggehen konnten. Wir bewegten uns äußerst vorsichtig, damit der Sand unter unseren Füßen nicht zu laut knirschte. Bald be- fanden wir uns gegenüber dem Boot mit den Gefangenen. Hier blieb ich mit Kokuj, einem der stärksten Krieger unserer Sippe, zurück. Wagura und seine Gefährten gingen noch einige Schritte weiter, bis zu der Stelle, die dem zweiten Boot am nächsten lag. Katawi war indessen nicht müßig. Weit von uns entfernt, ungefähr in der Mitte des Flußarms, plumpste ein Stein ins Wasser. Die Gestalt des Wächters rührte sich nicht. Sollte er eingeschlafen sein? Ein zweiter und ein dritter Stein fielen glucksend in den Kanal. Es klang ganz eigenartig, als ob geheimnisvolle Tiere im Wasser ihr Unwesen trieben. Endlich gab der Wächter ein Lebenszeichen von sich. Er stand auf und streckte sich. Die geheimnisvollen Laute erweckten seine Aufmerksamkeit, er beugte sich vor und blickte forschend auf die dunkle Oberfläche des Kanals. Als es erneut plätscherte und gluckste, kamen ihm Zweifel, und er rief mit gedämpfter Stimme: „Senor Fernando! Senor Fernando!” Aus dem Sand neben der Bordwand des Bootes erhob sich ein Mensch und fragte mit verschlafener Stimme: „Que cosa? Was ist los?” Es war ein Spanier. Der andere, der auf dem Bootsrand gesessen hatte, war Indianer. Ich stieß Kokuj an und gab ihm durch ein Handzeichen zu verstehen, daß ich den Spanier übernehme und er sich auf den Indianer stürzen solle. Wir lösten uns aus dem Schatten des Dickichts und sprangen mit federnden, vorsichtigen Schritten nach vorn. Eben plumpste es wieder im Kanal, außerdem verursachten Frösche und anderes Getier ziemlichen Lärm. Unbemerkt gelangten wir bis zum Boot und ließen fast gleichzeitig die Keulen auf die beiden Köpfe niedersausen. Die Getroffenen sanken lautlos zu Boden, nur der Spanier gab einen leisen, gurgelnden Ton von sich. Das Geräusch der Keulenschläge war das Signal für Wagura. Ich lief zu dem zweiten Boot, doch hier war keine Hilfe mehr nötig. Die Freunde hatten das Werk bereits vollendet. Die schla- enden Wächter waren gar nicht erst erwacht, so schnell hatten die Schläge sie betäubt. Wir banden allen vieren Hände und Füße und schleppten sie in das Gestrüpp. Den Spaniern wickelten wir außerdem ihre eigenen Hemden um die Köpfe. Anschließend befreiten wir die Warraulen von ihren Fesseln. Als sie ihrer Freude durch laute Rufe Luft machen wollten, befahlen wir ihnen strengstes Schweigen. Mit vereinten Kräften schoben wir die Itauba ins Wasser und verteilten die befreiten Warraulen als Ruderer auf die beiden Boote. An Rudern mangelte es zum Glück nicht. Katawi wußte von einer in der Nähe gelegenen kleinen Bucht, die nicht einmal der Teufel entdecken würde. Die schmale Einfahrt wurde durch dichtes Astwerk versperrt, und wir hatten Mühe, uns mit den Itauben hindurchzuzwängen. In dieser Bucht waren wir völlig sicher. Wir untersuchten in Ruhe die Ladung des Bootes und fanden unsere Vermutung bestätigt: es waren tatsächlich Nahrungsmittelvorräte, vor allem Mais, Mandiokawur-zeln, getrocknete Fische und ganze Viertel Rindfleisch. Diese üppige Beute machte uns auf einige Zeit unabhängig von dem Stamm, noch wertvoller für mich aber waren zwei Fäßchen mit Pulver und ein Sack mit Blei, die sich gleichfalls in dem Boot befanden. Die Warraulen stammten aus Kaiiwa, dem Sitz des Oberhäuptlings Oronapi, unseres Verbündeten und Freundes. Die Spanier waren vor einigen Tagen bei ihm erschienen, um ihren Tribut zu fordern. Da es ihnen zuwenig schien, was er ihnen gab, fielen sie über einen entlegenen Teil Kaiiwas her und fingen alle Männer ein, deren sie habhaft werden konnten. Sie schleppten sie auf ihre Boote und traten schnell die Rückreise an. Da die Spanier stark bewaffnet waren, hatte Oronapi sichtlich nicht gewagt, sie zu verfolgen. Die Gefangenen wußten nur zu gut, was sie in Angostura erwartet hätte, und dankten uns immer wieder für ihre Befreiung. Wir teilten den Warraulen Nahrungsmittel für einen Tag zu und schärften ihnen ein, sie sollten mit dem gleichen Boot, in dem die Spanier sie hierhergebracht hatten, nach Kaiiwa zurückkehren und in Zukunft besser auf ihre Freiheit achten. „Die Feuerwaffen, die wir den Spaniern abgenommen haben, gebe ich euch nicht mit’, sagte ich zum Abschied, „denn ihr habt noch nicht gelernt, damit umzugehen. Dafür könnt ihr euch die von den beiden Indianern erbeuteten Bogen und Keulen nehmen. Außerdem — Wagura, paß jetzt gut auf! — habe ich euch vier Bogen und Pfeile mitgebracht, damit ihr ein Wild erlegen könnt.” „Und du glaubst, Jan, ich hätte das nicht schon früher erraten?” prahlte mein junger Freund. „Oho, du bist aber ein schlauer Bursche, das hatte ich allerdings nicht erwartet!” rief ich lachend und bedachte ihn mit einem Blick voller vorgetäuschter Anerkennung. Die Warraulen steckten die Köpfe zusammen und flüsterten erregt miteinander. „Was haben sie denn?’ fragte ich Aripaj. Aripaj konnte sie nicht verstehen, doch trat plötzlich einer der Warraulen vor, ein starker junger Mann, soviel ich im Dunkel zu erkennen vermochte, und sprach mit forscher Stimme: „Weißer Jaguar! Ich heiße Manduka, und man schätzt meine Tapferkeit. Du hast uns vor Sklaverei und Schande bewahrt. Die Spanier sind nun hier bei unseren Freunden und werden sie genauso über-fallen, wie sie uns überfallen haben. Wir müssen dir helfen. Ich will nicht nach Kaiiwa zurückkehren. Ich bleibe hier und werde kämpfen. Gib mir eine Waffe und befiehl, was ich tun soll. Ich gehöre zu dir, Weißer Jaguar!” „Ich auch! Ich auch!” meldeten sich mehrere andere. Überrascht und freudig erregt über diese unerwartete Bereitschaft, blickte ich fragend zu Wagura hinüber. „Sollen wir sie hierbehalten?” „Warum nicht? Nimm sie!” „Wie steht es mit Waffen? Sind Bogen und Pfeile vorhanden?” „Die finden sich.” „Gut!” Ich wandte mich wieder Manduka zu. „Ich nehme eure Hilfe gern an. Wieviel seid ihr?” Sie waren elf. Alle brannten darauf, mit den Spaniern zu kämpfen und sich für das erlittene Unrecht zu rächen. „Ich nehme euch auf’, fügte ich hinzu, „aber unter der Bedingung, daß ihr allen meinen Befehlen gehorcht. Aripaj wird sie euch übermitteln.” Nachdem der Rest der Warraulen aufgebrochen war, machten auch wir uns auf den Rückweg. Einer unserer Krieger blieb bei dem jungen Fischer zurück, um das Boot mit den Vorräten zu bewachen. Das Gelingen der nächtlichen Expedition, besonders aber die Tatsache, daß die Gegner nicht wußten, wer sie überwältigt hatte, versetzten uns in fröhliche Stimmung, und als wir um Mitternacht bei unseren Hütten anlangten,    strahlen    unsere Gesichter. Arnak erwartete uns vor den Hütten. „Wir bringen Verbündete mit.” Wagura warf sich in die Brust. „Elf Warraulen, die kämpfen wollen!” „Wirklich?” fragte Arnak und blickte mich an. „Es stimmt’, gab ich zur Antwort. „Sie warten    am    Waldrand. Kümmere dich um sie. Sie sollen in einer abgelegenen Hütte über-nachten. Morgen früh händigst du ihnen Waffen aus, Bogen, Keulen, Speere und einige Messer. Im übrigen sollen sie warten, bis sie weitere Befehle erhalten.” Als Wagura Arnak den Verlauf unseres Abenteuers erzählt hatte, wurde dieser nachdenklich und fragte schließlich besorgt: „Ihr habt die vier Gefesselten im Gebüsch liegenlassen? Sollen sie dort zugrunde gehen?” „Sei unbesorgt”, erwiderte ich. „Wenn die Spanier aus Serima zurückkehren, werden sie die vier bestimmt finden.” Noch jemand hatte unsere Rückkehr abgewartet — Lasana. Sie brachte uns aus ihrer Hütte warmes Essen, aus Früchten der Buritipalme zubereitet, und forderte uns auf, den Hunger zu stillen. Ich drückte das liebe Wesen herzlich an meine Brust. Vier Schüsse auf dem Dorfplatz Den Rest der Nacht verbrachte ich in festem, kräftigen-dem Schlaf. Sobald aber die Sonne aufging, begannen mich Alpträume zu quälen. Sie legten sich immer drückender auf meine Sinne, als wolle die vorausschauende Natur mir nicht gestatten, mich dem trügerischen Gefühl der Sicherheit hinzugeben, und rufe mir eine Warnung zu. Ein Tag schwerer Entscheidungen brach an, die Auseinandersetzung mit dem Gegner stand bevor, mit einem sehr ernst zu nehmenden Gegner, wie die Ereignisse der letzten Nacht gezeigt hatten. Wer könnte an einem solchen Tag ruhig schlafen? Das, was mich schließlich erwachen ließ, war kein Traumbild, sondern eine schreckerfüllte, eindringliche, bekannte Stimme. „Weißer Jaguar! Weißer Jaguar!” Als ich die Augen öffnete, stand Aripaj vor mir. Der Ausdruck seines Gesichts ließ mich sofort ganz munter werden. „Aripaj, du bist es? Was ist geschehen?” „Es steht schlecht, Herr!” Es mußte wirklich schlecht stehen, denn gestern war ich für ihn noch kein Herr gewesen. „Was ist denn geschehen, Freund? Sprich schon, zum Donnerwetter!” „Verrat, Herr! Verrat liegt in der Luft! Ich bin aus Serima geflohen.” „Was?” Ich sprang auf die Beine. „Haben sie herausbekommen, daß du gestern nacht. . .?” „Nein, das nicht. Koneso plant einen großen Verrat.” „Koneso? Der Schlag soll ihn treffen! Was hat er getan?” „Noch nichts, er will es erst tun. Er hat vor, uns an die Spanier auszuliefern.” „Euch? Wen meinst du damit?” „Alle, die mit eurer Sippe Serima verlassen möchten. Du weißt doch, nach dem Tode Kanaholos...” „Ah, dann hat sicher auch der Zauberer seine Hand im Spiel?” „Ich weiß nicht, Herr. Das weiß ich nicht. Schütze uns, Herr. Wir fürchten die spanische Sklaverei.” „Gut, Aripaj, bleibe hier! Ist dir bekannt, wieviel Arawaken Koneso den Spaniern ausliefern will?” „Sehr viele, Weißer Jaguar. Alle, die ihm nicht ergeben sind. Ich habe gehört, daß es fünf mal zehn sein sollen, vielleicht auch mehr.” „Ganze Familien?” „Nein, nur Männer, die Spanier wollen keine Frauen haben.” „Wurden sie schon festgenommen?” „Noch nicht. Viele haben sich mit ihren Angehörigen rechtzeitig in den Urwald gerettet. Einige Familien sind hierhergekommen, zu dir. Meine Frau und die Kinder sind auch dabei. Doch konnten nicht alle fliehen. Für die Zurückgebliebenen gibt es keine Rettung mehr. Die Spanier und die Tschaimas haben sie umstellt, auch viele Anhänger des Häuptlings passen auf sie auf. Obgleich sich Koneso bisher noch nicht öffentlich geäußert hat, wissen wir genau, was er im Schilde führt.” „Wissen die Umzingelten, was sie bei den Spaniern erwartet?” „Natürlich wissen sie es.” „Und sie wehren sich nicht?’ Aripaj zögerte mit der Antwort, sein Gesicht wurde noch fn-sterer. „Die Übermacht ist zu groß”, antwortete er schließlich unsicher. „Stell dir vor, Herr: Die Spanier sind zwölf und besitzen sämtlich Feuerwaffen. Die Tschaimas, die Ruderer, stehen ihnen zur Seite und dann noch die Leute Konesos. .. Wie sollen die Unseren sich da wehren?” „Sind denn alle Leute Konesos Verräter, die die eigenen Brüder der spanischen Sklaverei überliefern wollen?” „Ob alle so sind, das weiß ich nicht, Herr, doch wenn es um die eigene Freiheit geht, ist sich jeder selbst der nächste.” Es waren traurige Worte, die er aussprach, Schmach und Verzagtheit klangen aus ihnen. Ein schrecklicher Abgrund öffnete sich vor mir. Die Arawaken waren sonst weder niederträchtig noch feige, davon vermochte ich mich auf Schritt und Tritt bei den Anhängern unserer Sippe zu überzeugen. Ihr Herz verfluchte den Verrat, man konnte ihnen vertrauen. Wenn die in Serima einer solchen Schändlichkeit fähig waren und ihr eigenes Wohl durch schweres Unrecht an den nächsten Stammesbrüdern erkaufen wollten, dann mußte die Schuld allein bei den verkommenen Stammesältesten liegen. Der erbärmliche und geistesschwache Koneso, der wahnbesessene Verbrecher Karapana, Pirokaj, der Bruder Manauris — solche Menschen mußten einen schlechten Einfluß auf ihre Umgebung ausüben. Und diese Menschen hatten allen Grund, die Anwesenheit unserer Sippe zu fürchten, mit vollem Recht! Ich fühlte, wie der Zorn in mir emporstieg. Während des Gesprächs mit Aripaj hatten Arnak und Wagura die Hütte betreten. Ihr Schweigen bekräftigte die Worte des Alten: Konesos Leute waren bereit zum Verrat. „Im nächsten Jahr kommen die Spanier wieder und nehmen sie selbst mit!” rief ich empört. Aripaj zuckte die Achseln und murmelte: „Dagegen kann man nichts machen, Herr.” „Und wenn unsere Sippe den Spaniern entgegentritt? Was meinst du, Aripaj?” Die Augen des Indianers begannen zu sprühen: „Du wirst siegen, Herr, der Weiße Jaguar ist unüberwindlich!” „Nicht darum geht es”, erklärte ich. „Wissen möchte ich, ob dann die Arawaken, die Koneso für die spanische Sklaverei bestimmt hat, zu den Waffen greifen werden?” „Ja, Herr. Sie werden Widerstand leisten und kämpfen”, versicherte Aripaj eilig. „Und ihr? Wie denkt ihr darüber?’ fragte ich. „Wenn ihnen nicht die Waffen abgenommen werden, bevor wir losschlagen, dann werden sie sicher nicht zurückstehen”, sagte Arnak vorsichtig. „So ist es, wenn man ihnen nicht die Waffen abgenommen hat’, pflichtete ihm Wagura bei. „Ob wir uns darauf verlassen können?” fragte ich. „Gibt es neue Nachrichten von Manauri? Ist der Bote gekommen?” „Er ist da. Sie wollten ihn nicht herauslassen aus Serima. Er mußte sich mit Gewalt losreißen. Was Aripaj sagt, stimmt. Wir müssen schnell handeln, Jan.” „Wie steht es bei den Warraulen?” „Sie haben Waffen erhalten und sitzen in ihrer Hütte. Jetzt warten sie auf deinen Befehl.” „Sie sollen sich weiterhin ruhig verhalten. Und unsere Krieger, sind sie bereit?” „Sie sind bereit.” Wir traten vor die Hütte. Hier standen sie alle. Kühne Gestalten mit zusammengepreßten Lippen. Selbstbewußt und unerschrocken blickten ihre Augen. Sie waren wie zu einem großen Kriegszug gerüstet: nicht nur Büchsen, Pistolen und Messer hatten sie mitgenommen, sondern auch Bogen, Keulen und Speere. Das Häuflein machte einen achtunggebietenden Eindruck, und meine Miene mußte wohl Anerkennung ausdrücken, denn die Krieger begrüßten mich äußerst herzlich. Aber wie wenige waren es! Kaum eine Handvoll! „Sind das alle?” fragte ich Arnak. „Alle”, erwiderte der junge Freund, und da er meine Unruhe bemerkte, fügte er erklärend hinzu: „Das heißt, die Neger bewachen den Schoner.. .” „Ich bedauere nun, daß ich alle weggeschickt habe. Zwei hätten dafür auch genügt.” „Wir könnten sie zurückholen.” „Wen sollen wir hinschicken?” „Arasybo.” „Nein, Arasybo brauche ich, er kann mit Schußwaffen umgehen.” „Vielleicht Aripaj?” „Gut, schicken wir Aripaj. Miguel und noch zwei andere Neger sollen mit ihm zurückkehren.” „Manauri ist in Serima”, setzte Arnak seine Aufzählung fort, „und einer bewacht am Itamaka das Boot mit den Nahrungsmitteln. Zwei sind gleich nach unserer Ankunft in Serima in die Sippe Konesos übergetreten. Ohne dich waren wir also einundzwanzig, neun mußt du abziehen, dann bleiben zwölf übrig. Hier stehen zehn, Wagura ist der elfte, und ich bin der zwölfte. Soll der Bote zu Manauri zurück?” „Nein, bei uns wird er dringender benötigt.” Zwölf waren es also, mit mir dreizehn — ein verdammt winziges Häufchen für die schwere Aufgabe, die uns erwartete! Zwölf herrschsüchtige, kampfgewohnte Spanier standen uns gegenüber, die fünfzig indianische Krieger befehligten. Unser Lager aber war zerschlagen, der ganze Stamm in Auflösung, ein Bruder wollte dem andern an die Kehle springen. Wie sollte unser kleiner Haufen diesem grausamen Feind standhalten? Während mir diese unerfreulichen Gedanken durch den Kopf gingen, fühlte ich Empörung und Wut auf den Zauberer und den Oberhäuptling in mir aufsteigen. In ihrer Dummheit und Niedertracht hatten sie mir den Krieg erklärt, die Pfade mit Schlangen gespickt, mich auf das Krankenlager geworfen. Alle anderen Dinge aber, die über das Schicksal des Stammes, ja über Leben und Tod entscheiden konnten, ließen sie unbeachtet. Irgendwo im Süden lauerten die Akawois, zog ein schweres Ungewitter herauf, hier aber hatte das Auftauchen der Spanier genügt, um die Zerrechlichkeit unserer Verteidigung mit einem Schlag auf zulecken. „Arnak, wieviel Schußwaffen haben wir in Reserve?” Ich riß mich von meinen Gedanken los. „Ungefähr dreißig Büchsen und zwanzig Pistolen.” „ Wenn wir aus dieser Geschichte mit den Spaniern heil herauskommen, was sehr fraglich ist, müssen wir sofort eine größere Abteilung an den Schußwaffen ausbilden.” „Es sind nicht mehr Leute in unserer Sippe.” „Wir haben aber Freunde in Serima. Die nehmen wir in unsere Sippe auf, Koneso soll Grimassen schneiden, soviel er will. Und nun laßt uns sehen, ob die spanische Gefahr wirklich so schrecklich ist!” Bevor wir uns auf den Weg machten, erfrischte ich mich durch ein Bad im Fluß, rasierte mich und ließ mir, während ich frühstückte, die Haare schneiden. Anschließend zog ich die von La-sana auf Hochglanz gebrachte Kapitänsuniform an. Ich schimpfte weder auf das dicke Tuch noch auf die schweren Stiefel; denn um des stattlichen Eindrucks willen nahm ich diese Unannehmlichkeiten in Kauf. Wenn ich den Freunden Glauben schenken wollte, mußte ich tatsächlich prachtvoll aussehen. Sie schnalzten mit der Zunge, und Lasana war so ergriffen, daß sie feuchte Augen bekam. „Du bist ja sehr leicht hingerissen”, tadelte ich sie scherzend. „Schön bist du, Jan!” Lasana lachte. „Noch nie hast du so stolz und prachtvoll ausgesehen. Oh, die armen Mädchen in Serima!” „Wirkt denn mein Anblick so, daß sie zu bedauern sind?” „Wenn sie dich erblicken, werden sie von dir schwärmen.” „Ich wünschte, die Spanier würden es tun.” In der Hütte erteilte ich Arnak, Wagura, Arasybo, Kokuj und Lasana die letzten vertraulichen Anweisungen: „Wir haben nur sehr wenige Krieger, und die Spanier mit ihren Verbündeten bilden eine ansehnliche Macht. Also müssen wir eine List anwenden, damit sie glauben, wir wären zahlreicher. Waffen haben wir genügend. Arasybo, Kokuj und Lasana nehmen sechs, sieben Büchsen, Lasana lauter Kugelflinten, die sind nicht so schwer. Ihr ladet sie nur mit Pulver und stellt euch in der Nähe von Serima am Rande des Urwalds auf, jeder an einer anderen Stelle. Auf ein Zeichen von mir — wir werden es noch festlegen — gibt jeder von euch nacheinander sechs oder sieben Schüsse ab. Die Spanier sollen glauben, wir hätten bewaffnete Abteilungen im Wald. Dann eilt ihr schnell an eine andere Stelle, ladet wieder und wartet auf das nächste Zeichen von mir. Beim zweitenmal ladet ihr die Waffen mit Kugeln.” „Und wir?’ mischte sich Wagura ein. „Arnak und ich, was sollen wir tun?” „Ihr seid mein Gefolge und begleitet mich mit allen Kriegern nach Serima.” Nachdem wir die Einzelheiten besprochen und die Zeichen verabredet hatten, brachen wir auf. Wir gingen schweren Entscheidungen entgegen. Es war schwül. Ein blendendweißer Dunstschleier überzog den Himmel. Die Sonne konnte ihn nicht durchdringen, doch wie aus einem Backofen strömte aus dieser dampfenden Kuppel eine schier unerträgliche Glut auf die Erde nieder. Als wir den kleinen Waldstreifen betraten, der unsere Siedlung von Serima trennte, wandte ich mich um und warf einen Blick auf die Hütten. Ich hatte sie in den letzten Wochen liebgewonnen, sie waren mir ein Stückchen Heimat. Niemals würde ich es dulden, daß die verhaßten Eindringlinge ihre Ruhe und ihr Glück störten. Wir durchschritten das Wäldchen, und ich wies Lasana, die mit uns gegangen war, einen Platz an. Sie sollte mit Arasybo und Kokuj am Rande des Waldes bleiben, nur sollten sich Arasybo um fünfhundert und Kokuj um tausend Schritt weiter aufstellen. Sie bildeten drei Glieder einer Kette, die sich in weitem Halbkreis um Serima spannte. Ich bewunderte die Ruhe und die Kaltblütigkeit Lasanas. Sie betrug sich so beherrscht wie ein erfahrener Krieger. Ihre Augen sagten mir, daß sie mir uneingeschränktes Vertrauen entgegenbrachte. Zum Abschied faßte ich mit der linken Hand in ihr Haar im Hinterkopf und schüttelte sie kräftig. „Ich werde dich nicht enttäuschen, Zauberpalme”, raunte ich und lachte. „Ich weiß es”, erwiderte sie. Ihr Gesicht blieb ernst. Hatte ich zuviel versprochen? In Serima standen die Dinge nicht gut, wir alle sahen es schon von weitem. Die Spanier und ihre indianischen Ruderer liefen mit den Waffen in der Hand zwischen den Hütten umher. Wütende Schreie der Männer, weinende Kinderstimmen und Klagerufe der Frauen drangen an unsere Ohren, dazwischen ließen sich kurze Befehle vernehmen. In dem allgemeinen Durcheinander war der Grund des hastigen Treibens nicht gleich zu erkennen. Erst als wir die Hälfte der Entfernung bis zum Dorfplatz zurückgelegt hatten, konnten wir den Ursprung des Tumultes feststellen. Die Eindringlinge holten hier und dort Männer aus den Hütten und trieben sie auf dem Platz zusammen. Die meisten Arawaken sahen diesem Tun untätig zu, niemand versuchte den Gefangenen zu Hilfe zu eilen. „Der Tanz scheint schon begonnen zu haben”, sagte ich und wandte mich mit bitterem Lächeln meinen Kriegern zu. „Freunde! Wem der Geruch des Pulvers nicht zusagt, der möge sich rechtzeitig in das Wäldchen zurückziehen und Lasana helfen. Hier kann es sehr heiß hergehen.” „Der Weiße Jaguar treibt seinen Scherz mit uns’, knurrte Arnak etwas betroffen. „Wir vertragen Hitze!” rief einer aus der Gruppe in scharfem Ton. „Wir haben die Spanier zweimal verprügelt, warum sollten wir es nicht ein drittes Mal tun?” fügte ein anderer hinzu. „Du brauchst es nur zu befehlen, Jan.” „Ihr benehmt euch so kühn und angriffslustig, als hätte ich mit dem Stock in einen Ameisenhaufen gestochen!” entgegnete ich. Gern ließ ich ihnen Gerechtigkeit widerfahren. „Merkt euch aber eins: Ruhe bewahren, die Augen offenhalten und auf alles achten, was ich tue.” Kaum hatte man uns in Serima entdeckt, als der Lärm schnell abnahm und die Menschen aufhörten umherzulaufen. Alle Blicke wandten sich uns zu. Sogar die Spanier verhielten den Schritt und starrten uns schweigend entgegen. In dem allgemeinen Schweigen, das nun über dem Dorf lag, zitterte die Erregung mehrerer hundert Menschen, die neue, ungewöhnliche Ereignisse er-warteten. Wir schenkten ihrer Verwunderung keine Beachtung und setzten unseren Weg unbeirrt und ruhig fort. Unter einem breiten Toldo standen die Stammesältesten und der Kommandant der Spanier. Wir schritten auf diese Gruppe zu. Wagura und neun Krieger blieben etwa fünfzig Schritt vor dem Toldo stehen. Von hier aus konnten sie sowohl die Ältesten als auch den Dorfplatz und das Flußufer gut im Auge behalten. Arnak und der zwölfte Krieger hielten sich dicht hinter mir, um mich im Fall eines plötzlichen Angriffs von rückwärts zu decken. Als wir uns dem Toldo bis auf Pfeilschußweite genähert hatten, kam mir der Spanier entgegen, verneigte sich anmutig und rief schon von weitem mit freundlicher Stimme: „Verehrter Caballero, erlaubt mir, daß ich mit gebührender Bewunderung einen Gast begrüße, der nicht davor zurückschreckt, in diese öde Wildnis zu kommen, und dessen Haupt vom Glanz eines außergewöhnlichen, fast beunruhigenden Ruhmes umstrahlt ist.” Diese äußerst ehrerbietigen, in so unerwartet herzlichem Ton vorgebrachten Worte überraschten mich derart, daß ich einen Augenblick ganz verblüfft war. Doch faßte ich mich gleich wie-der, schwenkte den Hut genauso artig wie er und antwortete: „Ich verneige mich voller Achtung und versichere, daß es mir außerordentliches Vergnügen bereitet, in dieser verlassenen Wildnis einem so höflichen und gebildeten Mann zu begegnen. Es sei mir gestattet, in Erwiderung der einnehmenden Begrüßungsworte zu bemerken, daß ich nicht aus eigenem Entschluß in diese Gegend gekommen bin und daß mir der beunruhigende Ruhm, den der Herr erwähnte, gegen meinen Willen zugeschrieben wird.” Ich sprach spanisch, und es kam nicht alles so glatt heraus, wie ich es gewünscht hatte, doch verstand mich Don Esteban und erwiderte lebhaft: „Mir sind Eure Erfahrungen und Abenteuer bekannt, und ich weiß, daß es nicht Eure Schuld ist, wenn Eure und die Wege der Spanier sich zweimal unter ungünstigen Bedingungen gekreuzt haben und es dabei zu bedauernswerten Vorfällen gekommen ist. Nicht immer trifft man auf Menschen guten Benehmens. Pedro hat mich über alles genau unterrichtet.” Nach diesem höflichen Austausch von Begrüßungsworten schüttelten wir uns die Hände. Der Spanier mochte höchstens fünfunddreißig Jahre alt sein. Sein ganzes Gesicht strahlte Wohlwollen aus, und sein Mund verharrte in freundlichem Lächeln. Als ich ihn aber näher betrachtete, stellte ich mit Erstaunen fest, daß die kalten Augen in seinem Gesicht an dem wohlwollenden Lächeln des Mundes keinen Anteil hatten. Als ob sie einem anderen Menschen gehörten, ging von diesen Augen eine eigenartige Kälte aus. In ihnen lag ein Ausdruck von Grausamkeit, der sie eine ganz andere Sprache als der Mund sprechen ließ. Ich erschrak geradezu, daß ich im ersten Augenblick so leichtsinnig gewesen war und dem lächelnden Mund und den höflichen Worten hatte Vertrauen schenken wollen. Sollte er ein Wolf im Schafpelz sein? dachte ich bei mir. Dann kann er seine wahre Natur schlecht verbergen, sie leuchtet ihm aus den Augen. „Auf Ehre, ich erwarte Euch wie der Liebhaber seine Geliebte.” Der Spanier lachte und schob seine Hand freundschaftlich unter meinen Arm. „Ich brauche Eure Hilfe, ohne diese komme ich hier nicht weiter. Koneso ist ein unehrlicher Lump und ein abscheulicher Schwindler, ein räudiger Hund. Das werden mir Don Juan doch bestätigen?” „Voll und ganz.” „Ich habe gleich gewußt, daß wir uns einigen werden.” „Ich bin immer für Einigung und Ordnung, Senor. Es fragt sich nur, welche Ordnung Euer Wohlgeboren meinen?” fragte ich mit unschuldiger Miene und zog die Augenbrauen etwas nach oben. „Koneso und seine Leute wollen die Verpflichtung nicht einlösen, die sie eingegangen sind. Sie versuchen alle möglichen Ausflüchte, die Schwindler! Nicht genug damit, daß sie die vor langer Zeit gemachten Schulden nicht bezahlen wollen, sehen sie in ihrer Verbohrtheit nicht einmal die großen Vorteile, die wir diesen Wilden bieten, und machen Schwierigkeiten, die Undankbaren.” „Ist so etwas möglich? Sie stellen sich gegen ihren eigenen Vor-teil?” „So ist es. Der Stamm muß fünfzig junge Männer zur Verfügung stellen, denen wir in Angostura beibringen wollen, wie fruchtbringende Feldarbeit getan wird, und die nach zwei Jahren als tüchtige Bauern zu ihrem Stamm zurückkehren sollen, um den Wohlstand und das Glück aller zu mehren.” Wie schön klangen diese Worte im Munde des Spaniers, und wie ganz anders sah es in Wirklichkeit aus! Die Indianer wußten nur zu gut, was unter fruchtbringender Arbeit auf den spanischen Haziendas zu verstehen war, was sie von den zwei Jahren zu halten hatten, und ließen sich nicht täuschen. „Fünfzig junge Menschen sollen sie Euch geben?’ Ich pfiff leise durch die Zähne. „Wenn sie aus Angostura zurückkehren, werden die Arawaken eine mustergültige Landwirtschaft haben und der glücklichste Stamm in ganz Venezuela sein!” Der Spanier versuchte mit forschendem Blick in meinem Gesicht zu lesen. Da er nichts Beunruhigendes feststellen konnte, lächelte er — aber diesmal nur mit den Augen. Sie lebten zum erstenmal auf, die Pupillen schienen zu lächeln, unheimlich, überheblich, spöttisch und verächtlich. Don Esteban hatte meine Ironie nicht herausgefühlt. „Es stimmt, was der Herr Kavalier gesagt hat , pflichtete er mir etwas von oben herab bei, wie man zuweilen zu einem biederen Einfaltspinsel spricht, „doch ist es nur die halbe Wahrheit. Natürlich werden die Arawaken nach der Rückkehr der fünfzig Männer ein vorbildlicher und glücklicher Stamm sein, doch haben wir noch glücklichere Stämme in Venezuela, die die Segnungen unserer Zivilisation bereits kennengelernt haben.” „Oh, wie glücklich müssen diese Stämme sein!” rief ich aus. Der Spanier geriet etwas aus der Fassung, denn ich hatte viel lauter geschrien, als es diesem Ausruf der Bewunderung zugekommen wäre. Den verdächtigen Sinn meiner Worte und meinen Gesichtsausdruck schrieb er dem Umstand zu, daß ich als Angehöriger eines fremden Volkes mich etwas sonderbar ausdrückte und außerdem die spanische Sprache schlecht beherrschte. Don Esteban machte eine weitausholende Handbewegung und sprach: „Ich weiß, daß Ihr erst vor kurzem hier angekommen seid; ich weiß auch, daß Ihr bei den Arawaken großes Ansehen genießt. Nicht bei allen, doch bei einem gewissen Teil. Außerdem habt Ihr eine Reihe von Menschen hierhergebracht und seid ihr Führer. Koneso hat mir nahegelegt, ich solle Eure Indianer und Neger mit nach Angostura nehmen, doch will ich es nicht tun, weil sie erst jetzt eingetroffen sind und bei mir keine Schulden haben wie Koneso. Koneso aber windet sich und erklärt, er habe keine Leute. Alle, die er mir geben wollte, seien in den Wald geflohen. Ich weiß, daß viele weggelaufen sind, doch sind noch genügend im Dorf. Daher bitte ich Euch, die Mißtrauischen zu überzeugen, daß es in ihrem Interesse liegt, vernünftig zu sein, sich nicht zu widersetzen und mit nach Angostura zu gehen. Wenn mir Koneso nicht volle fünfzig Männer gibt, dann sagt ihm, daß ich ihm die Haut vom Leibe ziehe.” „Und die dort, was sind das für Leute?” fragte ich und deutete auf eine Gruppe Indianer, die unweit von uns auf dem Dorfplatz standen und wie Gefangene von Tschaimas bewacht wurden. „Worauf warten sie?” „Sie kommen mit uns, doch sind es nur dreiundzwanzig, und ich benötige fünfzig.” „Sie haben so betrübte Gesichter.” „Weil sie dumm sind! Sie wissen nicht, was sie dort erwartet.” „Vielleicht wissen sie es allzugut?” Ich hatte diesen Satz langsam, mit scheinbar gleichgültiger Stimme gesprochen, Don Esteban aber warf mir einen scharfen Blick zu. Seine Augen waren wieder wachsam und unaussprechlich kalt. Er trat ganz nahe an mich heran, und ich sah, daß er schwarze, buschige Brauen und lange, feine Wimpern hatte. Die Iris seiner Augen aber war nicht braun, sondern grau wie Blei, und das verlieh seinem Blick jenen harten, eisernen Ausdruck. Auch um seinen Mund lag jetzt ein frostiger Zug, der von ausgesprochener Grausamkeit zeugte. „Herr Kavalier!” sagte er mit Nachdruck und kam mir so nahe, daß ich seinen Atem an meiner Wange verspürte. „Herr Kavalier, ich hoffe, daß der Herr mich gut verstanden und die Bedeutung dessen, was ich vor einer Weile erklärt habe, richtig eingeschätzt hat.” „Ich weiß im Augenblick nicht genau, was es war. Ich bitte, es mir in Erinnerung zu rufen.” „Ich habe versichert, daß ich Eure Leute schonen und sie nicht anrühren werde.” „Ja, richtig. Ich danke für das liebenswürdige Entgegenkommen, Don Esteban.” „Ich habe dies in der Überzeugung getan, daß Ihr in Eurem eigenen Interesse helfen werdet, die fünfzig Mann aufzutreiben.” „Und wenn auch ich, genauso wie die Arawaken, mein Interesse nicht wahrzunehmen verstünde, wäre das eine schwere Sünde?” „Jetzt verstehe ich Euch nicht. Sprecht deutlicher!” „Wenn ich Euch nicht helfen wollte?” Don Esteban kniff die Augen zusammen, als ziele er mit einer unsichtbaren Büchse auf mich. „Glaubt nicht, mein Herr, daß ich Eure Scherze vorhin nicht erkannt habe. Jetzt aber spottet Ihr offensichtlich. Doch Spott beiseite! Wenn Ihr das nicht tut, worum ich Euch ersuche, dann könnte es geschehen, daß ich mich doch noch an das erinnere, was mir Koneso bezüglich Eurer Leute geraten hat.” „Jetzt bekomme ich also bereits eine Drohung zu hören?” „Wenn Ihr es so auffassen wollt, mein Herr?” Scheinbar zutiefst erschreckt, bewegte ich den Kopf zuerst nach links, dann nach rechts und brach schließlich in schallendes Gelächter aus. „Möge der Herr mir mein schlechtes Benehmen verzeihen, aber mir schoß eben ein belustigender Gedanke durch den Kopf: Es bestünde doch die Möglichkeit, daß auch meine Leute in den Urwald flüchten, genau wie die andern. Was dann?” „Habe ich nicht Euch als Geisel hier?” „Und wenn auch ich weglaufe?” „Dann kann ich Euch nur sagen, daß ich über sehr flinke Leute und ausgezeichnete Schützen verfüge.” „Gestattet Ihr mir, Senor, Eure Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß auch meine Leute Schußwaffen besitzen?” Don Esteban zuckte geringschätzig mit den Achseln und erwiderte: „Pah, die Indianer sind schIechte Schützen.” „Vielleicht doch nicht alle!” Wir standen immer noch an der gleichen Stelle, an der wir uns die Hände geschüttelt hatten, in der Nähe des großen Toldos. Unter dem Dach saß Koneso und erwartete uns. Neben ihm befanden sich Manauri als Dolmetscher sowie die Häuptlinge Pirokaj und Fujudi. Hinter diesen standen mehrere bewaffnete Indianer, unter denen ich auch Pedro erblickte. Nur Karapana konnte ich nirgends entdecken. „Bevor ich Euch eine Antwort gebe”, wandte ich mich an den Spanier und setzte wieder eine ernste Miene auf, „und endgültig ausspreche, welchen Standpunkt ich zu Euren Wünschen einnehme, gestattet mir, daß ich mich mit den Leuten unterhalte, die nach Angostura gehen werden.” Don Esteban zögerte einen Augenblick, willigte aber schnell ein, als er mein Lächeln sah. Er wollte nicht als Feigling gelten. Ich rief Manauri zu mir und forderte ihn auf, schnell zu berich-en, was sich in der letzten Stunde hier ereignet hatte. Die Worte [es Häuptlings bestätigten all das, was ich bereits von Aripaj und Don Esteban erfahren hatte. Als er fertig war, vergewisserte ich mich noch einmal und fragte: „Die dreiundzwanzig, die dort bewacht werden, sind das wirklich alles Leute, die sich zu uns bekannt haben, die Koneso lossein will, da sie ihm unbequem sind?’ „Es sind nur solche.” „Von seinen Leuten hat Koneso niemand abgegeben?” „Keinen einzigen.” „So ein Schuft! Und die sechs bewaffneten Halunken hinter Pirokaj und Fujudi — wer sind die?” „Das ist die Leibwache des Oberhäuptlings. Es sind drei Söhne Konesos, einer meiner Neffen, ein Sohn Pirokajs, und zwei, Brüder Fujudis. Alles nächste Angehörige.” „Man muß sie im Auge behalten, daß sie nicht hinterrücks einen Pfeil abschießen. Geh jetzt zu Wagura, hole dir deine Büchse und die übrigen Waffen und komm sofort zurück! Die Büchse ist mit gehacktem Blei geladen. Wir gehen zu den Gefangenen.” „Wird Don Esteban es erlauben?” „Er hat es schon erlaubt.” „Er ist schön dumm!” „Er ist nicht dumm: Er vertraut auf sich und sein Ansehen.” „Wird es zum Kampf kommen, Jan?” „Das weiß ich noch nicht. Vielleicht läßt er sich vermeiden.” Nachdem Manauri zurückgekehrt war, gingen wir auf die Gruppe der dreiundzwanzig Unglücklichen zu. Sie standen in der Mitte des Platzes. Zusammengedrängt, ohne Waffen und von allen Seiten durch Tschaimas bewacht, boten sie einen beklagenswerten Anblick. Die Tschaimas waren kräftige, kriegerische Gestalten, sie gehörten zu den Kariben, die in den nördlich des Orinoko gelegenen Llanos lebten. Statt der üblichen Talismane trug ein jeder ein Kreuz aus Messing auf der Brust; offensichtlich hatten sie das Christentum angenommen. Als die Gefangenen merkten, daß wir auf sie zugingen, erwachten sie aus ihrer Erstarrung. Sie hoben die Köpfe, gerieten in Bewegung, und in manchem Augenpaar glimmte ein Hoffnungsschimmer auf. „Geht ihr gern mit den Spaniern?’ fragte ich sie. Diese Frage klang fast wie Spott und Hohn. Alle verneinten voller Entsetzen. „Warum seid ihr dann nicht geflohen, warum habt ihr euch nicht zur Wehr gesetzt?” Einer der älteren Gefangenen, er mochte dreißig Jahre zählen, antwortete: „Es war nicht möglich, Herr, so plötzlich sind sie über uns hergefallen. Einigen ist es gelungen, uns nicht.” „Ich möchte euch retten! Wenn es zu einem Kampf mit den Spaniern kommt, werdet ihr uns helfen?” Jetzt wurden sie lebendig, die trüben Mienen hellten sich auf. Einige der Wächter wurden unruhig, traten näher heran und hoben in unzweideutiger Weise die Waffen. Arnak sagte mir flüsternd, daß ein Sohn Konesos auf uns zukomme. „Der wurde als Spitzel geschickt!” Ich überlegte einen Augenblick, dann wandte ich mich an Arnak: „Sie brauchen nicht zu wissen, worüber wir hier sprechen. Geh ihm entgegen und schicke ihn auf meinen Befehl zurück.” „Und wenn er nicht gehorcht?” „Das ist deine Sache, er hat zu gehorchen. Zum Blutvergießen darf es noch nicht kommen.” „Auch ein Spanier nähert sich uns. Don Esteban hat ihn geschickt.” „Der versteht nicht Arawakisch.” Ich wandte mich wieder den Gefangenen zu. „Natürlich wollen wir helfen, wenn es zum Kampf kommt”, sagte mein Gesprächspartner. „Wir wissen nur nicht, wie.” „Ihr müßt plötzlich über eure Wächter herfallen.” „Mit leeren Händen?” „Es wird eine große Verwirrung geben. Waguras Krieger wer-den euch einige Keulen und Spieße zustecken. Hauptsächlich aber müßt ihr euch auf euch selbst und auf die Überraschung verlassen. Selbstverständlich helfen wir euch auch mit unseren Schußwaffen.” „Gut, Herr, wir werden es tun!” „Und nun wählt zwei oder drei aus eurer Mitte, die etwas später zu einer Beratung zum Toldo gerufen werden.” „Jawohl, Herr.” „Noch eines: Wenn wir euch aus den Händen der Spanier befreit haben, was werdet ihr dann unternehmen? Bleibt ihr in Serima?” „Niemals! Auf keinen Fall!” ertönten von überallher zornige Stimmen. „Koneso hat uns verkauft! Wir wollen nicht bei ihm bleiben! Er hat uns verraten!” „Wollt ihr mit uns kommen?” „Wohin du befiehlst, Weißer Jaguar.” Arnak ließ den Sohn Konesos nicht zu uns heran, er stritt sich mit ihm auf halbem Weg. Das war nun nicht mehr notwendig, denn wir kehrten zum Tollt zurück. Bevor wir jedoch dort anlangten, entspann sich ein neuer Zwischenfall. Einige spanische Söldner waren auf Waguras Gruppe zugeschlendert und hatten begonnen, sich über unsere Krieger lustig zu machen. Obgleich die Arawaken unserer Sippe aus der Zeit Spanisch verstanden, die sie in der Sklaverei verbracht hatten, reagierten sie nicht auf die Anspielungen und bewahrten vorbildliche Ruhe. Die Söldner hatten sich die Büchsen, die Waguras Leute in den Händen hielten, zum Ziel ihres Spottes erwählt und äußerten lachend ihre Zweifel, ob diese Knallrohre auch wirklich geladen seien. Der sich am frechsten gebärdende Spanier trat an Wagura heran und versuchte ihm die Büchse zu entreißen, um sich zu überzeugen, ob Pulver auf der Pfanne sei. Er hatte die Waffe mit beiden Händen am Lauf ergriffen, und da sie Wagura nicht losließ, zerrten sie beide hin und her. Ich befürchtete, daß aus diesem Geplänkel eine vorzeitige Schießerei entstehen könne, und rief daher Wagura von weitem zu, er solle die Büchse loslassen. Der Bursche gehorchte sofort. Gleichzeitig mit mir traf der neugierige Don Esteban bei den Streitenden ein. Der händelsüchtige Söldner spannte lachend den Hahn und tat übertrieben verwundert, als er das Pulver auf der Pfanne erblickte. Mit spöttischem Eifer zeigte er die Waffe den übrigen Spaniern, auch Don Esteban, damit sie das Pulver bewundern konnten. „Que miraculo!” rief er aus. „Escopeta — die Flinte ist tatsächlich geladen!” Der närrische Tropf bemerkte nicht einmal, daß Wagura mit Zornesfalten auf der Stirn langsam den Bogen in die linke Hand nahm, den Pfeil auflegte, die Sehne spannte und die Waffe gegen den ausgelassenen Raufbold hielt. Mit finsterem Gesicht ging ich schnell auf den jungen Indianer zu und herrschte ihn an, er solle Ruhe geben. Dann forderte ich den Söldner auf, Wagura die Büchse auszuhändigen. Der Stänkerer zeigte keine große Lust da-zu, doch als ihm Don Esteban den Befehl erteilte, wurde auch er vernünftig. „Ihr scheint keine allzugroße Achtung vor unseren Schützen zu haben”, sagte ich belustigt zu Don Esteban. „In der Tat nicht.” Der Spanier lachte, seine Augen aber blieben unbeweglich. „Soll ich Euch einen Beweis für die Schießkunst meiner Indianer liefern?” „Es fragt sich nur, wie. Übrigens wäre es schade um die Zeit.” Don Esteban winkte ab. Ich sah mich auf dem Platz um und entdeckte ungefähr fünfzig Schritt von uns einige Flaschenkürbisse, die an einer waagerecht gespannten Liane hingen.' Sie hatten die Größe menschlicher Köpfe und waren anscheinend zum Trocknen aufgehängt worden. „Was haltet Ihr von dem Ziel da?” Ich deutete mit der Hand auf die Früchte. „Das ist zu klein”, erwiderte der Spanier. „Die Kürbisse treffen sie nicht.” „Es käme auf einen Versuch an.” „Also gut, der beste Schütze soll es versuchen. Wir werden sehen.” Don Esteban versuchte nicht, seine Heiterkeit zu verbergen. „Nein, nicht der beste Schütze”, antwortete ich, „sondern irgendeiner. Am besten nicht einer, sondern drei. Wollt Ihr die Güte haben, drei meiner Indianer zu bestimmen?” Don Esteban suchte drei Indianer aus und war fest überzeugt, daß nicht nur diese, sondern auch ich einer fürchterlichen Blamage entgegengingen. Zwei von ihnen waren einwandfreie Schützen, das wußte ich. Beim dritten allerdings hegte ich Zweifel. „Nimm den größten Kürbis aufs Korn”, raunte ich diesem zu, doch er schien den Rat als beleidigend zu empfinden und blickte mich vorwurfsvoll an. Ich trat mit Don Esteban etwas zur Seite, während Wagura seinen Leuten die letzten Anweisungen gab. Er tat es sehr umsichtig. Trotzdem hänselten ihn die spanischen Söldner wegen seiner Jugend. Sie riefen ihm zu, ein Säugling solle lieber Milch trinken und nicht mit ungeschickten Händchen nach dem Pulver greifen. „Dürfen wir schießen?” fragte mich Wagura. „Wollen Euer Wohlgeboren den Befehl erteilen?” Mit ausgesuchter Höflichkeit verneigte ich mich vor Don Esteban. „Also, drei Löcher in die Luft!” rief der Spanier und klatschte in die Hände. Die drei Schützen standen nebeneinander. Auf ein Zeichen Waguras hob der erste die Büchse, legte an, zielte kurz und schoß. Der zweite und der dritte taten das gleiche. Der erste Kürbis wurde in lauter kleine Stücke zerrissen, vom zweiten blieb nur noch ein Rest hängen, und der dritte löste sich genauso auf wie der erste. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Kaum hatten die Indianer die Schüsse abgegeben, als sie die Büchsen sofort wieder luden. Sie blieben völlig ruhig und achteten nicht auf das Geschrei, das die Spanier von sich gaben, als sie sich von ihrer Verblüffung erholt hatten. Auf den bärtigen Gesichtern der Söldner malte sich Verwunderung, Ungläubigkeit, ja sogar Schreck. Unsere Gruppe stand wieder so ruhig da wie zuvor und tat, als ginge sie der Lärm ringsum überhaupt nichts an. Lediglich Waguras Augen blitzten fröhlich, und er sandte ein verächtliches Lächeln zu den Spaniern hinüber. Don Esteban war äußerst betroffen und schwieg. Er wich unseren Blicken aus, als wolle er vor mir verbergen, was sich in seinem Innern abspielte. „Unsere bisherigen Siege über die Spanier verdanken wir dem Umstand”, erklärte ich ihm höflich, aber mit Nachdruck, „daß die Feinde unsere Leute zu leicht einschätzten.” Ein kurzer, scharfer Blick Don Estebans belehrte mich, daß er meine Worte richtig verstanden hatte. Er unterbrach sein Schweigen und deutete auf die Früchte. „Vielleicht war es ein Zufall?” Ein Hund, weder groß noch klein, den die Schüsse erschreckt hatten, stürzte aus einer Hütte heraus und lief über den Dorfplatz. Als Wagura ihn erblickte, sprang er vor, legte an und schoß. Es ging so schnell, daß ich den Heißsporn nicht zurückhalten konnte. Obwohl der Hund an die vierzig Schritt von uns entfernt war und in schnellem Lauf dahinjagte, fiel er um wie vom Blitz getroffen und blieb nach einigen zuckenden Bewegungen tot liegen. Ein spanischer Söldner, der in der Nähe stand, lief zu ihm hin und stieß ihn mit dem Fuß an. „Genau ins Herz!” rief er aus und starrte maßlos erstaunt und mit schreckerfüllten Augen zu uns herüber. Don Esteban strich sich hastig seinen Vollbart. Seine Wangen schienen plötzlich eingefallen, und düstere Schatten lagen auf seinem Gesicht. Es kostete ihn Mühe, seinen Mund zu einem Lächeln zu zwingen. „Wieviel solcher Leute habt Ihr denn?” Er betrachtete mich mit kalten Augen. „Leider nicht viele”, antwortete ich mit einem Seufzer des Bedauerns. „Außer diesen, die Ihr hier seht, sind es noch einige Abteilungen, die sich im Augenblick unweit von hier im Urwald befinden.” „Abteilungen! Im Urwald? Was machen sie dort?” „Sie haben eine Übung und erwarten meine Befehle.” Wieder warf er mir einen seltsamen Blick zu. „Don Juan, Ihr seid der leibhaftige Satan” AIs wir langsam dem Toldo zugingen, unter dem Koneso, umgeben von seiner Ehrengarde, immer noch auf uns wartete, wandte ich mich zu Arnak t und gab ihm zu verstehen, er möge sofort einen Boten zu Lasana, Arasybo und Kokuj schicken. Sie sollten unverzüglich mit dem beginnen, was wir verabredet hatten. Don Esteban und ich nahmen auf zwei zu beiden Seiten des Oberhäuptling bereitgestellten Schemeln Platz. „Und wo soll Manauri sitzen?’ herrschte ich Koneso an. „Laß einen Schemel bringen!” Der Oberhäuptling widersprach nicht und schickte einen Indianer in seine Hütte. Schweigend und in uns gekehrt saßen wir drei unter dem Toldo und warteten auf den Schemel. Jeder hatte sein bewaffnetes Gefolge bei sich. Hinter Don Esteban hatten der Häuptling der Tschaimas und jener Sargento Aufstellung genommen, der gestern unseren Schoner vergeblich gesucht hatte. Unsere Gesichter waren beherrscht, die Augen ruhig, doch beobachteten wir einander aufmerksam und fühlten die drückende Last, die auf uns ruhte. Die volle, sinnliche Unterlippe Konesos hing schlaff herunter — ein trauriges Bild völliger Stumpfheit. Der Oberhäuptling hatte ein schlechtes Gewissen und wußte nicht, was noch auf ihn herabstürzen würde. Don Esteban dagegen machte einen äußerst wachsamen, aber etwas unruhigen Eindruck. Er sah den Verhandlungen mit kaum verhüllter Erregung entgegen. In diesem Zustand sind Menschen seines Schlages besonders gefährlich, da sie leicht die Beherrschung verlieren und zu Gewalttätigkeiten neigen. Ich selbst war mir im klaren, daß die so weit fortgeschrittenen Ereignisse nur noch zwei Möglichkeiten offenließen: entweder durch Standhaftigkeit den Sieg davonzutragen oder einen Kampf auf Leben und Tod aufzunehmen. Als der Schemel gebracht worden war und Manauri sich gesetzt hatte, sprach ich so laut, daß es alle hören konnten: „Manauri, du übersetzt Don Esteban jedes Wort, das hier arawakisch gesprochen wird, und ihr”, ich wandte mich Koneso und seinen Leuten zu, „beantwortet meine Fragen klar und ehrlich, wenn ihr das Unglück von eurem Stamm abwenden wollt.” Sie hüllten sich in düsteres Schweigen. Mit Einwilligung Don Estebans ließ ich drei Vertreter der Gefangenen herbeirufen, auch sie sollten an der Beratung teilnehmen können. Sie mieden die Leute Konesos und stellten sich neben Arnak auf. „Noch sind wir nicht alle”, rief ich aus. „Koneso, rufe bitte die Bewohner der nächstgelegenen Hütten zusammen, sie sollen zum Toldo kommen.” „Ist das notwendig?’ Der Oberhäuptling blickte mich mißtrauisch an. „Dort sind nur Weiber und Kinder.” „Dann mögen die Weiber und Kinder herkommen. Ich verbürge mich für ihre volle Sicherheit!” Wenn auch widerwillig, gab Koneso doch die entsprechende Anweisung, und kurz darauf erschienen die ersten Einwohner mit verängstigten Gesichtern. Neben den Frauen tauchten auch einige Männer auf, die sich ein Herz gefaßt hatten. Als eine ansehnliche Menge beisammen war, gebot ich Ruhe, ließ meinem Zorn freien Lauf und ging zum Angriff über. „Wo ist Karapana, der Mörder des jungen Kanaholo?” richtete ich die Frage an alle. „Warum ist er nicht hier?” Alle schwiegen. „Antwortet!” drängte ich. „Er ist doch der Zauberer.” „Er ist in den Wald gegangen”, murmelte endlich Fujudi, „um einige Zeremonien zu verrichten.” „Was?” rief ich empört. „Jetzt, wo sich in Serima das Schicksal des Stammes entscheidet, hat er Zeremonien zu verrichten? So liegen ihm die Geschicke des Stammes am Herzen? Einen Feigling habt ihr, keinen Zauberer!” Schweigend und voller Bestürzung vernahmen die Menschen diese Worte. Karapana war immer noch eine schreckliche Macht. Koneso neben mir schnaufte, er kochte vor Wut und warf mir haßerfüllte Blicke zu. „Ich will euch helfen”, sagte ich zu den Ältesten der Arawaken, „und ich werde euch helfen, aber ich verlange, daß ihr mir die volle Wahrheit sagt. Die dreiundzwanzig Männer, die mit den Spaniern gehen sollen, woher habt ihr die genommen? Aus welchen Sippen?” „Aus allen”, murmelte Koneso, „mit Ausnahme deiner Sippe.” „Ach so. Und warum sind es nicht fünfzig, wie Don Esteban es gefordert hat?” „Die übrigen sind in den Wald geflohen.” „Wieso die übrigen? Viele junge Männer sind in den Hütten Se-rimas geblieben und stecken wahrscheinlich jetzt noch dort!” „Die waren nicht für die Spanier bestimmt, nur die hier.” „Sind die hier schlechter?” Konesos Augen blitzten in zornigem Trotz, als er antwortete: „So ist es, sie sind schlechter.” „Sprecht offen! Ihr wollt sie los sein, deshalb habt ihr sie den Spaniern zugesprochen? Ihr wollt sie aus ihren Sippen entfernen?” „Ja, das wollen wir”, mischte sich hochmütig Pirokaj ein, „aber nur auf zwei Jahre!” „Und die in den Wald geflüchtet sind, sind die auch aus den Sippen ausgestoßen?” „Natürlich, genauso. Wir haben sie für die Spanier bestimmt.” ;,Das ist ausgezeichnet!” rief ich mit schallender Stimme. „Wenn ihr euch von der Herrschaft über die dreiundzwanzig und über die in den Wald Geflüchteten lossagt, so nehme ich sie für diese zwei Jahre in unsere Sippe auf. Seid ihr damit einverstanden?” Diese Frage richtete ich an die drei Gefangenen. „Wir sind einverstanden”, antwortete der älteste voller Freude. „Gern kommen wir zu dir. Wir danken dir, Weißer Jaguar!” Manauri sollte meine Worte für Don Esteban ins Spanische übersetzen, ich bemerkte aber, daß es ihn sehr viel Schweiß kostete; die letzten Sätze hatte er überhaupt nicht mehr übersetzt. „Sobald ihr frei seid”, sprach ich weiter zu den Gefangenen, „verständigt ihr alle im Urwald, daß sie mit ihren Familien und der gesamten Habe unverzüglich von Serima zu uns übersiedeln.” „Das verbiete ich”, stieß Koneso hervor, und Pirokaj und Fujudi riefen gleichzeitig: „Das ist unmöglich!” „Ihr seid wohl verrückt geworden? Eben noch habt ihr erklärt, daß ihr diese Leute nicht haben wollt, daß sie aus ihren Sippen verschwinden sollen. Seid ihr schon so weit, daß ihr wie unreife Burschen die Worte, die ihr vor kurzem geäußert habt, abzuleugnen versucht?” „Ich verbiete es!” keuchte Koneso wutschnaubend. Mühsam unterdrückte ich die aufsteigende Wut, sah dem Oberhäuptling voll ins Gesicht und sagte laut, jedes Wort langsam und deutlich aussprechend: „Schweig, du Schuft! Wenn du schon unfähig bist, die eigenen Leute vor der Sklaverei zu bewahren, dann stifte wenigstens keinen Unfrieden! Weißt du, wie Don Esteban dich genannt hat? Einen räudigen Hund, einen betrügerischen Lumpen und ekelhaften Schwindler! Und sogar jeder ehrliche Mensch hat nun das Recht, dich so zu nennen! Was bist du für ein Oberhäuptling, wenn du freiwillig, ohne Kampf, deine Leute schwerer Sklaverei überlieferst, sie dem sicheren Untergang preisgibst? Was bist du für ein Oberhäuptling, wenn du so ungerecht bist, daß du einige Menschen böswillig ins Verderben schickst und andere verschonst?” „Das ist nicht wahr!” schnaubte Koneso. „Warum sind die Leute, die du ausgesucht hast, schlechter als die übrigen? Vielleicht nur deshalb, weil sie nicht länger unter der Willkür des Mörders und Zauberers leben wollten? Das ist ihre ganze Schuld? Koneso hatte diesen schweren Vorwürfen nichts entgegenzusetzen und saß da wie ein auf frischer Tat ertappter Verbrecher. „Warum”, fuhr ich fort, „schickst du deine drei Söhne, die hinter dir stehen, nicht in die Sklaverei, warum läßt du den Sohn Piro-kajs ungeschoren oder die beiden Brüder Fujudis — sind sie besser? Sie sind in nichts besser als die dort, nur du, niederträchtiger Häuptling, bist ein räudiger Hund. . .” In diesem Augenblick wurden meine Worte vom Knall eines Schusses unterbrochen. Er kam aus dem kleinen Wald zwischen Serima und unserer Siedlung, und sein Echo rollte über die ganze Ortschaft hin. Alle hoben ruckartig die Köpfe und spitzten die Ohren. Kaum waren einige Sekunden vergangen, da fiel ein zweiter Schuß, gleich darauf folgte ein dritter, dann ein vierter und noch einer und wieder einer. Es fiel schwer, all die Schüsse zu zählen. „Was ist das?” rief Don Esteban verblüfft, der bei den ersten Schüssen aufgesprungen war. „Das hat nichts zu bedeuten. Es ist eine Übung einer meiner Abteilungen”, erklärte ich ihm spanisch. „Achtet nicht auf die Schüsse, es sind unsere Leute.” Der Spanier ließ seine Augen suchend über den Platz schweifen. Als er sah, daß die Gruppe Waguras immer noch auf dem alten Platz stand, war er sichtlich verwundert. „Aber die Abteilung ist doch noch hier.” „Diese ja”, erwiderte ich. „Dort im Wald ist eine andere Abteilung.” Dann nahm ich das unterbrochene Gespräch mit den Stammesältesten wieder auf: „Der Oberhäuptling hat versagt und will seine Leute nicht verteidigen. Deshalb nehme ich sie unter meinen Schutz und versichere euch, daß die dreiundzwanzig nicht mit den Spaniern gehen werden. Außerdem verspreche ich euch, daß wir auch keinen andern ohne Kampf herausgeben. Ich habe den unbeugsamen Willen und verfüge über genügend Kraft, den Kampf siegreich zu Ende zu führen.” Wiederum lenkten Schüsse unsere Aufmerksamkeit auf sich. Sie fielen am Rande des Urwalds, aber an einer anderen Stelle als zuvor. Sichtlich erschreckt sprang Don Esteban zum zweitenmal auf. „Es ist nichts Besonderes , beruhigte ich ihn etwas spöttisch. „Das sind alles meine Leute. Eurem Leben droht keine Gefahr, solange ich hier bin!” „Aber die Schüsse kommen aus einer ganz anderen Richtung als vorhin”, erwiderte Don Esteban mit weitgeöffneten Augen. „Das kann schon sein. Dann schießt eine andere Abteilung. Es befinden sich mehrere im Urwald. Sie bewachen unsere Siedlung auf allen Seiten, damit den Gästen nichts Böses zustoßen kann.” „Ich bitte, mir sofort mitzuteilen”, schrie mich der Spanier an, „was Ihr den Indianern eigentlich gesagt habt! Ich will es wissen!” Schon wieder krachten Schüsse, die sich mit dem von der grünen Wand der Wildnis zurückgeworfenen Echo zu einem ununterbrochenen Dröhnen vereinigten. Mächtig und drohend rollte es über die Ebene und kündete von einer geheimnisvollen Kraft. Don Esteban, der sich bisher an der Spitze seiner spanischen Totschläger und der Tschaimas als Herr der Situation betrachtet hatte, begann langsam zu begreifen, daß er den Boden unter den Füßen verlor. „Dreizehn Schüsse”, meldete der bleich gewordene Sargento, als das Schießen aufhörte. „Dreizehn Büchsen.” „Nein!” der Häuptling der Tschaimas schüttelte den Kopf. „Es waren neun.” Beide hatten sich geirrt: Arasybo hatte nur sieben Schußwaffen bei sich. In diesem Augenblick begann das Schießen von neuem, und wieder kam es aus einer anderen Richtung. Es war Kokuj, der sich auf diese Weise bemerkbar machte. „Da sollen doch hundert Teufel dreinfahren”, knurrte der Sar-gento und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Wie ein Verrückter stürzte er auf den Dorfplatz und versammelte hastig alle seine Leute, die Spanier wie auch die Indianer, um sich. Wir glaubten, er sei übergeschnappt. „Was hat denn der Kerl?” fragte ich Don Esteban, zuckte die Achseln und fügte warnend hinzu: „Ohne Bewachung werden ihm die Gefangenen auseinanderlaufen” Besorgt sah ich auf Don Esteban. Man merkte, daß er einem Tobsuchtsanfall nahe war. Seine Augen blickten abwesend und waren verschleiert. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und rannen in kleinen Bächen über das Gesicht. „Was soll das alles bedeuten?” schrie er erneut mit wuterstickter Stimme. „Ich werde es Euer Wohlgeboren sofort erklären”, antwortete ich und wandte mich Manauri zu: „Was ich jetzt Don Esteban sagen werde, teilst du allen Anwesenden in arawakischer Sprache mit.” Dann sprach ich mit rollender Stimme zu dem Spanier: „Ihr fragt, mein Herr, was die Schüsse zu bedeuten haben? Sie bringen zum Ausdruck, daß ich die Ehre habe, Euch, unsere werten Gäste, höflichst zu bitten, sich möglichst ruhig zu verhalten und keine unnötigen Aufregungen hervorzurufen. Außerdem verkünden sie, daß ich weder heute noch zu einem späteren Zeitpunkt auch nur einen Bewohner dieses Ufers für die Arbeit in Angostura oder sonstwo herausgeben werde.” „Was? Ihr wollt... Was redet Ihr da?’ Seine Adern am Hals und an den Schläfen schwollen an, die Augen traten aus ihren Höhlen. Seine Hand fuhr an den Gürtel, in dem die Pistole steckte. „Du lieber Himmel!” rief ich freundlich. „Seid bitte nicht ungehalten! Wollt Ihr die Güte haben und einen Blick nach hinten werfen?” Er drehte sich um — und gewahrte, daß Arnak die Büchse auf ihn gerichtet hielt. Das half. „Ich habe in diesem ehrbaren Kreise schon einmal davon gesprochen”, fuhr ich fort, „daß wir zweimal gezwungen waren, Eure Landsleute zu vernichten, weil sie unsere Kräfte schlecht eingeschätzt haben. Ob es noch ein drittes Mal sein muß?” Meine überlegene Ruhe und mein Selbstvertrauen beschwichtigten sein Ungestüm. Endlich begann es ihm wie Schuppen von den Augen zu fallen. Er sah mich an, als wolle er mich mit seinem Blick vergiften. „Euer Sargento ist ein Hitzkopf und hat nicht viel Grütze im Schädel”, bemerkte ich mit mahnender Stimme. „Wollt Ihr ihm nicht raten, er möge uns nicht dazu zwingen, seinem Leben, entgegen unserer Absicht, ein plötzliches Ende zu bereiten?” Zähneknirschend kam Don Esteban der Aufforderung nach und erteilte seinen Söldnern den entsprechenden Befehl. Nachdem die erste Erregung abgeklungen war, gewann der Spanier rasch seine Geistesgegenwart zurück und blickte unter zusammengezogenen Brauen aufmerksam um sich. „Was wollt Ihr eigentlich erreichen?” fragte er plötzlich geradeheraus. „Frieden und den Abschluß eines Bündnisses.” Sein Blick bohrte sich in mich wie ein Dolch. „Wollt Ihr spotten?” „Nichts liegt mir ferner als das!” „Beabsichtigt Ihr etwa, Gewalt anzuwenden?” „Wenn es sein muß, bitte.” „Seid Ihr nicht der Meinung, daß auch wir zu schießen verstehen?” „Wer dürfte daran zweifeln, Don Esteban?” Durch eine höfliche Verneigung drückte ich meine Anerkennung aus. „Aber gegenüber dieser erdrückenden Übermacht wäre jeder Widerstand sinnlos. Sollte es zu einer Schießerei kommen, so wären wir zu unserem tiefsten Bedauern genötigt, euch allen das Lebenslicht auszublasen, bevor ihr ein Vaterunser herbeten könntet. Und das wäre schade!” Eine Weile herrschte tiefes Schweigen. Don Esteban hatte begriffen, daß ich nicht nur prahlen wollte. Er bezwang die Wut in seinem Innern, die er an niemandem auslassen konnte. Als er mir wieder in die Augen sah, lag Überraschung in seinem Blick, als ob er mich zum erstenmal richtig wahrnehme und etwas Unheimliches entdeckt habe, das versteckte Bewunderung in ihm hervorrief. „Don Juan, Ihr seid der leibhaftige Satan”, murmelte er schließlich zwischen den Zähnen. „Doch glaubt nicht, daß Ihr einen Spanier ungestraft töten könnt. Vergeßt nicht, in wessen Namen wir hier sind.” „Na und? Ist der Corregidor in Angostura der Herrgott? Überschätzt Ihr schon wieder Eure Kräfte?” „Mensch”, schrie der Spanier entrüstet, „Ihr befindet Euch in Venezuela, einem Lande Seiner Majestät, König Philips des Fünften!” „Ich befinde mich am Rande einer unendlichen Wildnis, in der noch niemals ein weißer Mensch seine Herrschaft ausgeübt hat!” schrie ich noch lauter als er, doch hatte ich mich gleich wieder in der Gewalt und fuhr in ruhigerem Tone fort: „Ihr sagt, dies hier sei das Herrschaftsgebiet des spanischen Königs? Weshalb benehmt Ihr Euch dann wie in einem fremden Land und plündert wie bei Feinden? Ihr scheint zu vergessen, daß Ihr in Venezuela seid!” Ich stand auf, trat vor den Spanier hin, sah ihm durchdringend in die Augen und sagte mit Nachdruck: „Don Esteban! Genug der leeren Worte und des sinnlosen Streits. Wir sollten uns unterhalten wie gente de razon, wie vernünftige Menschen, zu denen wir uns doch zählen. Nicht von ungefähr habe ich vorhin von Frieden und Bündnis gesprochen. Mehr Vernunft, Senor, weniger Eigendünkel! Wir haben gemeinsame Feinde und gemeinsame Interessen. Das erkennt man, wenn man etwas weiter blickt als bis zur eigenen Nasenspitze. Wenn Euch wirklich das Wohl Vene- zuelas am Herzen liegt, dann hört zu! Nehmt zur Kenntnis, daß ich die Absicht habe, gemeinsam mit diesen Indianern Eurem Land einen großen Dienst zu erweisen und seine Grenzen zu verteidigen — wenn euer Unverstand das nicht verhindern sollte.” Ich schilderte ihm alles, was mir über die Akawois und ihren beabsichtigten Raubzug an den unteren Orinoko bekannt war. Es zeigte sich, daß auch Don Esteban bereits etwas davon gehört hatte, doch war ihm nicht bekannt, daß die Akawois nicht aus eigenem Antrieb zu diesem Überfall rüsteten, sondern durch die holländischen Plantagenbesitzer am Essequibo dazu angespornt wurden. Erst als ich Don Esteban des langen und breiten die Bedeutung dieser Pläne auseinandergesetzt und betont hatte, daß es sich dabei nicht um einen der üblichen Überfälle auf die venezolanischen Indianer handeln müsse, sondern daß die Holländer viel-leicht beabsichtigen könnten, Ländereien an der Mündung des Orinoko in Besitz zu nehmen, also Teile des Territoriums von Venezuela, blitzte es in den Augen des Spaniers auf: er hatte begriffen. Eine derartige Möglichkeit schien ihm durchaus gegeben, denn die Holländer, Engländer und Franzosen hatten es in der Vergangenheit schon einmal verstanden, in ein spanisches Land, in den südlichen Teil Guayanas, einzudringen und sich mit dem Recht des Eroberers dort festzusetzen. Und wer konnte dafür bürgen, daß die Holländer nicht das gleiche am Orinoko versuchen wollten? „Wenn also die Akawois, die Abgesandten der Holländer, hier erscheinen sollten”, erläuterte ich dem Spanier meinen Vorschlag, „so werden wir selbstverständlich die Unantastbarkeit Venezuelas verteidigen. Wie sollen wir aber für Venezuela kämpfen, wenn ihr, die Spanier selbst, uns um fünfzig der besten Krieger schwächen wollt?” „Das stimmt. Das ist wahr”, stimmte Don Esteban überraschend schnell zu und lachte über das ganze Gesicht. „Ich erkenne Euren Standpunkt an, er ist recht und billig.” Da er mir so überaus schnell zustimmte, kamen mir Zweifel an seiner Aufrichtigkeit. Dann aber durchschaute ich, warum Don Esteban so bereitwillig meinen Gedanken aufgegriffen hatte. Er sah ein, daß er umzingelt war und nachgeben mußte, und er entschloß sich für einen ehrenvollen Rückzug. Nicht einer Übermacht wich er, sondern er räumte das Feld nach sachlicher Erwägung der Umstände. Der Spanier war einfach froh, aus dieser mißlichen Situation herauszukommen, ohne etwas von seiner Würde einzubüßen. Deshalb nickte er mir zu, lächelte süß und schlug sich vor Freude mit den Händen auf die Knie. „Wir sind also in dieser Hinsicht Verbündete der Spanier”, nahm ich das Gespräch wieder auf, „und. . .” Meine Worte wurden durch kurze, schrille Schreie unterbrochen. Sie kamen von weither, aus der Richtung des Urwalds. Im ersten Augenblick konnte man nicht erkennen, wer sie ausstieß und warum, aber sie klangen wie spanische Wortfetzen. Ein Mann eilte auf uns zu und stieß warnende Rufe aus. Neugierig standen wir auf und blickten ihm entgegen. „Es ist ein Spanier”, erklärte Arnak, der zur Seite getreten war, um besser sehen zu können. „Nur einer?” fragte ich. „Er ist allein und ohne Waffen.” Befriedigt setzte ich mich wieder auf den Schemel und wartete, wie sich die Ereignisse weiter entwickeln würden. Im ersten Augenblick hatte ich mich gewundert, wer es so eilig habe, zu uns zu gelangen. Als ich dann aber den Gehetzten in seiner zerrissenen Kleidung wahrnahm, dem vor Angst und Anstrengung die Augen hervorquollen, und als Don Esteban entsetzt „Fernando!” murmelte, wurde mir alles klar: es war der Spanier, den ich in der vergangenen Nacht auf der Insel mit der Keule niedergeschlagen hatte. „Ein Unglück!” schrie er schon von weitem und schnappte nach Luft. „Ein schreckliches Unglück ist geschehen!” „Rede vernünftig”, herrschte ihn Don Esteban an. „Die Gefangenen sind entflohen”, japste der Spanier. „Entflohen? Das kann doch nicht sein! Wie war das möglich?” „Sie sind fort. . . Ihre Geister haben ihnen geholfen. . . Es ist eine Strafe Gottes!” „Was für Geister? Fasle keinen Unsinn, du Halunke! Den Schädel müßte man dir abschlagen, du Tölpel! Sind alle geflohen?” „Alle, Senor.” „Wohin?” „Wir wissen es nicht. Sie haben die Boote mitgenommen.” „Die Boote auch noch”, rief Don Esteban mit einer Stimme, als sei er am Ende seiner Kräfte. „Ihr Lumpen habt alle geschlafen, statt Wache zu halten!” „Ich schwöre bei Gott, daß ich nicht geschlafen habe, ich habe gewacht! „Der Senor Corregidor läßt euch die Knochen im Leibe brechen, so wahr ich hier stehe! Wie ist das geschehen?” „Wir wissen es selbst nicht. Jeder von uns erhielt einen Schlag auf den Kopf und wurde sofort ohnmächtig. Als wir wieder zu uns kamen, lagen wir gefesselt im Gebüsch. Nach einiger Zeit gelang es uns, die Fesseln abzustreifen. Die Boote und die Warraulen waren weg. Böse Geister hatten ihre Hände mit im Spiel, Senor, das ging nicht mit rechten Dingen zu!” „Idiot”, knurrte Don Esteban, warf einen wütenden, bedeutungsvollen Blick auf mich und fügte hinzu: „Ich kenne die Geister.” Fernando, der bisher keuchend und mit stockender Stimme berichtet hatte, wandte sich immer wieder in die Richtung, aus der er gekommen war, und stieß endlich hervor: „Senor comandante, der Wald wimmelt von feindlichen Indianern... sie waren hinter mir her! Sie haben Schußwaffen!” „Haben sie auf dich geschossen?’ „Das weiß ich nicht. Aber sie besaßen Büchsen, das habe ich gesehen.” „Waren es viele?” „Der ganze Wald ist voll.” Don Esteban wurde noch blasser. Er preßte die Lippen fest aufeinander und sah düster vor sich hin. Sichtlich bewegten ihn wenig erfreuliche Gedanken. „Wir sind also in dieser Hinsicht Verbündete der Spanier”, setzte ich das Gespräch dort fort, wo ich es unterbrochen hatte. Dabei veränderte ich weder meine Stimme noch meinen Gesichtsausdruck und tat so, als habe es den Zwischenfall mit Fernando nicht gegeben. „Deshalb fordere ich, daß Ihr und der Corregidor in Angostura im eigenen Interesse meine Herrschaft über die Stämme der nördlichen Arawaken und der Warraulen anerkennt „Auch über die Warraulen?” unterbrach mich Don Esteban und runzelte die Stirn. „Auch über die Warraulen. Wir haben vor kurzem mit ihrem Oberhäuptling Oronapi ein Freundschaftsbündnis geschlossen und gehören zusammen wie ein Volk. Wer einem Warraulen ein Unrecht zufügt, den betrachten auch wir als Feind, gleichgültig, ob es sich dabei um einen Akawoi, einen Holländer oder — irgendeinen anderen handelt.” Die letzten Worte sprach ich mit besonderem Nachdruck. „Und wenn der Corregidor Eure Selbstherrschaft nicht anerkennen will?” wandte Don Esteban ein, dem die Galle überzulaufen schien. „Dann werde ich die Herrschaft ohne sein Einverständnis ausüben!” Ich verlieh meiner Stimme einen scharfen Ton. „Und ich versichere Euch, daß von nun an — ob Ihr es wünscht oder nicht — alle Dörfer der Warraulen und der nördlichen Arawaken unter meinem persönlichen Schutz und unter dem meiner Musketen stehen.” Als die umstehenden Indianer meine Worte vernahmen, gerieten sie in Bewegung. Sie kannten mich bereits so weit, um zu wissen, daß es kein leeres Gerede war, was ich da sagte; außerdem hatten sie im Verlauf der heutigen Ereignisse Gelegenheit gehabt, sich davon zu überzeugen, daß ich mir zu helfen wußte und, wenn es notwendig war, dem Feind meinen Willen aufzuzwingen verstand. In den Blicken, die von allen Seiten auf mich gerichtet waren, konnte ich Achtung und große Dankbarkeit lesen. Sogar die Stammesältesten beehrten mich mit einem freundlicheren Gesicht, schielten aber gleichzeitig mit einem Auge zu Don Esteban und erwarteten, daß der hitzköpfige Spanier wütend aufspringen und auf mich losfahren werde wie ein Jaguar. Doch nichts dergleichen geschah. Wohl bleckte er die Zähne, verzog die Lippen aber zu einem breiten Lächeln. Er erhob sich und streckte mir seinen Arm entgegen. Wir schüttelten uns die Hände. „Wie der Corregidor darüber denkt”, rief der Spanier lebhaft, „das ist seine Sache. Ich für meine Person erkenne die Berechtigung Eurer Forderung und Eure Herrschaft über die beiden Stämme an. Ich wiederhole noch einmal: Ihr seid ein Satan, Don Juan! Es ist nicht gut, Euch zum Feind zu haben. Möge Freundschaft zwischen uns bestehen, und laßt uns ein Bündnis schließen. Verteidigt das Land gegen die Akawois, Gott sei mit Euch! Ich habe keine weitere Forderung an den Stamm!” Er war voll überströmender Höflichkeit, schüttelte mir freundschaftlich die Hand und sah mir lachend in die Augen. Sein Blick aber blieb unergründlich fremd und ließ einen bis ins Mark erschauern. Zum Teufel, dachte ich bei mir, sollte hinter diesen starren Pupillen bereits ein neuer Verrat geboren werden? Der Schlag soll ihn treffen mit seinem doppelten Gesicht! Als Manauri seine Worte übersetzt hatte, gerieten die Arawaken in einen Freudentaumel. Fröhliche Rufe wurden laut und drangen bis in die letzte Hütte. Immer wieder erscholl das eine Wort: „Chu-an! Chu-an!” In rhythmischem Gleichmaß lief es durch die Reihen der Menschen. Es war mein Name, wie er im Spanischen ausgesprochen wird. Bis in den Urwald war bereits die Kunde gedrungen, daß das Unheil abgewendet war, daß die Spanier niemand nach Angostura verschleppen würden. Die dreiundzwanzig Gefangenen waren schon längst in ihre Hütten zurückgekehrt, rafften eilig ihre Waffen und die gesamte Habe zu- sammen und machten sich mit ihren Familien auf den Weg zu unserer kleinen Siedlung. Währenddessen ließ Koneso, der über die günstige Wendung der Dinge höchst erfreut war, für die Spanier und für unsere Sippe ein festliches Gastmahl bereiten. Ich sprach aber dem Kaschiri nur sehr mäßig zu und forderte auch die Freunde auf, wachsam zu bleiben. Es wurde getanzt und gesungen, und immer wieder rollte laut und freudig jenes „Chu-an” über den Dorfplatz. Die Mädchen Serimas gaben sich die größte Mühe. den Spaniern und den Tschaimas zu gefallen. Koneso und Fujudi, die bereits etwas angetrunken waren, kamen auf mich zu, um mir in plumper, unbeholfener Art ihren Dank auszusprechen. Koneso deutete an, daß er den Spaniern gern etwas schenken möchte, und fragte mich, ob ich erlaube, daß er ihnen das Pferd überreiche. Ich war sofort einverstanden, denn unser Pferdchen wurde in dieser Urwaldwildnis immer unansehnlicher und magerer, und es war vorauszusehen, daß es bald ein-gehen würde. So sollte das einst von den Spaniern erbeutete Tier wieder in die Llanos zurückkehren. Als in den Nachmittagsstunden das Fest auf dem Dorfplatz seinen Höhepunkt erreichte und immer geräuschvoller wurde, herrschte in anderen Teilen Serimas emsige, wenn auch gedämpfte Geschäftigkeit. Dort vollzog sich etwas, was der Stamm noch nicht erlebt hatte und was die Zusammensetzung der Sippen von Grund auf verändern sollte. Alle Familien, die von der ränkevollen Herrschaft des Zauberers Karapana und des nichtswürdigen Koneso bedroht gewesen waren, packten ihren Hausrat und zogen in unser Dorf, in den Schutz der Sippe des Weißen Jaguar. Niemand durfte sie daran hindern, denn in diesem Augenblick achteten alle unsere Stärke. Kurz darauf verließ unsere Sippe das Gelage und kehrte in ihre Siedlung zurück. Ohne einen Tropfen Blutvergießen hatte uns dieser Tag einen schönen Sieg beschert, was uns mit unermeßlicher Freude erfüllte. Allen unseren Kriegern dankte ich aus ganzem Herzen, denn sie hatten sich hervorragend gehalten. Am längsten drückte ich den Prachtschützen die Hände, die mit großem Glück und Geschick die Kürbisse getroffen hatten. Auch die drei, die im Urwald so wacker geknallt hatten, lobte ich. Als wir genügend darüber gelacht hatten, daß es uns gelungen war, den Spaniern einen so gewaltigen Schrecken einzujagen, machten wir uns sofort an die Arbeit. Arnak verteilte in Vertretung des abwesenden Manauri die neu Angekommenen auf die einzelnen Hütten, und ich ließ Wagura mit mehreren Kriegern die Wachposten beziehen. Der Rest der Krieger blieb in Reserve, denn solange noch ein Spanier am Ufer des Itamaka weilte, durfte man der Ruhe nicht trauen. Es ereignete sich aber nichts Beunruhigendes. Das Fest in Serima währte bis in die Dämmerung, worauf sich die Menschen zur Ruhe begaben, die Spanier und die Tschaimas am Flußufer neben ihren Booten, die Arawaken in den Hütten. Alle waren ermattet, übersättigt und betrunken. Als sich die Dunkelheit herniedersenkte, war alles still, bis auf die Stimmen im Urwald und im Ufergebüsch, die wie gewöhnlich zu nächtlichem Leben erwachten. Die rote Pest Die Hälfte der Nacht verlief ohne Störung, dann aber riß uns das Krachen mehrerer Schüsse, die in kurzen, unregelmäßigen Abständen auf dem Dorfplatz in Serima abgegeben wurden, aus dem Schlaf. Dort mußte ein Kampf ausgebrochen sein. Wir ergriffen die Waffen, stürzten aus den Hütten und rannten, so schnell uns die Beine trugen, auf den Schauplatz des Geschehens zu. Schon von weitem erkannten wir, daß auf dem Lagerplatz der Spanier alles in Bewegung war. Einige schnell entfachte Feuer erhellten das Flußufer, in ihrem flackernden Schein wimmelten die Menschen wie in einem aufgescheuchten Ameisenhaufen durcheinander. Etwa hundert Schritt vom Lager entfernt befahl ich der Gruppe, sich in der Dunkelheit zu verbergen, und ging selbst mit Arnak auf die Spanier zu. „Man hat uns überfallen!” schrie mir Don Esteban aufgeregt entgegen, sobald ich in den Lichtschein des Feuers getreten war. „Verrat! Schande!” Mir wollte das nicht in den Kopf. „Wer sollte es gewagt haben, Euch anzugreifen?” „Wer sollte es gewesen sein!” äffte mich der Spanier wütend nach. „Wißt Ihr es wirklich nicht, oder wollt Ihr mich nur täuschen?” „Ich schwöre bei allem, was mir teuer ist: Ich weiß es nicht!” „Wer soll es schon gewesen sein?” wiederholte der Spanier giftig. „Eure roten Schoßkinder, Eure arawakischen Schützlinge.” „Das kann nicht sein. Ihr müßt Euch getäuscht haben.” „Schwört nur, daß es nicht sein kann, schwört, daß es eine Täuschung ist, und dann seht dorthin!” Er deutete auf das Ufer, wo dicht neben dem Wasser die Leiche eines Indianers lag. „Wer ist das?” fragte ich verblüfft. „Einer Eurer Mordbuben. Wir haben ihn uns herausgepickt, aber leider nur den einen.” „Wieviel waren es?” „Ein ganzer Haufen.” „Woher kamen sie? Aus dem Dorf?” „Der Teufel soll es wissen! Sie kamen vom Fluß her.” „Haben sie jemand getötet?’ „Nein. Das ist auch Euer Glück! Nur zwei Weiße trugen Messerstiche davon. Diesen Verrat bezahlt Ihr mir teuer!” Dieser rätselhafte Vorfall traf mich wie ein Blitzschlag. Ich war nicht weniger wütend als Don Esteban und so bestürzt, daß ich eine ganze Weile keinen klaren Gedanken fassen konnte. Alles ging so fürchterlich durcheinander. Welche Unfügsamen und Verrückten hatten uns diesen Wirrwarr eingebrockt? Ich ließ die Leiche näher ans Feuer heranbringen und betrachtete das Gesicht des Toten. Der Indianer war mir fremd, auch Arnak kannte ihn nicht. Mit herabhängendem Unterkiefer kam Koneso herbei, der noch nicht ganz nüchtern war, und blickte mit überraschter und dummer Miene um sich. Lange sah er dem Toten ins Gesicht, drehte ihn auf die eine und auf die andere Seite; endlich erhob er die Augen zu Don Esteban und versicherte mit giftig verzogenem Mund und gereizter Stimme: „Der ist nicht von uns. Es ist ein Fremder.” Der Spanier wollte sich auf den Häuptling stürzen, da er glaubte, Koneso wolle ihn täuschen, doch bestätigten mehrere Einwohner Serimas dessen Worte so nachdrücklich, daß Don Esteban zögerte.  „Das ist ein Warraule”, erklärte plötzlich Aripaj, der kurz nach uns gekommen war. „Ich kenne sie doch gut, es ist ein Warraule.” Mir fielen Manduka und seine Leute ein, die in einer unserer Hütten untergebracht waren. Ein Verdacht stieg in mir auf. Ohne aber meine Gedanken zu verraten, sagte ich zu dem Spanier: „Wenn ich mich nicht irre, so hat gestern der Söldner, der so atemlos angerannt kam — Fernando war wohl sein Name —, irgend etwas von Gefangenen gefaselt, die sich angeblich befreit hätten.” Don Esteban murmelte etwas von verfluchter Gegend und gab keine Antwort. Er mußte wohl zu der Überzeugung gelangt sein, daß die Warraulen den Überfall verübt hatten, denn er forderte, daß Koneso für den Rest der Nacht zahlreiche Wachen aufstelle, was dieser ihm dienstfertig und eilig versprach. Wir wünschten den wieder besänftigten Spaniern eine gute Nacht und verließen Serima. Auf dem Rückweg teilte ich Arnak meinen Verdacht gegen die Warraulen mit. „Bestimmt waren sie es. Sie sind einfach ausgerissen”, flüsterte Arnak betrübt. „Aripaj kann aber bezeugen, daß ich deinen Befehl richtig ausgeführt und ihnen eingeschärft habe, um nichts in der Welt ihr Versteck zu verlassen. Was machen wir mit ihnen?” „Zunächst gehen wir einmal hin.” Ich nahm die ganze Gruppe mit, außerdem Aripaj als Dolmetscher. Wir hatten uns mit Fackeln versehen und setzten sie vor der Hütte der Warraulen, die sie nicht verlassen sollten, in Brand. Als wir eintraten, lagen sie einer neben dem andern ausgestreckt da und taten so, als würden sie eben aus dem Schlafgeweckt. Gähnend rieben sie sich die Augen. Manduka, der dem Eingang am nächsten lag, erhob sich achtungsvoll. Wir zählten sie. Es waren zehn statt elf. „Wo ist der elfte?’ ließ ich Manduka durch Aripaj fragen. Manduka mimte immer noch den Verschlafenen, riß die Augen auf, murmelte etwas, ohne auf unsere Frage zu antworten. „Er sitzt draußen und.. .”, rief einer mit frecher Stimme aus der dunkelsten Ecke. „Komm nach vorn”, sagte ich zu ihm. Sich streckend, erhob sich der vorlaute Rufer langsam und setzte eine etwas hochmütige Miene auf. Er hatte es nicht eilig, zu uns heranzutreten. „Beweg dich schneller!” schrie ich so laut, daß die trockenen Palmblätter im Dach knisterten. Immer noch mit verdrossenem Gesicht kam er heran. „Warum hast du nicht geschlafen, als wir hier eintraten?’ „Ich habe geschlafen.” „Woher weißt du dann, daß der elfte hinausgegangen ist, um seine Notdurft zu verrichten?” „Ich weiß es. Woher ich es weiß, das ist meine Sache!” Ich faßte an seinen Lendenschurz, den er noch trug. Er war feucht. „Du bist naß? Bist du in den Fluß gefallen?” „Nein”, log er, ohne zu stottern. „Ich kann das Wasser nicht halten, weil ich krank bin.” Nun konnte ich mich nicht mehr beherrschen und verabreichte dem Frechling eine kräftige Maulschelle. Während er ins Wanken geriet, packte ich ihn mit einer Hand unter der Achselhöhle und mit der andern am Bein und schleuderte ihn gegen die Wand. Die Zweige hielten dem Anprall nicht stand, sie brachen, und aus dem entstandenen Loch ragte der halbe Körper des kecken Burschen hervor. „Ist noch einer hier, der lügen will?” Ich blickte in die Runde und sah dann Manduka streng in die Augen. Der junge Krieger machte ein zerknirschtes Gesicht. „Verzeih, Herr”, sprach er gehorsam. „Wir wollen die Wahrheit nicht verbergen. „Habt ihr den Überfall ausgeführt?” „Ja, Herr.” „Warum?’ Verlegen sah Manduka mich an; dann antwortete er: „Die Spanier haben uns schweres Unrecht zugefügt. Wir hassen sie. Wir haben uns hinreißen lassen.” Zornig blickte ich die Warraulen der Reihe nach an. „Ihr habt euch hinreißen lassen? Seid ihr Krieger oder dumme Jungen? Ihr hattet Befehl, nicht aus der Hütte zu gehen.” „Ja, Herr, wir haben schuld, ich leugne es nicht. Aber... wir hörten im Laufe des Tages so viele Schüsse, daß wir es hier nicht mehr aushielten. Wir wollten etwas tun ... ” „Wie dumm, auf eigene Faust etwas zu unternehmen! Ist euch nicht der Gedanke gekommen, daß ihr mit eurer Unbesonnenheit uns alle, ganz Serima, ins Verderben reißen könntet?” „Wir wissen es jetzt. Es wird nie wieder vorkommen, Herr.” Trotz allem gefielen mir Manduka und seine Schar. Sie hatten mutige Herzen und fürchteten sich nicht, einen stärkeren Feind anzugreifen. Außerdem konnte man in den Augen des Warraulen lesen, daß er seinen Fehler aufrichtig bereute. „Du kommst jetzt mit mir”, ordnete ich an, „und wirst so lange in Fesseln gelegt, bis die Spanier abgefahren sind. Ihr andern gebt sämtliche Waffen ab und bleibt hier in der Hütte. Wer sie ohne Erlaubnis verläßt, dem jagen wir eine Kugel in den Kopf.” Ich ließ Manduka sofort die Hände binden, damit seine Leute sehen sollten, daß es keine leeren Worte waren. Nachdem die War-raulen ihre Waffen abgegeben hatten, was etwas unwillig und zögernd geschah, blieben zwei unserer Krieger sowie fünf Freiwillige aus den Reihen derer, die von Serima zu uns übergesiedelt waren, als Wache zurück. Wir andern waren zufrieden, daß der Vorfall schlecht und recht beigelegt war, und suchten unsere Hütten auf, um noch einige Stunden zu schlafen. Der Rest der Nacht verlief ruhig. Zwei Stunden nach Sonnenaufgang lagerten die Spanier immer noch in Serima. Als ich die Nachricht erhielt, daß sie keine Anstalten trafen, die auf ihre baldige Abfahrt schließen ließen, machte ich mich auf den Weg, um den Grund der Verzögerung zu erforschen. Da ich nicht wußte, in welcher Laune ich sie heute antreffen würde, nahm ich wie am Tag zuvor Arnak und die bewaffnete Gruppe Waguras mit. In Serima war alles unverändert. Die Menschen schmausten wieder, lachten sich zu, lagen in Hängematten im Schatten der Hütten oder schlenderten untätig auf dem Dorfplatz umher. Bei Tageslicht hatten einige spanische Söldner und Tschaimas in dem getöteten Indianer einen der Warraulen wiedererkannt, die sie mitgeführt hatten. Darin lag wohl auch der Grund für das große Wohlwollen Don Estebans, mit dem er mir begegnete. Es war nun klar erwiesen, daß die Arawaken mit dem nächtlichen Überfall nichts zu tun hatten. „Ich freue mich, ich bin sehr froh”, wiederholte der Spanier einigemal mit einem süßen Lächeln und rieb sich die Knie. „Und ich gestehe Euch, daß ich Serima nicht verlassen wollte, ohne Euch meine Zufriedenheit ausgesprochen zu haben. Meine freundschaftlichen Gefühle — wir sind doch Verbündete! — gebieten mir, Euch und Euren tüchtigen Leuten ein bescheidenes Geschenk zu überreichen.” Diese Eröffnung erschien mir so außergewöhnlich, daß ich Don Esteban anstarrte wie ein Wundertier. Kannten doch die Spanier in dieser Gegend nur einen Grundsatz — zu nehmen und zu plündern, auf keinen Fall aber zu schenken! Doch hatte mich mein Gehör nicht getäuscht, der höfliche Spitzbart erläuterte mir seine ehrbaren Absichten. „Ich möchte Euch einen Sack Decken schenken, die mir übriggeblieben sind. Bereitet mir das große Vergnügen und lehnt dieses bescheidene Andenken nicht ab.” „Decken? Wollene Decken?” „Ja, Decken.” Decken waren in dem heißen Klima unserer Waldgegend eine so unnütze Sache, daß ich meiner Verwunderung deutlichen Aus- druck verlieh. Uns genügten völlig die im Ort hergestellten, aus Pflanzenfasern geflochtenen Matten. „Wenn Euer Wohlgeboren so freigebig sind”, erwiderte ich da-her lachend, „so schenkt uns einige Büchsen und etwas Pulver. Damit erweist Ihr uns einen besseren Dienst für den Kampf gegen die Akawois. Aber Decken?” „Ich besitze weder überflüssige Büchsen noch Pulver”, antwortete er trocken, „deshalb gebe ich, was ich geben kann, und ich bitte, es anzunehmen.” Mein vielleicht nicht gerade höflicher, aber berechtigter Einwand hatte ihm so sehr die Laune verdorben, daß ich stutzig wurde. Der Nachdruck, mit dem er jenes „und ich bitte, es anzunehmen!” aussprach, brachte mich auf den Gedanken, daß ihm sichtlich sehr viel daran gelegen war, uns diese Decken zu schenken. Aber wozu? Warum drängte er mir sie geradezu auf? Ich betrachtete ihn forschend. In seinen Augen entdeckte ich wiederum so viel kalte Grausamkeit, ja feindliches Lauern, daß mich ein kalter Schauer überlief. Was ist das für ein merkwürdiger Mensch? überlegte ich. Worauf will er hinaus? Vielleicht bildete ich mir dies alles nur ein? Während ich mit übergeschlagenem Bein und über dem Knie verschränkten Händen bequem auf meinem Schemel saß, behütet durch die Wachsamkeit Arnaks und beschirmt durch die Waffen der Gruppe Waguras, schweiften meine Gedanken zurück in die Vergangenheit, in die Jahre meiner Jugend. Vor meinen Augen wurde ein Ereignis lebendig, das damals in meiner Heimat im Norden großes Aufsehen erregt hatte. Zu jener Zeit lebten unweit der Farm meines Vaters in einem der Täler der Alleghanies mehrere indianische Familien, die Überreste des vor einem halben Menschenalter ausgerotteten Stammes der Susquehannas. Sie lebten ruhig in ihrer Abgeschiedenheit, bereiteten den weißen Pionieren keine Schwierigkeiten, weshalb diese sie in Frieden ließen und ihnen manchmal sogar kleine Unterstützungen gewährten. So wurden ihnen eines Tages mehrere alte Decken geschickt. Zur größten Verwunderung der umliegenden Farmer brach kurz darauf bei den Indianern eine mörderische Epidemie aus, der nach einigen Wochen alle Angehörigen des Stammes bis zum letzten Kind zum Opfer fielen. Wir nannten diese Krankheit die Masern. Für uns war sie nicht weiter schrecklich, nur äußerst ansteckend; auf die Indianer, wie sich gezeigt hatte, wirkte sie vernichtend. Die Farmer erkannten, daß die Decken, die sie den Indianern geschenkt hatten, die Seuche dort eingeschleppt hatten; denn die stammten von Menschen, die kurz zuvor an Masern erkrankt waren. Als diese Nachricht in den englischen Kolonien bekannt wurde, fanden sich viele, die diese Art für die Ausrottung der noch nicht unterjochten Indianerstämme empfahlen, die unseren Leuten in den westlichen Grenzbezirken arg zu schaffen machten. Ich war begierig zu erfahren, ob diese Geschehnisse in den spanischen Kolonien bekannt seien, und wenn ja, ob die Menschen so gewissenlos waren, um mit derart höllischen Mitteln das Leben Unschuldiger zu vernichten? Die Augen Don Estebans glitzerten in beängstigender Kälte! Ich hatte das Gefühl, daß uns eine unbekannte Gefahr drohte, und beschloß, noch mehr als bisher auf der Hut zu sein. „Mögen Euer Wohlgeboren mir verzeihen”, erklärte ich standhaft, „Eure Decken kann ich wirklich nicht gebrauchen und werde sie nicht annehmen.” „Nicht doch”, widersetzte sich der Spanier genauso standhaft. „Ich bitte Euch, beraubt mich nicht des Vergnügens, Euch meine Freundschaft zu beweisen, und deshalb — verzeiht den Ausdruck — müßt Ihr dieses bescheidene Geschenk annehmen.” Sein Mund sprach diese Worte so herzlich, daß ich bereit war, mich für einen Grobian zu halten; sobald ich jedoch in seine Schlangenaugen blickte, wurde mein Widerstand um so verbissener. Der Spanier zuckte aber nur die Achseln und sprach: „Überlegt es Euch gut, Don Juan, bevor Ihr mich durch Eure unsinnige Weigerung verletzt und beleidigt. Warum wollt Ihr Eure Leute benachteiligen?” Die letzten Worte Don Estebans waren weniger an mich als vielmehr an Koneso und die arawakischen Stammesältesten gerichtet, die sich in der Nähe aufhielten, und sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Die stets und nach allem gierenden Ältesten wunderten und ärgerten sich mächtig über meinen Widerstand, und Koneso stimmte dem Spanier zu, daß ich damit den Indianern ein Unrecht zufüge. „Wenn du die Decken nicht willst, so überlasse sie mir”, verlangte der Oberhäuptling. „Weiß du überhaupt, was wollene Decken sind?” fragte ich. Er wußte es nicht genau. „Es sind Matten aus dickem Tuch, die man zu nichts gebrauchen kann”, erläuterte ich ihm. „Ich werde sie mir ansehen”, erwiderte er und stand auf. „Ich bitte dich um eins: Sei vorsichtig, berühre die Decken nicht!” rief ich ihm warnend nach. Koneso warf den Kopf in den Nacken. „Meinst du, sie könnten beißen?” „Ich meine, sie könnten Schaden anrichten.” Koneso, Fujudi, Pirokaj und noch andere stiegen in das Boot der Spanier und kehrten bald voll kindlichen Entzückens zurück. Besonders Koneso sparte nicht mit Worten des Lobes, wie schön die Decken seien. „Verfluchter Unsinn!” Ich sah, daß ich ihre Begeisterung nicht abzukühlen vermochte, und erklärte entschieden, daß ich die Decken nicht annehme. Um weiteren Belästigungen aus dem Wege zu gehen, wandte ich mich einfach um und ging davon, ohne einen Blick zurückzuwerfen. In den Nachmittagsstunden rüsteten die Spanier zur Abfahrt. Ich machte mich auf, um von Don Esteban, und vor allem von Pedro, Abschied zu nehmen. Zu meiner größten Verwunderung mußte ich feststellen, daß der Sack mit den Decken ans Ufer gebracht worden war. „Aber warum denn das? Ich kann sie nicht gebrauchen!” rief ich aus. „Ich habe doch erklärt.. .” „Ich weiß, doch nehmt sie nur.” Don Esteban strahlte vor Gutmütigkeit. „Wenn Ihr selbst die Decken nicht verwenden könnt, dann gebt sie den tüchtigen Kriegern aus Eurer Abteilung. Die guten Schüsse sind eine Decke wert... Es sind fünfzehn Stück.” „Nimm sie, lehne sie nicht ab, Weißer Jaguar”, drängte mich Koneso. „Vielleicht sind die Matten doch zu etwas gut. . .” Es blieb nichts anderes übrig. Zwei Boote hatten bereits abgestoßen, die letzten Spanier sprangen gerade in die dritte Itauba hinein, und gleich darauf steuerte auch sie der Mitte des Flusses zu. Als sie unseren Augen entschwunden waren, wandten wir uns dem verdächtigen Bündel zu. Der große, geradezu aufdringliche Freigebigkeitsdrang Don Estebans hatte meinen Argwohn noch verstärkt, und ich teilte den Arawaken unverzüglich meine Vermutungen mit. „Ich habe kein Vertrauen zu Don Esteban”, erklärte ich abschließend, „und bin überzeugt, daß in diesem Sack ein schrecklicher Kanaima der weißen Menschen lauert, der eine todbringende Krankheit verbreitet. Wer die Decken berührt, dem drohen Krankheit und Tod.” Meine Worte blieben nicht ohne Eindruck, in den Augen der Indianer spiegelten sich Mißtrauen und Entsetzen. Nur vorsichtig wagten sie einen Blick in das Bündel zu werfen, konnten aber kaum etwas sehen. Der Sack war an einer Holzstange festgebunden. Die Träger hatten ihn an Land gebracht, indem sie nur die beiden Enden der Stange anhoben, ohne den Sack selbst zu berühren. Mir kam es jedenfalls äußerst merkwürdig vor — der Teufel sollte die Bande holen! Arasybo stieß mich an und sagte dann unerschrocken: „Weißer Jaguar, ich kenne Beschwörungen, die böse Zauber töten und Krankheiten vertreiben. . .” „Arasybo, guter Freund!” Ich mußte lachen. „Gegen dieses Übel, das ich in dem Sack vermute, helfen keine Beschwörungen, hier kann nur dreierlei helfen: entweder den Sack in den Fluß zu werfen, damit er im Meer versinkt, oder ihn möglichst tief zu vergraben, oder — und das ist das allerbeste — ihn einfach zu verbrennen.” In diesem Augenblick trat Pirokaj an mich heran, ließ seine durchtriebenen, beweglichen Mäuseaugen spielen und fragte: „Du sagst, daß du den Verdacht hegst, sicher bist du dir nicht?” „Natürlich weiß ich es nicht mit Sicherheit.” „Aha, so ist das also!” Koneso, der das Bündel mit traurigen Blicken geradezu verschlang, klagte: „Ein so ungewöhnliches Geschenk, und nun soll es vernichtet werden! Ist es nicht schade darum, wenn man nichts Genaues weiß? Vielleicht sitzt gar kein Kanaima darin.” „Und wenn einer drinsitzt”, rief Pirokaj herausfordernd, „was hat das zu bedeuten? Ist Karapana nicht ein Zauberer, der jeden Kanaima austreibt? Karapana wird den Sack beschwören und den Zauber unschädlich machen.” „Karapana — ist ein wandelnder Leichnam”, knurrte Manauri zornig. „Karapana lebt nicht mehr.” Dieser kühne Ausruf übte auf alle eine starke Wirkung aus. Er wurde verschieden aufgenommen. Während unsere Sippe ihrem Häuptling beipflichtete und der Verdammnis des Zauberers stürmischen Beifall zollte, waren einige Einwohner Serimas sichtlich empört, und Pirokaj schnellte empor, als wolle er dem Bruder die Augen auskratzen. „Du lügst, räudiger Hund!” brüllte er. Ich gebot Ruhe. „Noch ist der Feind keine Meile weit’, rief ich aus, „und schon gebärdet sich dieser Hahn, als wäre er ein Adler!” Dabei deutete ich auf Pirokaj. Die Krieger unserer Sippe begannen laut zu lachen. „Manauri hat recht’, fuhr ich fort. „Für den Stamm ist Karapana nicht mehr am Leben. Ihr habt keinen Zauberer mehr. Als Serima in höchster Gefahr war, hat er sich verkrochen wie ein feiges Reptil! Ihn trifft die Schuld, daß die Hälfte eurer Brüder Serima verlassen hat und nicht mehr mit euch leben will.” Die Anhänger des Zauberers — es war ein erstaunlich kleines Häufchen — wagten nicht, zu dessen Verteidigung einen Streit vom Zaun zu brechen, und beruhigten sich schnell. Ich befahl unseren Kriegern, den abscheulichen Sack in den Fluß zu werfen, doch erging sich Koneso in so flehenden Bitten und Vorstellungen, wir sollten die Decken nicht sofort vernichten, daß ich um der lieben Eintracht willen schließlich nachgab. Ich wollte den Oberhäuptling nicht gar zu sehr verbittern, zumal er bei allem, was ihm heilig war, darauf schwor, er werde strenge Maßregeln treffen, um zu verhindern, daß jemand die verdächtigen Geschenke berühre. So endete der Tag. Die Gemüter aller hatten sich entspannt. Mit der Abreise der Spanier fiel jedem ein Stein vom Herzen, und das Leben kehrte zu seiner natürlichen Ordnung zurück. Unsere Siedlung allerdings verwandelte sich in das reinste Heerlager, denn mindestens die Hälfte der Bevölkerung Serimas hatte sich auf unsere Seite geschlagen. Eilig wurden Hütten errichtet, die Menschen bewegten sich geschäftig hin und her, über all dem Lärm und Getümmel lag eine freudige Erregung. Auf mein Anraten schickte Koneso vier Kundschafter in zwei Booten hinter den Spaniern her, die deren Beginnen mehrere Tage beobachten sollten. Eine Anzahl Krieger unserer Sippe fuhren mit einem großen Boot den Fluß hinab, um die von den Spaniern erbeutete Itauba mit den Nahrungsmitteln bei Katawi abzuholen. Gegen Abend kehrten sie zurück. Sofort nach der Abreise der Spanier schnitt ich Manduka, der in meiner Hütte lag, die Fesseln durch und ließ ihm und seinen Warraulen die Waffen wieder aushändigen. Der junge Krieger hatte die kurze Gefangenschaft mit Ruhe ertragen und hegte keinen Groll gegen mich. „Das war keine Strafe, obgleich du eine verdient hättest’, erklärte ich ihm, „sondern eine notwendige Vorsichtsmaßregel.” „Ich weiß es, Weißer Jaguar”, erwiderte er lebhaft. „Ich werde dich in Zukunft nie mehr enttäuschen.” „Soll das heißen, daß du hierbleiben willst?” fragte ich überrascht. „Ich will dir so lange dienen, bis die Akawois kommen. Wir müssen lernen, wie man die Feuerwaffen bedient.” „Gut, doch kann ich euch keine Büchsen überlassen, denn wir brauchen sie alle selbst.” „Erlaubst du uns, daß wir sie den Spaniern abnehmen?’ „Wie meinst du das: abnehmen?” „Leihe uns eine kleinere Itauba und gestatte, daß wir hinter Don Esteban herfahren.. .” Der Bursche hatte Phantasie, es mangelte ihm nicht an Unternehmungsgeist und Mut. „Manduka, du bist ein tüchtiger Kerl, doch benötigt ein guter Krieger nicht nur Mut, sondern er muß auch ehrliche Bräuche achten. Die Spanier haben uns in Frieden verlassen, und wir werden den Frieden wahren.” „Wir Warraulen haben keinen Frieden mit ihnen geschlossen.” „Oho, ihr seid unsere Verbündeten, und unser Frieden verpflichtet auch euch. Es gibt aber noch einen zweiten Grund, warum ich euch nicht hinter den Spaniern herfahren lasse. In ihrer Mitte befindet sich unser Freund Pedro, und in der Dunkelheit könntet ihr ihm etwas zuleide tun. Das darf nicht geschehen! Du kannst nicht fahren, Manduka.” Er mußte sich damit abfinden, doch traten einige Stunden später Ereignisse ein, die alles gründlich über den Haufen warfen und die eben erst eingetretene Ruhe am Itamaka erneut in brutaler Weise störten. Als ein fahler Schein das Nahen des neuen Tages ankündigte, riß mich ein ungewöhnlicher Lärm aus dem Schlummer. Undeutliche Wortfetzen ertönten auf dem Platz draußen, und schnelle Laufschritte näherten sich der Hütte. Gleich darauf wurde der Eingang durch eine Gestalt verdunkelt, und eine bekannte, nach Atem ringende Stimme rief meinen Namen. Mit einem Satz war ich auf den Beinen. „Pedro, du bist es?” brachte ich mühsam hervor. „Ja, ich bin es — Pedro! Ich bin davongelaufen, um dich zu warnen.” „Um Himmels willen, was ist geschehen?” „Die Decken”, er mußte wieder Luft schöpfen, „die Decken... sie sind vergiftet.. . die Pest steckt in ihnen. . „Also doch!” „Rosa. . . rosa!” Ich wußte nicht, was „rosa” zu bedeuten hatte, doch gewann ich aus dem, was mir Pedro gleich darauf auseinandersetzte, die Überzeugung, daß es sich um die Masern handelte. Meine bösen Vorahnungen hatten mich also nicht getäuscht. „Wie hast du es erfahren?” fragte ich, während ich mir schnell die Kleidung überwarf. „Als wir abends Rast machten, begann Don Esteban zu erzählen und prahlte damit, wie er dich hinters Licht geführt habe. Diese Rache hat er sich ausgedacht, weil er sich von dir gedemütigt fühlte. Er führte die verpesteten Decken mit sich, um solche Indianer, die der Herrschaft der Spanier im Wege sind, auszurotten. Deiner Truppe wollte er dich berauben; das war der Grund, war-um er so hartnäckig darauf bestand, du mögest die Decken an-nehmen.” „Diese Krankheit ist fürchterlich ansteckend. Nicht nur meine Krieger, sondern der ganze Stamm könnte dahinsiechen.” „Das ist ihm gleich. Er wollte deine Herrschaft beseitigen, deinen Einfluß zunichte machen; jedenfalls rühmte er sich damit immer wieder. Mir standen vor Grauen fast die Haare zu Berge.” „Wie bist du entkommen?” „Ich konnte das kleine Boot, das Don Esteban mitführte, in der Nacht unauffällig ins Wasser schieben und mich davonmachen. Unweit des Lagerplatzes stieß ich auf einen arawakischen Kundschafter. Ich erklärte den Indianern, worum es sich handele, da halfen sie mir rudern — und nun bin ich hier!” Gerührt durch diesen Beweis seiner Freundschaft, umarmte ich ihn herzlich. Gleichzeitig befielen mich sorgenvolle Gedanken, was nun mit ihm werden sollte. „Hast du dir überlegt, Pedro, daß du nach dem Vorgefallenen weder zu Don Esteban zurückkehren kannst noch dich in Ango-stura zeigen darfst?” „Was soll ich dort? Diese Verräter sind mir so widerwärtig, daß ich mit ihnen nichts zu tun haben will! Ich bleibe bei dir, Jan, bis ich nach Norden fahren kann, nach Cumana. Einmal wird sich schon eine Möglichkeit bieten... Ich freue mich jedenfalls, daß wir wieder zusammen sind.” „Das kann sehr lange dauern.” „Das tut nichts.” Seine Augen strahlten vor Zufriedenheit. Während der letzten Worte befanden wir uns bereits auf dem Weg. Manauri; Arnak und einige Krieger kamen mit uns. Waffen hatten wir nicht mitgenommen. Wozu auch? Um den Sack mit den Decken in den Fluß zu werfen, dazu benötigten wir keine Büchsen. Hätten wir uns nur bewaffnet! Der heraufdämmernde Morgen ließ immer neue Bilder aus der Dunkelheit hervortreten, und als wir den Wald durchquert hatten und auf die freie Fläche vor Serima kamen, ließ eine böse Vorahnung unsere Herzen stocken. Wir bemerkten, daß sich um den verdammten Sack herum etwas Ungewöhnliches abspielen mußte. Aufgeregte Menschen drängten dort hin und her. Sie trugen irgendwelche Dinge, machten sich auf der Erde zu schaffen und schienen etwas zu verteilen. „Sie haben den Sack geöffnet!” stieß ich entsetzt hervor. Leider war es wirklich so. Sie hatten die Decken herausgezerrt und rissen sie voller Habgier einander aus den Händen; jeder wollte seinen Teil von der Beute haben. „Rührt sie nicht an!” schrien wir schon von weitem. „Laßt die Decken los! Die Pest steckt in ihnen! Der Tod. . . So laßt doch los, ihr Hundskerle!” Sie dachten gar nicht daran, die eben erhaschte Beute fahrenzulassen. Wenn wir wenigstens Waffen besessen hätten — vielleicht hätte ihr Anblick sie ernüchtert und zum Gehorsam veranlaßt. So aber waren wir nur einige wenige, und dort drängten sich an die dreißig oder vierzig Menschen. Wir waren herangekommen und machten ihnen laut schreiend klar, welche Gefahr in diesen Decken lauere, und tatsächlich wurden einige unsicher, als sie meine außergewöhnliche Wut und Verzweiflung wahrnahmen. In diesem Augenblick schnellte eine Gestalt vom Boden empor, die bisher dort gekauert hatte, als verrichte sie Gebete. Es war der Zauberer Karapana, der uns sein haßverzerrtes Gesicht zuwandte. „Hört nicht auf ihn!” krächzte er mit wilder, heiserer Stimme. „In diesen Matten gibt es keinen Tod mehr. Ich habe ihn vernichtet. Er täuscht euch nur. Er will alles für sich beiseite schaffen.” Mitten in diesem aufgeregten Haufen befand sich auch Koneso. Er hielt eine Decke unter dem Arm. „Häuptling’, schrie ich, „ich flehe dich an, wirf die Decke weg! Du selbst bringst das Verderben über den Stamm!” Zorn, Verwirrung, Streitsucht zuckten in seinen Zügen. „Nein”, fauchte er. „Du hast uns nichts zu befehlen, Weißer Jaguar, und kannst uns nicht zwingen! Damit bezahlen die Spanier unser Pferd, und diese Bezahlung gehört uns. Du wolltest sie ins Wasser werfen, damit wir sie nicht bekommen sollten. Aber das wirst du nicht erleben.” Ich preßte die Fäuste gegen die Schläfen, am liebsten hätte ich laut aufgeheult. „Du hast den Verstand verloren, du bist mit Dummheit geschlagen”, rief ich. „Ich sage dir, eine Krankheit der weißen Menschen steckt in diesen Matten! Pedro ist zurückgekommen und hat uns den Verrat der Spanier hinterbracht. Jetzt wissen wir genau, daß in ihnen das Verderben lauert.” „Ich weiß, daß Pedro zurückgekommen ist, deshalb haben wir uns die Matten schnell genommen, bevor du sie vernichten kannst.” „Ihr geht alle zugrunde, wenn ihr sie nicht sofort wegwerft”, wiederholte ich beteuernd und war selbst dem Wahnsinn nahe. „Oh, wir werden nicht zugrunde gehen. Wir fürchten uns nicht. Karapana schwört bei allen Geistern, daß du dich irrst.. . Er hat die Krankheit ausgetrieben, falls überhaupt eine in den Matten gewesen sein sollte.” Sie blieben verstockt und taub. All unser Bemühen war vergeblich, es prallte ab wie ein Stein, der gegen eine Felswand geschleudert wird. Der Zauberer kicherte und schluckte vor Hohn und böswilliger Freude über den Sieg, den er über mich errungen hatte. Einige meiner Gefährten wollten sich trotz der Übermacht auf die Leute aus Serima stürzen, um ihnen die Decken mit Gewalt abzunehmen. Ich hielt sie zurück und erklärte ihnen, daß sie selbst angesteckt würden, wenn sie die Decken berührten. Das leuchtete ihnen ein. Als ich einsah, daß wir keinen der Verblendeten überzeugen könnten, befahl ich die schnelle Rückkehr. Meine Erregung hatte sich gelegt; nun galt es, an unsere Rettung zu denken. Die geringe Entfernung unserer Siedlung von Serima bot uns keinen Schutz vor dem Wind, der die Seuche verbreiten konnte. Auf dem Rückweg schilderte ich den Freunden in kurzen Worten die Merkmale der alle bedrohenden fiebrigen Krankheit: sie sei äußerst ansteckend, rufe rote Flecken auf dem Körper hervor, nach mehrtägigem Fieber trete eine allgemeine Schwäche ein, die bei den Indianern unrettbar zum Tode führe. Ich berichtete ihnen meine ergreifenden Erfahrungen aus den Knabenjahren, führte ihnen das traurige Schicksal der Susquehannas in dem Tal der Alleghanies vor Augen. „Wir haben nur eine Möglichkeit — wir müssen sofort, noch in dieser Stunde, den Ort verlassen”, schloß ich meine Ausführungen. „Jeder, der die heimtückischen Decken noch nicht berührt hat, muß von hier fliehen.” „Genügt es, wenn wir in die Potarobucht übersiedeln, wo wir unseren Schoner versteckt haben?” fragte Manauri. „Wie weit liegt sie von hier, drei Meilen?’ „Etwas mehr.” „Das dürfte genügen”, stimmte ich zu, „doch darf in den nächsten Wochen keiner von uns mit den Kranken in Berührung kommen, falls es solche geben sollte! Das ist eine unerläßliche Bedingung.” „Dauert die Seuche lange?” „Erst nach einigen Tagen zeigen sich langsam die ersten Anzeichen, und dann dauert es zehn bis fünfzehn Tage bis zum Tod — oder zu allmählichen Genesung." „Und wie wird sie geheilt?’ „Das weiß ich nicht genau. Irgendjemand hat mir einmal gesagt, daß man ruhig zu liegen habe, daß man sich nicht aufdecken dürfe, wenn das Fieber brennt, und auf keinen Fall ins Wasser gehen und nur wenig Nahrung zu sich nehmen solle.” „Wenn das so ist, dann müssen wir die Leute in Serima verständigen, wie sich ein Kranker verhalten soll”, brachte Manauri vor. „Natürlich müssen wir das.” Es freute mich, daß die Gefährten meine Warnungen nicht auf die leichte Schulter nahmen. Sofort nach unserer Rückkehr wurden alle Einwohner der Siedlung alarmiert. Zum Glück war der Schoner schon am Abend des gestrigen Tages aus der Potarobucht angekommen, so daß das gesamte Hab und Gut sowie die Vorräte, die wir besaßen, in ihm verstaut werden konnten. Auch die Töpfer- und Webergeräte wurden an Bord gebracht, ja sogar die Pfosten, Wände und Dächer einiger Hütten, die unsere Leute eilig abgerissen hatten. Während sich die Leute unserer Sippe in der Arbeit überboten, um so bald wie möglich diese unselige Gegend verlassen zu können, stellten sich die zehn Warraulen mit allen Waffen, die sie von uns erhalten hatten, vor meiner Hütte auf, und zwar in einer wohlgeordneten Reihe, wie eine Abteilung Söldner. Manduka trat an mich heran und bat durch den Mund Aripajs, dessen er sich als Dolmetscher bediente, um eine Unterredung. „Ich höre”, antwortete ich und wunderte mich ein wenig über seine feierliche Miene. „Herr, du hast uns aus zwei Gründen nicht gestattet, die Spanier zu verfolgen, und wir haben uns gefügt’, sprach Manduka. „Erlaubst du es uns jetzt?” „Du meinst, die Gründe seien nun weggefallen?” „So ist es, Weißer Jaguar. Die Spanier haben sich als Verräter entpuppt, und Pedro ist zurückgekehrt.” „Deine Gedanken sind richtig’, bestätigte ich und lachte. „Und ihr wollt euch nun über sie hermachen?” „Wir wollen ihnen die Feuerwaffen abnehmen.” „Ohne Zusammenstoß?’ „Auf Biegen oder Brechen.” Ich warf Manauri, der Zeuge unserer Unterredung war, einen fragenden Blick zu. Bestimmt hatten die verräterischen Spanier eine Lehre verdient, und auch Manauri erhob keine Einwendungen dagegen. „Ich bin einverstanden”, erwiderte ich daher, „doch geschieht es auf eure Verantwortung, wir wollen damit nichts zu tun haben. Ihr bekommt die schnellste Itauba und einen Vorrat an Nahrungsmitteln, auch eure Bewaffnung wird vervollständigt. Ihr gebt uns aber Nachricht, wie das Unternehmen verlaufen ist.” „Wir werden berichten.” Kaum eine halbe Stunde war verstrichen, als die Warraulen im Eiltempo den Fluß hinunterfuhren. Sie waren am Wasser aufgewachsen und galten als die besten Ruderer unter den Indianern. Niemand zweifelte daran, daß es ihnen ein leichtes sein werde, die Spanier einzuholen. Unterdessen begann die große Wanderung zur Potarobucht. Mehr als fünfhundert Arawaken, Männer, Frauen und Kinder, machten sich mit unserer Sippe auf den Weg. Die meisten gingen zu Fuß und benutzten den Pfad, der sich am Flußufer entlangzog. Die übrigen hatten sich auf dem Schoner eingeschifft oder fuhren mit Itauben oder in zahlreichen kleinen Booten. Die Menschen flohen nicht nur vor ihren bösartigen Häuptlingen und vor der Seuche — sie hegten einfach den Wunsch, ein neues Leben zu beginnen. Ihre Herzen waren voller Hoffnung und Freude. Der Tod Karapanas Die Potarobucht war ein See in Gestalt eines Schlauches, der sich parallel zum Itamaka hinzog und durch eine schmale, aber lange Halbinsel von diesem getrennt wurde. An manchen Stellen betrug deren Breite kaum hundert Schritt, dafür aber war sie etwa eine Meile lang. Diese mit üppigem Pflanzenwuchs über-wucherte Landzunge erwählten wir zu unserem Wohnplatz. Wir säuberten einen Teil des Bodens von Unkraut und Unterholz und errichteten unsere Hütten auf der dem See zugekehrten Seite. Die Örtlichkeit bot Schutz vor den Augen ungebetener Gäste, außerdem ließ sie sich gut verteidigen. Als wir schließlich an den beiden Enden der Halbinsel Wachen aufgestellt hatten, konnte wirklich niemand gegen unseren Willen vom Land her in unsere Siedlung gelangen. Da es die Indianer liebten, allen Dingen einen Namen zu geben, so benannten sie die neue Siedlung Kumaka, was in ihrer Sprache Halbinsel bedeutet. Wenn wir in den Urwald gelangen wollten, mußten wir den See überqueren, der an dieser Stelle vielleicht zweihundert Schritt breit war. Zum Itamaka selbst war es etwas weiter, man mußte mit dem Boot das Ufer der Landzunge entlangfahren, um dann über die Mündung des Sees in das freie Wasser des Flusses zu gelangen. Der See — dieser Name war eher gerechtfertigt als die Bezeichnung Bucht — bot ein über alle Maßen schönes Bild, er war gerade-zu eine Augenweide. Zwar gab es hier, wie überall, das erbarmungslose, undurchdringliche Dickicht, welches das Ufer verdeckte und sich wie eine drückende grüne Mauer erhob. Aber in dieser hohen Mauer klafften große Lücken. Wie goldene Bänder quollen aus ihnen gleißende Sandstreifen hervor, die sich ins Wasser ergossen und auf denen schlanke Palmen ihre Fächer ausbreiteten. Bis hierher, fast hundert Meilen vom Meer entfernt, war eine der reizenden Töchter des Salzwassers und des Seesandes, die prächtige Kokospalme, vorgedrungen. Man hätte glauben können, man sei im Paradies, wenn nicht die fürchterliche, quälende Mückenplage gewesen wäre. Die neu entstandene Siedlung behielt die Sippeneinteilung von Serima bei, und die einzelnen Sippen errichteten ihre Hütten dicht nebeneinander, so daß verschiedene Teilsiedlungen entstanden. Es gab die Sippe der Schildkröte, des Geiers, des Kaimans und andere. Obgleich ihre bisherigen Ältesten alle in Serima bei Ko-neso geblieben waren, versammelten sich doch gleich am Abend des ersten Tages die Einwohner aus ganz Kumaka in der Nähe meiner Hütte, um eine Beratung abzuhalten. Beim Schein von mehr als zwanzig Feuern, zwischen den Stämmen mächtiger Urwaldriesen, deren Wipfel sich über unseren Häuptern zu einem dunklen Gewölbe vereinigten, wählte sich jede Sippe einen neuen Ältesten. Nach dieser Zeremonie kam die Reihe an die Wahl des Oberhäuptlings. Stürmisch und begeistert wurde immer wieder der Name Weißer Jaguar gerufen. Ich aber widersetzte mich diesem Vorschlag ganz entschieden. „Niemand ist besser geeignet, den Platz des Oberhäuptlings einzunehmen, als euer Stammesbruder und bewährter Häuptling Manauri!” rief ich aus. Meine Ablehnung brachte einen großen Teil der Arawaken aus der Fassung. Sie legten meine Zurückhaltung verschieden aus, und der Älteste der Kaiman-Sippe schrie mir entgegen: „Soll das heißen, daß du uns in diesem schweren Augenblick nicht mehr beistehen willst?” „Aber nein! Ich werde Manauri stets zur Seite stehen und ihn aus ganzen Kräften unterstützen, ihn und jeden andern von euch.” „So wie bisher?” „Genau wie bisher.” Sie beruhigten sich wieder und wählten Manauri einstimmig zu ihrem Oberhäuptling. Die Augen des Häuptlings strahlten vor Freude und Glück, seine Züge drückten Genugtuung und Zufriedenheit aus. Nun hatten sich seine kühnsten Hoffnungen erfüllt, von denen noch vor einem Jahr der Sklave auf der Insel Margarita nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Manauri sah zu mir herüber, in seinem Blick lagen Ergebenheit und tiefe Dankbarkeit. An diesem Abend waren alle von großer Begeisterung erfüllt, und die folgenden Tage zeigten, daß es kein Strohfeuer war. Vor den Einwohnern Kumakas standen drei Hauptaufgaben: die fiebrige Seuche abzuwehren, möglichst große Vorräte an Nahrungsmitteln anzulegen und die Kampfbereitschaft zu erhöhen. Alle unterzogen sich diesen Pflichten mit unverwüstlicher Ausdauer und Arbeitslust. Ich erwähnte bereits, daß die Arawaken unter den Waldindianern ein ausnehmend gelehriger und arbeitsamer Stamm waren. Man mußte ihnen nur einen Leitgedanken geben und ein klares Ziel stellen, dann entwickelten sie unerwartete Spannkraft und Härte. So verhielt es sich auch jetzt. Gegenüber Serima bewahrten sie so große Vorsicht, daß sie sogar auf die urbar gemachten Felder in der Nähe ihres alten Wohnsitzes verzichteten, um nicht mit den dortigen Menschen zusammenzutreffen. Um so eifriger ging jeder, der laufen konnte, in den Wald oder ans Wasser und brachte Nahrungsmittel mit. Und wir benötigten ungeheure Vorräte. In der Erwartung kriegerischer Ereignisse hatte sich Kumaka die Aufgabe gestellt, schnellstens so viele Vorräte an getrocknetem Fleisch, Fischen und dauerhaften Waldfrüchten zusammenzutragen, daß einhundertfünfzig Krieger sich länger als ein halbes Jahr davon ernähren könnten. Tag für Tag zogen Abteilungen in den Wald oder an den Fluß auf die Jagd und kehrten mit reicher Beute zurück, die sie den Frauen zur weiteren Bearbeitung übergaben, während die Jäger selbst wieder hinauszogen, um sich in den Kampfübungen zu vervollkommnen. Als gute Ackerbauer waren die Arawaken von Natur aus nicht kriegerisch veranlagt, und man mußte sie kräftig anspornen. Das, was ihnen fehlte, holten sie mit Begeisterung nach. Die letzten Vorfälle mit den Spaniern wirkten wie eine treibende Kraft und hatten sie so aufgestachelt, daß jeder ein möglichst guter Schütze mit Büchse und Bogen, ein gewandter Speerwerfer sein und in den Armen die federnde Kraft des Jaguars besitzen wollte. Die Angehörigen unserer Sippe, die in dem Ruf standen, ruhmreiche Meister und unbesiegbare Krieger zu sein, unterwiesen ihre Gefährten in der Kriegskunst. Besonders Arnak und Wagura waren vom Morgengrauen bis zum späten Abend so eingespannt, daß sie keinen Augenblick verschnaufen konnten. Trotzdem waren sie glücklich. Ich selbst führte die Oberaufsicht und stellte eine Truppe von Kundschaftern zusammen, in die ich die scharfsichtigsten und flinksten Burschen aus jeder Sippe aufnahm. Diesen Spähern brachte ich bei, was ich in Virginia gelernt hatte. Ich lehrte sie, wie man im Wald einen Feind entdecken, ihm nachspüren und seine Absichten erkennen kann, ohne selbst gesehen zu werden. Dies geschah nicht durch Erklärungen, wie zum Beispiel beim Schießunterricht mit Feuerwaffen, sondern wir unterhielten uns ungezwungen und tauschten während unserer häufigen Wanderungen durch den Urwald unsere Erfahrungen aus, wobei jeder einzelne den Gefährten Erlebnisse berichtete, die ihm von früher her in Erinnerung waren. Da die Indianer von Kindheit an mit den Geheimnissen der Natur vertraut waren und ungewöhnlich scharfe Sinne besaßen, brachten sie es bald zu einer Vollkommenheit in diesen Dingen wie die Indianer im Norden. Dabei wurden sie von einem abscheulichen Übel geplagt, das immer wieder ihre klaren Gedanken verwirrte. Es war ihr verworrener Aberglaube. So viele Geister und Dämonen trieben im Wald ihr Unwesen und hinterließen die eigenartigsten Zeichen, daß es schwerfiel, in dem Durcheinander die Spuren der wirklichen Feinde aus Fleisch und Blut zu erkennen. Meine Hauptaufgabe bestand also darin, ihnen zu zeigen, wie sie die Spuren tatsächlicher Feinde von denen der eingebildeten unterscheiden könnten. So vergingen die Tage, und die aus Serima durchsickernden Nachrichten brachten nichts Besonderes, von einem Unglück war nicht die Rede. Wie die Menschen nun sind, begannen sie von einem falschen Wahrsager zu faseln und von einer überflüssigen Übersiedlung an den Potarosee. Meine Freunde überzeugten die Zweifler, daß es jedenfalls besser sei, so weit wie möglich von Karapana und Koneso zu leben, um so mehr, als Kumaka dank seiner Lage auf der Halbinsel besonders gut zu verteidigen war. Tatsächlich verstummten bald darauf die Gerüchte wieder, und eines Tages — es mochte ungefähr zwei Wochen nach unserer Ankunft in der Siedlung sein — erreichte uns die Nachricht, in Serima seien mehrere Kinder von einer geheimnisvollen Krankheit befallen worden. Einzelheiten, die wir am nächsten Tag erfuhren, bestätigten leider, daß es ich um die Masern handelte. Hinzu kam, daß außer den Kindern auch einige Erwachsene erkrankt seien. Diese Nachricht löste eine verständliche Niedergeschlagenheit aus, und als einige Tage später der erste Todesfall bekannt wurde, warteten alle mit Schrecken darauf, was sich noch ereignen würde. Ich ließ die Wachen verstärken und erinnerte noch einmal daran, daß es verboten sei, sich Serima zu nähern. Alle Befehle wurden bereitwillig ausgeführt. Jetzt trafen seltener Nachrichten aus der unglücklichen Siedlung ein, doch war jede von ihnen noch schlimmer als die vorangegangene. Immer öfter holte sich der Tod seine Opfer, vor allem unter den kleinen Kindern. Die bittere Tatsache, daß meine vergeblichen Warnungen sich bewahrheitet hatten und die Menschen mir nun mehr Glauben schenkten als je zuvor, konnte mir keinen Trost bringen. Am meisten ging das Unglück Serimas Aripaj ans Herz. Der sonst ruhige, gutmütige, immer ausgeglichene Mann sah jetzt aus, als trage er selbst ein ungesundes Feuer in sich. Flackernd irrten seine Augen umher. Seiner Frau und den Kindern drohte keine Gefahr, sie lebten in Kumaka, um so verwunderlicher erschien mir das Gebaren des Indianers. „Was ist dir, Aripaj?” sprach ich ihn freundlich an, als wir uns am Ufer des Sees begegneten. Er war bestürzt und machte eine Bewegung, als wolle er davonlaufen, doch hielt ich ihn sanft zurück. Als ein gefälliger Mensch war er jedem bereitwillig zu Diensten, der ihn darum ersuchte, und seit dem gemeinsamen Unternehmen auf der Insel an der Mündung des Itamaka herrschte zwischen uns ein sehr herzliches Verhältnis. „Was hast du?” wiederholte ich besorgt. „Du siehst schlecht aus, mein Freund. Kann ich dir vielleicht helfen?” Er lächelte wehmütig und etwas spöttisch, um auszudrücken, daß ihm niemand helfen könne. „Du meinst also, daß ich dir ganz und gar nichtnützlich sein kann?’ „Nein, Weißer Jaguar.” „Was fehlt dir denn? Deine Wangen sind eingefallen.” „Nicht der Körper ist krank — es ist das Herz.” Er näherte sich meinem Gesicht, seine Kinnlade bebte wie im Fieber, seinem Mund entströmte ein übelriechender, saurer Dunst. „Dir, Weißer Jaguar, kann ich es verraten, was mir fehlt, du darfst es aber niemandem sagen: Mein Herz ist krank, ein Ka-naima sitzt in ihm und vergiftet meine Seele. Dieser schreckliche Kanaima läßt mich nicht schlafen, er verlangt nach Blut. . Während er dies sprach, begann er vernehmlich zu atmen, als ob er nur mühsam Luft bekäme. Die Augen weiteten sich schmerzhaft, und ich glaubte Spuren von Wahnsinn in ihnen zu entdecken. „Du redest Unsinn, Aripaj.” „Mag sein, daß ich unsinniges Zeug fasle, doch ist mein Geist noch klar, nur das Herz ist krank. Der KanaimaJ” Einen Augenblick herrschte Schweigen. Ich war bestürzt. Es wollte mir nicht gelingen, ihm eine scherzhafte Antwort zu geben; so lenkte ich das Gespräch in eine andere Richtung und fragte: „Man sagt, daß du in der letzten Zeit auffällig oft in der Nähe Serimas gesehen wirst... ” Er schrak zusammen. „Hat man mir nachgespürt? Ja, es stimmt. Der Kanaima zieht mich dorthin.” „Ausgerechnet nach Serima? Tu das nicht, halte dich zurück! Du bringst uns noch die Seuche auf den Hals.” „Ich muß nach Serima. Wegen eines Lumpen gehen die Menschen dort zugrunde. Welch ein Unglück! Der Kanaima...” „Hör zu, Aripaj, gib diesem Kanaima einen Fußtritt. Statt im Walde umherzustreifen, laß dich öfter in unserer Hütte sehen, wo wir uns unterhalten können.” „Ich kann nicht. Der Kanaima befiehlt mir, ihn zu töten. . .” „Wen?” „Du weißt es nicht?” Ernst betrachtete ich ihn. Erneut schwankte ich, wie ich diese sonderbare Mitteilung aufnehmen sollte, doch lag so viel Verwirrung in seinen Augen, daß ich zu schweigen beschloß. Aripajs Gehaben war mir ein großes Rätsel. Ich kannte ihn als gutmütigen Menschen voller Nachgiebigkeit, der sogar den Mord an Kanaholo, seinem Sohn, demütig und beherrscht hingenommen hatte — und jetzt? Was mochte in seinem Innern gären? Ich sprach mit Manauri und den anderen Freunden über meine Besorgnis, und wir beschlossen, die Augen offenzuhalten und über Aripaj zu wachen. Arasybo nahm ihn in persönliche Obhut. Auch der Hinkende durchlebte manche Erschütterungen und Gemütsbewegungen und wurde öfter von einem eigenartigen Begeisterungstaumel er-faßt. In Kumaka gingen Gerüchte um, daß er geheimen Umgang mit Geistern habe und es verstehe, verschiedene Waldhebus vollständig seinem Willen zu unterwerfen. Den Schrecken, der den Spaniern an jenem denkwürdigen Tage in Serima in die Glieder gefahren war, erklärten sich viele Indianer aus dem Umstand, daß in dem Augenblick, als Arasybo seine Schüsse abgab, deutlich ein Raunen und Rauschen der Dämonen zu hören gewesen sei. Hier in Kumaka hatte sich Arasybo endgültig meines Jaguarschädels bemächtigt. Der Schädel thronte auf der Spitze eines Pfahles vor seiner Hütte, und der Hinkende benahm sich wie ein Zauberer und vollführte täglich rituelle Tänze um den Pfahl. Dabei schwenkte er in jeder Hand eine Maraka, das unerläßliche Symbol eines jeden Zauberers, und das durch die Steinchen im Innern der hohlen Frucht verursachte Rasseln fand magischen Widerhall in den Seelen der Einwohner Kumakas. „Tod für Karapana! Ich sage den baldigen Tod Karapanas voraus!” schrie Arasybo seine Beschwörungen in den verschiedensten Tonlagen nach allen Richtungen. Alle glaubten fest daran, daß nun der Tod dem Zauberer sicher sei, am überzeugtesten war Aripaj. Zauber hatte für ihn die gleiche Bedeutung wie für die Fische das Wasser und der Regen für das keimende Korn. Die Fluchworte Arasybos stiegen ihm in den Kopf und berauschten ihn. Obgleich er sich Mühe gab, nüchtern und zurückhaltend zu bleiben, war ihm nicht mehr zu helfen. Da wir keine Möglichkeit hatten, das Schicksal der Bewohner Serimas abzuwenden und ihnen beizustehen — wie sie sich während der Seuche verhalten sollten, hatten wir ihnen schon vorher mitgeteilt —, oblagen wir noch emsiger unseren täglichen Pflichten, und das Leben in Kumaka floß dahin wie ein eiliger Strom. Jeden Morgen zog ich mit der Kundschaftergruppe auf Übung aus, wobei wir uns meistens im Dickicht in der Nähe des Sees bewegten. Dieser monatelang von der Sonne angewärmte Streifen stehenden Wassers hatte eine bedeutend höhere Temperatur als das Wasser des Flusses. Das war wohl auch der Grund dafür, daß sich hier eine außerordentliche Fülle aller möglichen Tiere und Pflanzen zusammenballte. Es wimmelte von Fischen wie in einem Netz, ganze Scharen verschiedener Wasservögel zierten die Oberfläche des Sees mit ihrem bunten Gefieder oder durchschnitten in schnellem Flug die Luft, während junge Reiher und Strandläufer wie rot oder rosa gefärbte große Blumen ruhig am Rande des Ufergebüsches standen. Ergänzt und hin und wieder aufgewühlt wurde diese idyllische Üppigkeit der Natur durch widerwärtige Scheusale, die Kaimane, die der erstaunliche Reichtum an Fischen in besonders großer Zahl herbeilockte. Im Dickicht des Ufers sonnten sich viele Riesenschlangen, manche von ihnen waren bis fünfzehn Fuß lang und erschreckten den näher kommenden Menschen, indem sie blitzschnell davonglitten und sich mit einem mächtigen Klatschen ins Wasser fallen ließen. Die Indianer behaupteten, daß Menschen, selbst wenn sie badeten, von den Bestien nicht angegriffen würden, doch boten die Schlangen einen so abstoßenden Anblick und verkörperten eine so schreckliche Kraft, daß jede Begegnung mit ihnen Ekel in mir hervorrief. Ihr Fleisch war ein Leckerbissen für die Indianer, die ihnen eifrig nachstellten. Eines Tages führte ich eine Gruppe an das obere Ende des Sees. Wir waren ringsum von unübersehbarem Dickicht umgeben und übten uns darin, die zahlreichen Laute und Geräusche zu unterscheiden und ihren Ursprung festzustellen. Am besten konnten wir in dem allgemeinen Lärm die Stimmen und den Gesang der Vögel bestimmen; doch erkannten wir auch das eigenartige Quaken der Frösche, das Pochen des Spechts, die pfeifenden Töne der Affen, ja sogar die Geräusche der Schmetterlinge, von denen einige Arten während des Fluges ein sonderbares Knistern hören ließen. Plötzlich lauschten alle meine Gefährten, die Gesichter dem See zugewandt. Zwar blieb uns das Wasser durch den grünen Vorhang verborgen, doch klang von Zeit zu Zeit ein schlürfendes Schnaufen herüber, als ob dort jemand niese oder pruste. Die Indianer waren sichtlich überrascht, gerieten in immer größere Erregung und spitzten die Ohren. „Was ist das für ein Tier?” fragte ich. „Ich habe diese Laute noch nie vernommen.” „Ein Apia”, antworteten sie. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was für ein Teufel das sein könne — ein Apia, und die Beschreibung, die meine Gefährten mir gaben, klang sehr phantastisch. Es seien große Tiere, vielleicht Fische, vielleicht auch nicht, denn sie gebären lebende Junge. Sie lebten ausschließlich im Wasser, sie besäßen keine Beine, sondern nur Vorderflossen, und ihr Maul gleiche dem eines Affen. „Das sind ja äußerst absonderliche Wesen!” rief ich verwundert aus. „Sind es Raubtiere? Kann man sie essen?” „Es sind keine Raubtiere. Sie sind sehr wohlschmeckend”, versicherten alle einmütig. Wir bewegten uns auf den See zu. Die Indianer drangen geräuschvoll vorwärts, sie achteten weder auf das Brechen der Zweige noch auf das Rauschen der Blätter, weshalb ich sie mehrmals ermahnte. „Hier ist keine Vorsicht nötig’, erklärten sie mir. „Der Apia hört schlecht und sieht nicht sehr viel.” „Das tut nichts”, erwiderte ich. „Vergeßt nicht das Gesetz des Waldes, daß man sich an das Wild immer heranschleichen muß — immer! Genauso wie im Kampf an den Feind.” Der See endete in einem breiten, verschilften Bruchmoor, auf dem reichlich Wasserpflanzen gediehen, die zur Lieblingsnahrung jener Apias gehörten, wie mir die Gefährten erläuterten. Die sonderbaren Tiere lebten hier in einer ganzen Herde, und alle Augenblicke schwamm eines von ihnen an die Oberfläche und steckte seine Nase aus dem Wasser, um Luft zu schöpfen. Dabei ließ es jenes kennzeichnende schlürfende Schnaufen hören. Unweit von uns lag ein Apia in tiefem Schlaf, den Körper zur Hälfte auf dem trockenen Ufer. Ich erkannte, daß dieses Tier in der Form des Körpers und der Schnauze sehr unseren Seehunden ähnelte, nur lebte es im Süßwasser und war bedeutend größer. Einige Apias waren vom Kopf bis zum Schwanz an die neun Fuß lang. Ohne die Herde aufzuscheuchen, kehrten wir in die Siedlung zurück und berichteten über unsere Entdeckung. Der Rest des Tages verging mit den Vorbereitungen für die Jagd, die für den nächsten Morgen angesetzt wurde. Als der Morgen graute, waren wir bereits auf den Beinen. Alle in Kumaka verfügbaren Boote, sowohl die großen Itauben als auch die kleinen aus der Rinde des Jabotabaumes gefertigten Fahrzeuge, waren mit etwa zweihundert Jägern bemannt. Wir glitten langsam über das Wasser, gleich von Anfang an in einer Art kriegerischer Formation, als ginge es in den Kampf. An der Spitze fuhren zwölf oder fünfzehn Itauben, eng nebeneinander liegend; in Speerwurfweite folgte die zweite Flottille von mehr als zwanzig Booten, gleichfalls in einer geschlossenen Reihe. Ich stand mit Lasana in einer Itauba neben dem Neger Miguel und Manauri. In der Hand hielt ich den Bogen und einen Pfeil, der eigens für die heutige Jagd hergerichtet worden war. Dieser glich einer Art Harpune und war so verfertigt, daß sich nach seinem Eindringen in den Körper des Opfers eine Schnur entrollte, an deren Ende ein Stückchen leichten Holzes befestigt war. Das verwundete Tier zog, wenn es tauchte, die Schnur mit dem Schwimmer hinter sich her. Dem Jäger fiel es dann nicht schwer, die Beute einzuholen und zu erlegen. Miguel, der als der beste Werfer galt, besaß keinen Bogen, sondern richtige Harpunen. Als wir den Standplatz der Apias erreichten, stieg die Sonne bereits über den Wipfeln des Urwalds empor und sog die Nachtfeuchte auf. Schon von weitem entdeckte ich einige Langschläfer, die ähnlich sorglos am Ufer lagen wie das Tier, das ich gestern beobachtet hatte. Die Mehrzahl der Apias aber tummelte sich in der Tiefe des Sees und tat sich an den Wasserpflanzen gütlich. Nur durch Wasserwirbel, die bald hier, bald dort aus der Tiefe emporstiegen, und durch ihr schnaufendes kurzes Atemholen verrieten sie ihre Anwesenheit. Die lange Reihe der sich heranpirschenden Fahrzeuge bot einen prächtigen, aber unheilverkündenden Anblick. Unbeweglich wie Statuen, die Augen auf das Wasser gerichtet, standen die Jäger bereit, ihren Pfeil abzuschießen oder mit dem Speer zuzustoßen, während die Ruderer immer vorsichtiger die Blätter ins Wasser tauchten. Alles das geschah unter tiefstem Schweigen. Mir gefiel die Disziplin der Indianer, und ich war überzeugt, daß im Ernstfall jeder von ihnen seine Pflicht erfüllen werde. Als wir uns bis auf hundert Schritt dem Ufer genähert hatten, geriet die bisher schnurgerade Linie der Jäger an einer Stelle in Unordnung. Der rechte Flügel stockte. Dort hob einer der Speerwerfer blitzschnell den rechten Arm und schleuderte seine Waffe mit voller Kraft. Der Speer verschwand mit einem dumpfen Geräusch im Wasser und mußte sein Ziel erreicht haben, denn vor dem Boot begann das Wasser zu wirbeln und zu schäumen. Als habe diese erste Bewegung den Bann gebrochen, wurde es plötzlich auch in den übrigen Itauben lebendig. Unser Nachbar zur Linken schoß einen Pfeil nach dem andern ab. Auch kurz vor mir tauchte die borstige Schnauze eines Apias empor, um nach kurzem Luftholen wieder in der Tiefe zu verschwinden. Als das Tier untertauchte und sein Körper dicht unter der Oberfläche einen Halbkreis beschrieb, schoß ich den Pfeil ab. Er bohrte sich in den fetten Bauch des Ungetüms, das gleich darauf meinen Augen entschwand. Bald jedoch hatte sich die Schnur abgewickelt, und mein roter Schwimmer tauchte auf. Er bewegte sich zunächst auf das Ufer zu, machte dann plötzlich kehrt und durchbrach unweit unserer Itaube die Linie der Jäger, fiel aber wenig später der zweiten Linie in die Hände. Die Schnur wurde ergriffen, das Tier herangezogen und erstochen. „Gut’, flüsterte Lasana mit bebender Stimme. Sie verbarg ihre Erregung nicht. Sie war stolz auf mich. Die getroffenen Apias warfen sich nach allen Seiten und riefen ein fürchterliches Chaos hervor, in dem die aufgescheuchten unverletzten Tiere zu entkommen versuchten. Die einen schwammen auf das Schilf zu, die andern trachteten die Mitte des Sees zu erreichen. Da sie jedoch jeweils schon nach einigen Minuten auftauchen mußten, um Luft zu holen, und überall Boote mit unerbittlichen Schützen auf sie lauerten, hatten sie es nicht leicht, der Treibjagd zu entrinnen. Immer mehr farbige Schwimmer, unheilvolle Vorboten des Todes, zogen über die Oberfläche des Sees, und entlang ihrer Bahn färbte sich das Wasser blutig rot. Der Jagdtrieb der Urmenschen hatte die Oberhand in meinen Gefährten gewonnen, ihre Augen blitzten, ihre Muskeln waren gespannt, ihre Bewegungen ungestüm. Den größten, geradezu überwältigenden Eindruck aber machte auf mich, daß sich dieses Drama der entfesselten Instinkte in völligem Schweigen abspielte. Niemand sprach ein Wort, keiner ließ triumphierende Schreie hören, und auch die Tiere gaben keinen Laut von sich, wenn sie verendeten. Es war ein stummer Kampf. Als nach einer reichlichen Stunde die Jagd zu Ende ging, war es nur wenigen Tieren gelungen, sich unversehrt in die Mitte des Sees zu retten. Wir gingen daran, die Beute am Heck der Boote zu befestigen. Manche Exemplare mochten ein Gewicht von fünf bis sechs Zentnern erreichen. Wir zogen die toten Apias in das seichte Wasser in der Nähe des Ufers, um leichter mit der Arbeit fertig zu werden, doch stellten sich dabei völlig unerwartete Schwierigkeiten ein. Das Blut der getöteten Tiere hatte eine Unmasse Fische einer räuberischen Gattung angelockt, die zwar nicht groß waren, ihre Länge betrug kaum mehr als einen halben Fuß, sich aber trotz ihrer kleinen Gestalt durch eine unvorstellbare Freßgier auszeichneten. Die Arawaken nannten sie Humas. Ihre Zähne waren scharf wie Messer. Im Handumdrehen rissen sie ansehnliche Fleischstücke aus dem Körper des Opfers, verschwanden eilig und machten den nächsten das Feld frei. Sie waren so verwegen, daß sie auch den Menschen angriffen, und man vermochte sich ihrer nur zu erwehren, indem man sie mied wie das Feuer. Diese kleinen Ungeheuer also kamen zu Hunderten angesaust und stürzten sich so gierig auf die Körper unserer Apias, daß das Wasser ringsum in Wallung geriet. Wir versuchten sie mit Stökken zu vertreiben, doch hatten wir keinen Erfolg damit, auch die Schläge konnten sie nicht davon abhalten, gierig nach der Beute zu schnappen. Wurden ein oder zwei der Räuber durch Stockhiebe betäubt, so drängten zehn andere herbei. Ihre unwahrscheinliche Verbissenheit wirkte geradezu gespenstisch auf mich. Ein Huma, kaum größer als eine halbe Elle, wurde lebend ins Boot geschleudert. Ich wollte ihn ergreifen und seine fürchterlichen Zähne aus der Nähe betrachten. „Rühre ihn nicht an”, warnte mich Manauri eindringlich. „Diesen Bestien ist nicht zu trauen. Auch an der Luft schnappen sie noch zu. Sie haben schon manch einem den Finger abgebissen!” „Und in diesem See soll man baden?” Mich schauderte. „Man muß sich in der Nähe des Ufers halten. Außerdem sind die Humas nicht überall, und nur wenn sie Blut wittern, sind sie so wütend. Erwischen sie einen Menschen weiter ab vom Ufer, so ist er verloren.” Die Landschaft ringsum bot einen lieblichen Anblick, majestätisch und anmutig grüßten die Palmen vom Ufer, sogar die fügsamen, ochsenplumpen Apias konnte man als Fabelwesen, die einem Märchenparadies entstammten, hinnehmen, und nun tauchte plötzlich diese geheimnisvolle Gefahr auf, diese grenzenlose, unbezähmbare Freßgier, daß einen der Ekel schüttelte. Als es uns endlich gelungen war, die Humas zu vertreiben, banden wir die Beute an die Boote und schleppten sie nach Kumaka. Neunzehn erlegte Apias, damit war die ganze Siedlung auf viele Wochen mit Fett und getrocknetem Fleisch versorgt. Die Frauen hatten mehrere Tage alle Hände voll zu tun. In dieser Zeit des Überflusses bereitete uns Aripaj großen Kummer. Der Kanaima, den er in sich vermutete, raubte ihm allmählich den Verstand. Der arme Teufel fühlte sich in der Gewalt einer abscheulichen Macht und verlor die Herrschaft über sich selbst. Sein Benehmen wurde immer absonderlicher. Zuletzt verließ er seine Familie und irrte geistesabwesend im Urwald umher. Er ließ sich nicht mehr in Kumaka sehen, sondern verbrachte nun auch die Nächte in der Wildnis. Jedoch hielt er sich ständig in der Nähe auf, denn unsere Jäger und Früchtesammler bekamen ihn öfter zu Gesicht. Immer mehr ähnelte er in seinen Gewohnheiten einem wilden Tier, er gestattete niemandem, sich ihm zu nähern, stieß unverständliche Schreie aus, drohte mit der Faust und plärrte den Namen Kanaimas. „Retten wir ihn”, drang ich in die Freunde. „Holen wir ihn nach Kumaka, wenn es sein muß, mit Gewalt.” „Das können wir nicht tun”, erwiderte Manauri. „Er geht dauernd nach Serima. Vielleicht hat er sich angesteckt.” „Weißt du genau, daß er dorthin geht?’ „Ganz genau, Jan!” So konnte natürlich keine Rede davon sein, ihn nach Kumaka zu bringen, im Gegenteil, man durfte ihn überhaupt nicht auf unsere Halbinsel lassen. Die Freunde nahmen die Nachrichten über seine traurige Krankheit mit geduldigem Verständnis auf und erklärten mir den Grund für diese Erscheinungen. Diese Art Wahnsinn war ihnen gut bekannt, die Waldindianer wurden oft davon befallen. Besonders dann, wenn ihnen ein großes Unrecht widerfahren war, suchte der Rachegeist sie heim, verwirrte ihnen die Sinne und wich nicht eher aus ihnen, bis sie ihre Leiden im Blut des Schuldigen ertränkt hatten, sofern nicht der andere sie vorher ums Leben brachte. Erst wenn die Rache ausgeführt war, wurden sie wieder normale Menschen. Aripaj mußte den Zauberer Karapana töten, deshalb irrte er vom Wahnsinn besessen umher. „Und wenn nicht er den Zauberer tötet, sondern der Zauberer ihn?” wandte ich beunruhigt ein. „Das hängt vom Kanaima ab, dagegen kann man nichts tun.” In der Tat gab es für uns keine Möglichkeit, Aripaj zu helfen. Er kreiste wie ein Geier um Serima. Dort sah es sehr schlecht aus. Der größte Teil der Einwohner war an den Masern erkrankt, der Tod wütete, besonders die Kinder fielen ihm zum Opfer. Leid und Bitterkeit bedrückten die Herzen derer, die noch gesund waren. In ihrer Verzweiflung und Wut stießen sie immer lautere Verwünschungen gegen die Stammesältesten aus. Aripaj hörte sich ihre Klagen und Flüche an und stachelte sie noch mehr auf. So lagen die Dinge, als ich ein unheimliches Erlebnis in unserem verteufelten See hatte und um ein Haar ertrunken wäre. Die Hölle mußte diesen Wasserstreifen geschaffen haben. Wieviel rätselhafte Geschöpfe hielt er noch verborgen? Der Grund des Sees war dunkel und schlammig, nur an einer Stelle blinkte ein schmaler, kaum fünfzig Schritt breiter Sandstreifen im seichten Wasser. Diese Stelle befand sich in der Nähe von Kumaka, und so gingen wir öfter dorthin baden. Die zahlreichen Kaimane der Potarobucht ließen uns ungeschoren, und da wir uns niemals erdreisteten, die Untiefe zu verlassen und weiter hinauszuschwimmen, kam es auch zu keinen unliebsamen Begegnungen mit den räuberischen Humas. Am Übergang des sandigen Untergrundes in die dunkle Tiefe reichte mir das Wasser kaum bis an die Brust. Gern tummelten wir uns am Rande des Sandstreifens und genossen das erfrischende Bad. Eines Morgens plantschten wieder einige von uns im Wasser. Plötzlich vernahm ich aus dem Munde Pedros, der ganz in meiner Nähe war, ein gedämpftes Stöhnen. Als ich mich nach ihm umdrehte, gewahrte ich, daß sich auf seinem Gesicht Bestürzung und Schmerz malten. Gleich darauf sackte er zusammen und fiel ins Wasser. Das erschien mir völlig unnatürlich, denn die Tiefe betrug höchstens vier Fuß. Ich eilte ihm zu Hilfe, und da ich ihn in dem klaren Wasser auf dem Grund liegen sah, erfaßte ich ihn am Haarschopf und zog ihn nach oben. Als sein Kopf an der Oberfläche des Wassers erschien, geschah mit mir etwas Fürchterliches. Ich fühlte plötzlich einen so starken und so schmerzhaften Schlag, daß ich einen Augenblick das Bewußtsein verlor. Der Schmerz saß überall, am schlimmsten wütete er im Innern des Körpers. Es schien, als ob mir mit Zangen die Eingeweide zerrissen und die Knochen gebrochen würden. Einen solchen lähmenden Schmerz hatte ich bisher nie kennengelernt. Bevor ich ohnmächtig wurde, glaubte ich im Wasser die schwarze Gestalt eines davonschwimmenden Fisches zu erkennen. Sollte er dies alles verursacht haben? Jetzt war ich es, der zusammensackte und unter der Oberfläche des Wassers verschwand. Verzweifelt versuchte ich mit den letzten Kräften, wieder emporzutauchen. In diesem Augenblick ergriff mich Pedro, dem die Besinnung zurückgekehrt war, am Arm, und ich fühlte, wie mir nach der erlittenen Erschütterung langsam die Kräfte zurückkehrten. Plötzlich jedoch warf mich ein neuer Stoß endgültig um. Diesmal war der Schmerz noch bedeutend größer als zuvor: etwas wie ein Wolfszahn riß an meinem Körper und schien ihn zu durchbohren. Ich glaubte, es sei der Tod, dann verließen mich die Sinne. Als ich zu mir kam, lag ich unter einer Kokospalme am Ufer des Sees. Gleichzeitig mit dem Bewußtsein erwachte das Schmerzgefühl in allen Gliedern, drückte gegen das Herz und würgte in der Kehle. In den ersten Minuten war ich unfähig, auch nur einen Finger zu rühren, dann wich die Lähmung langsam aus dem Körper, und auch der Schmerz begann zu schwinden. Rings um mich standen die Freunde, unter ihnen auch Pedro, der wieder munter war, und bekundeten ihre Freude, daß ich wieder zu mir kam. „Was war das?” flüsterte ich mit fremder Stimme. Meine Kehle war immer noch wie zusammengeschnürt. „Viel hat nicht mehr gefehlt, Jan. . .” Wagura lächelte. „Um ins Jenseits zu gelangen?” „Jawohl.” „Was für ein Scheusal hat mich so zugerichtet?” fragte ich. Die Freunde wurden ernst und deuteten auf den Boden. Vielleicht zwei Schritt neben mir lag ein Fisch. Er mochte etwas mehr als drei Pfund wiegen. „Der war es?’ Verwundert betrachtete ich die kleine Bestie. „Ja, der war es, ein Arimna.” Der Fisch, der in seiner Form an einen kräftigen Aal erinnerte, war von dunkelgrüner Farbe und besaß auf beiden Seiten des Körpers je eine Reihe gelber Flecke. „Wir haben ihn erschlagen”, rief Wagura frohlockend. „Und dich konnten wir nur noch mit Mühe lebend herausziehen.” „Aber er hat mich eigentlich gar nicht gebissen”, stellte ich verblüfft fest. „Es genügt, wenn er dich leicht berührt. Schon in dieser Berührung steckt eine höllische Kraft”, erklärte mein junger Freund nicht ohne Stolz. „Ist euch Spaniern dieser verfluchte Fisch bekannt?” wandte ich mich an Pedro. „Natürlich kennen wir ihn! In manchen Gewässern, besonders in sehr warmen, ist er ziemlich häufig. Es ist ein Temblador, die Indianer nennen ihn ,Entzieher der Bewegung'.” „Warum haben sie ihn nicht Höllendrachen getauft? sagte ich mit so grimmiger Miene, daß alle in lautes Gelächter ausbrachen: Da sich mein Zustand rasch besserte, waren wir guter Dinge, und schon eine halbe Stunde später vermochte ich, von den Freunden gestützt, auf eigenen Füßen den Weg nach Kumaka anzutreten. Die Schmerzen aber verschwanden erst nach zwei Tagen völlig. Seit dieser Zeit empfand ich beim Anblick des Sees heftiges Grausen und auch ein wenig Scheu. Durfte man sich wundern, daß die Indianer in dieser unheimlichen Natur, von der sie ständig umgeben waren, überall Spuren bösartiger Dämonen und blutdürstiger Gespenster zu entdecken glaubten, die als Nachkommen der menschenfressenden Gottheiten Piaima oder Ma-kunaima galten? Am Tag nach dem Erlebnis mit dem Arimna kehrten Manduka und seine Warraulen von der Verfolgung der Spanier zu-rück. Sie hatten keinen Mann verloren und waren alle zehn unverletzt. Manduka liebte Zeremonien und stellte gern die Disziplin seiner Krieger zur Schau: Bevor er ein Begrüßungswort sprach, ließ er die Warraulen in einer Reihe antreten und wartete vor meiner Hütte auf die Ankunft des Dolmetschers. Es gab in Kumaka außer Aripaj noch mehrere Arawaken, die ein wenig Warraulisch verstanden. Nachdem wir einen von ihnen herbei-gerufen hatten, berichtete Manduka, daß der Auftrag ausgeführt worden sei. Erbeutet wurden vier Büchsen, vier Pistolen und fünf Messer. „Wo habt ihr sie überrumpelt?” fragte ich. „Während der letzten Rast vor Angostura. Dort fühlten sie sich bereits so sicher, daß sie keine Wachposten mehr ausstellten.” „Ist es zu einem Kampf gekommen?’ „Wir haben sie ein wenig gerupft.” Manduka schüttete aus einem Säckchen vierzehn abgeschnittene Ohren auf die Erde, die paarweise zusammengebunden waren. Vier Paar Ohren stammten von Indianern, drei Paar waren von weißen Menschen. Die anwesenden Arawaken schnauften vor B ewunderung. „Ist Don Esteban dabei?’ Ich deutete auf die drei helleren Paare. „Nein.” „Haben sie gemerkt, von wem sie überfallen wurden?” „Nein.” „Was wollt ihr nun tun?” „Wir wollen so lange hier bleiben, bis wir schießen gelernt haben, und dann nach Kaiiwa zurückkehren, zu Oronapi.” „Gut. Ruht euch jetzt aus und eßt euch satt. Morgen beginnt die Arbeit.” Manduka zögerte, er hatte noch etwas auf dem Herzen. Ich sah ihn fragend an. „Bist du mit uns zufrieden, Weißer Jaguar?” In seinen Augen blitzte es fröhlich. „Blutvergießen, wenn es nicht in der Verteidigung geschieht, ist nicht nach meinem Geschmack. Doch muß man anerkennen, daß es euch nicht an Mut fehlt.” Als wir die Einzelheiten des Überfalls erfuhren, gewannen wir eine hohe Meinung von der Gewandtheit dieser kleinen Gruppe Warraulen. Im Schutze der Dunkelheit hatten sie fünf Gegner überwältigt, sie getötet und ihnen die Waffen abgenommen, bevor die übrigen etwas merkten und Lärm schlugen, und auch dann war es ihnen gelungen, zwei weitere Feinde zu erledigen, ohne selbst den geringsten Schaden zu erleiden. „Ich muß dir noch etwas mitteilen”, sagte Manduka zum Schluß. „Wir sind an Serima vorübergefahren. Dort ist irgend etwas los. Die Leute schrien und liefen hin und her, als schlügen sie sich.” Er hatte sich nicht getäuscht. Tatsächlich war es dort zu einem Kampf gekommen, ein Aufstand gegen die Ältesten war ausgebrochen. Die Häuptlinge hatten so lange bösen Wind gesät, bis sie nun den Sturm ernteten. Die bereits lange in den Arawaken gärende Verbitterung war übergeschäumt und hatte sich in Gewalt verwandelt. Koneso wurde übel zugerichtet und als Oberhäuptling abgesetzt. Auch seine Sippe erkannte ihn nicht mehr als Häuptling an. Ähnlich erging es Pirokaj, seinem Einflüsterer und seiner rechten Hand. Der größte Zorn aber richtete sich gegen den Zauberer Karapana. Die verzweifelte Menge schwor ihm Rache und beschloß, ihn zu töten. Der Gauner witterte aber rechtzeitig, was ihm bevorstand, floh in den Urwald und verbarg sich in einem niemand bekannten Versteck. Sicher rechnete er damit, daß sich die Wut des Stammes bald legen werde und die Menschen erkennen würden, welche Wahnsinnstat und Schändung des Heiligsten sie hatten begehen wollen. Und er hätte sich nicht verrechnet, wenn nicht Aripaj mit seiner bohrenden Wahnvorstellung gewesen wäre. Ihn, an dessen Seele das traurige Los des Stammes und das eigene Unglück in der Familie nagten, konnte nichts mehr zurückhalten. Die Sucht, den Zauberer zu töten, beherrschte ihn so sehr, daß er sich keine Ruhe gönnte und Tag und Nacht am Rande des Urwalds nahe Karapanas Hütte auf der Lauer lag. Und er lauerte nicht vergebens. Eines Nachts erschien der Zauberer. Es war vier oder fünf Tage nach der Rückkehr der Warraulen. Aripaj schreckte weder vor der Macht des Zauberers zurück noch vor der magischen Ehrfurcht, mit der sich Karapana umgab. Am nächsten Morgen wurde die Leiche des Zauberers gefunden. Aus seinem Hals ragte der Griff eines Messers. Daneben lag Aripaj, der in dem Kampf schwere Wunden davongetragen hatte. So war Karapana seinem Schicksal nicht entronnen, und die tragischen Ereignisse der letzten Tage sollten die ganze gewohnte Ordnung des Stammes verändern und dem Leben der Menschen am Itamaka eine andere Richtung geben. Der Mukuaritanz Als wir erfuhren, daß Aripaj schwer verletzt sei, eilten sofort vier Freiwillige nach Serima, um ihn vor möglicherweise auftauchenden Rächern in Sicherheit zu bringen. Auf einer Trage schleppten sie ihn nach Kumaka, doch hing sein Leben an einem dünnen Faden. Er war nur halb bei Bewußtsein, hielt die Augen geschlossen und schien mir abgemagert und zarter als sonst, vor allem aber war er sichtlich beruhigt. Nachdem seine blutige Aufgabe erfüllt war, hatten ihn die quälenden Dämonen verlassen, und eine tiefe Ruhe war in ihn eingekehrt. Auf seinen Zügen lag ein Ausdruck sanfter Ergebenheit, der geradezu ergreifend wirkte. Er blieb nicht in Kumaka, sondern wurde sofort weitergetragen. Die Freunde errichteten ihm an einer versteckten Stelle der Halbinsel eine Hütte, versorgten die Familie mit Nahrungsmitteln und überließen ihn der Fürsorge seiner Frau. Er sollte bis zu seiner Genesung in der Einsamkeit bleiben, damit er, falls die Masern in ihm steckten, die Krankheit nicht nach Kumaka einschleppte. Eine der wichtigsten arawakischen Zeremonien war der Mu-kuaritanz, der immer dann getanzt wurde, wenn ein Todesfall in der Sippe eingetreten war. Er diente dem Zweck, die Seele des Verstorbenen von den menschlichen Siedlungen fernzuhalten, damit sie den Lebenden keinen Schaden zufügen könne. Der Tod des Zauberers ging mehr oder weniger alle im Stamm an, weshalb auch in Kumaka beschlossen wurde, nicht von dem Brauch abzuweichen und den Mukuari zu tanzen. Gewöhnlich fand die Zeremonie möglichst bald nach dem Eintreten des Todes statt, doch diesmal mußte die Feierlichkeit verschoben werden; denn einer unserer Fischer hatte im Orinoko eine Insel entdeckt, auf der zu dieser Zeit Tausende der großen Flußschildkröten ihre Eier legten. Diese Nachricht brachte ganz Kumaka auf die Beine, denn Schildkröteneier gehören zu den beliebtesten Leckerbissen der Indianer. Man einigte sich daher, daß die Auseinandersetzung mit der Seele des Toten erst nach der Rückkehr von der Schildkröteninsel stattfinden werde. Fast die Hälfte der Einwohner Kumakas beteiligte sich an der Fahrt, ganze Familien waren darunter. Während der Legeperiode, die in dieser Gegend in die Monate Januar und Februar fiel, vereinigten sich die Schildkröten zu riesigen Herden, suchten eine entlegene, sandige Insel auf und verließen des Nachts den Fluß. Sie legten die Eier in Vertiefungen und bedeckten sie so geschickt mit Sand, daß die anderen Tiere, denen es nach dieser Spezialität gelüstete, nichts davon bemerkten. Oft schwammen die Schildkröten mehr als fünfzig Meilen weit, um auf dieser einen Insel das Schicksal ihrer Nachkommenschaft den wärmenden Sonnenstrahlen anzuvertrauen. Auf einer solchen Insel hatte der Fischer im Sand Spuren gefunden, die zu den Legestätten der Schildkröten führten, und nun brachen unsere Boote dorthin auf. Als die Jäger nach zwei Wochen zurückkehrten, verkündeten ihre freudigen Gesichter schon von weitem, daß die Expedition erfolgreich verlaufen sei. In der Tat füllte eine gelbe, gallertartige Masse zwei Jabotas fast bis zum Rand. Als ich diese Masse Eigelb erblickte, fuhr ich mir entsetzt an den Kopf. „Das sind bestimmt mehr als zweitausend Eier”, rief ich verwundert aus. „Ihr werdet die Schildkröten ausrotten, wenn ihr die Brut auf diese Weise vernichtet.” „Alle Stämme am Orinoko sammeln seit undenklichen Zeiten in jedem Jahr die Eier, und Schildkröten gibt es immer noch”, erklärte mir Mabukuli, der Häuptling der Sippe der Schildkröte, und zerstreute damit meine Bedenken. Es gab noch einen zweiten Grund zur Freude; und zwar hatte die Seuche in Serima ihren Höhepunkt überschritten. Als habe zwischen dem Zauberer und der Krankheit eine teuflische Verbindung bestanden, traten seit dem Tode Karapanas keine neuen Erkrankungen mehr auf. Die Kranken genasen langsam, und wenn auch noch einige Kinder starben, so ging doch die Seuche ganz offensichtlich zurück wie der Fluß nach einem Hochwasser. Die Menschen fühlten sich von Tag zu Tag kräftiger und schöpften neuen Mut. Den vierten Teil der erwachsenen Einwohner Serimas hatte die Krankheit dahingerafft, auch fast alle Kinder bis zu fünf Jahren waren gestorben. Am Rande Kumakas zog sich ein Hain aus Buritipalmen hin. Hier, unweit des Seeufers, sollte am dritten Tag nach der Rückkehr von der Schildkröteninsel die Mukuarifeier ihren Anfang nehmen. Ein ganzer Tag war dafür vorgesehen, und für das abschließende Festmahl wurden verschiedene Speisen aus Schildkröteneiern zubereitet sowie zahlreiche Gefäße mit dem unentbehrlichen Kaschiri aufgestellt. Im Morgengrauen dieses Tages wurde ich durch das dumpfe Dröhnen der Trommeln aus dem Schlaf gerissen, das aus verschiedenen Richtungen kam und viele Stunden lang nicht mehr verstummen sollte. Plötzlich erschien ein teuflisches Gespenst in meiner Hütte. Es trug eine Maske, die ein abstoßendes Scheusal mit Raubtierzähnen darstellte. Schweigend vollführte es schreckeinflößende tänzerische Bewegungen, als wolle es mir Angst einjagen. An dem leichten Hinken des linken Beines erkannte ich den Ankömmling. „Arasybo”, sagte ich, „reiße hier keine Possen!” Der Indianer hörte auf zu tanzen und nahm die Maske vom Kopf. „Der Weiße Jaguar läßt sich nicht betören.” Die Worte des Hinkenden drückten Anerkennung aus, gleich darauf fügte er mit geheimnisvoller Stimme hinzu: „Aber auch Arasybo ist heute nicht irgendwer.” „Weil er sich als Scheusal verkleidet hat?’ fragte ich und deutete auf seine Maske. „Deshalb nicht, beim Tanz verbergen alle ihren Kopf unter einer Maske. Ich bin aber heute der Vortänzer beim Mukuari, das ist eine große Ehre.” Erst jetzt gewahrte ich in dem häßlichen Gesicht einen verbissenen Ausdruck absonderlichen Stolzes. Der Indianer entnahm einem Säckchen, das von seinem Gürtel herabhing, zwei Marakas, jene Symbole der Herrschaft, die jeder Zauberer sein eigen nannte. Er schwang sie über seinem Kopf und versetzte sie in schnelle Bewegung. Die Steinchen in ihrem Innern rasselten scharf und herausfordernd. Genauso herausfordernd war der Blick Arasybos, den er aus seinen schielenden Augen auf mich heftete, während seine Beine fortwährend trippelnde Tanzschritte ausführten. „Oho!” Ich pfiff vor Verwunderung durch die Zähne. „So hoch hinaus willst du? Es gelüstet dich nach der Würde des Zauberers?’ „Die Arawaken haben ihren Zauberer verloren”, antwortete er in singendem Tonfall, ohne das Rasseln zu unterbrechen. „Die Arawaken brauchen aber einen Zauberer.” „Meinst du wirklich, Freund?” äußerte ich zweifelnd. „Sie brauchen einen, o ja, sie brauchen einen”, versicherte er und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. „Wer hat denn den bösen Zauberer, deinen Feind, getötet?” „Du?” „Wer hat die Hand Aripajs geführt? Wer hat den Schädel des Jaguars aufgestellt?” „Du? Das ist doch mein Schädel.” „Aber meine Hand hat ihn an der Stange befestigt. Und wer ist dein ergebener Freund, Weißer Jaguar?” „Du?” „Muß ich dir nicht dankbar dafür sein, daß du mich unter dem Geierberg in Schutz genommen hast, als die anderen mich allein zurücklassen wollten? Hast du nicht das kurze Bein des Hinkenden verlängert?” Den gleichen Ton anschlagend, fragte ich ihn fröhlich schmunzelnd: „Und wer hat Lasanas Kind vor dem Gift gerettet und meine Seele vor Schande bewahrt?” Arasybo ließ ein heiseres, krächzendes Lachen hören, legte die Marakas in das Säckchen zurück, stülpte sich die Maske über den Kopf und verschwand ohne ein weiteres Wort aus der Hütte. Offensichtlich hatte er sich am Morgen dieses für ihn so wichtigen Tages von meinem Wohlwollen überzeugen wollen. Kurz darauf brachte Lasana das Frühstück. Sie bewohnte mit ihrer Mutter und dem Kind eine Hütte dicht neben meiner Behausung, genauso wie es vorher bei Serima gewesen war. Als sie eintrat, schien es heller zu werden in meiner Hütte. Ich betrachtete sie in stummer Bewunderung. So hatte ich sie noch nie gesehen: Ihren nackten Oberkörper schmückten zahlreiche Schnüre, die mit bunten Früchten verziert waren, und leuchtendrote Gebinde duftender Blüten lagen um ihren Hals. Lasana war schlank wie kaum eine andere Indianerin. Ihre Taille war so schmal, daß zwei Männerhände sie beinahe umfassen konnten. Ihr Körper, der mit dem Öl verschiedener Pflanzen eingerieben worden war, verbreitete einen angenehmen Duft. Schwarze, in Kokosmilch gewaschene Haare umrahmten ihr Gesicht, in dem der wohlgeformte Mund zu einem lieblichen Lächeln erblühte, und der Blick ihrer Augen war einfach bezaubernd. Als die Sonne, die gerade über dem jenseitigen Seeufer aufgegangen war, die anmutige Gestalt Lasanas in rosiges Licht tauchte, empfand ich deutlich, daß die Indianerin nie so schön gewesen war wie am heutigen Morgen. Obgleich ich kein Wort sprach, konnte es einem Beobachter nicht schwerfallen, mein freudiges Entzücken zu bemerken. Lasana hatte die breitrandigen Blätter mit dem Frühstück niedergelegt, ging aber nicht hinaus. Mit erhobenem Haupt stand sie in der Mitte der Hütte und freute sich schweigend über den Eindruck, den sie auf mich machte. Ich brachte kein Wort heraus und fragte nur mit den Augen nach dem Grund dieser ungewöhnlichen Pracht. Sie hielt es nicht mehr aus und unterbrach das Schweigen. „Heute ist ein großer Tag für mich”, flüsterte sie. „Für dich auch?” platzte ich heraus. „Das ist schon der zweite Fall an diesem Morgen.” „Heute ist mein Festtag”, wiederholte sie ernst. „Doch nicht etwa wegen des Mukuari? Soviel ich weiß, nehmen keine Frauen daran teil, sondern nur die Männer.” „Nein.. . Ich ziehe um.” „Wohin, Lasana?” „In deine Hütte.” Ich sah ihr in die Augen. Es war keine Spur von Spott darin zu entdecken. Sie hatte es so ruhig und sicher ausgesprochen, als handle es sich um eine Kleinigkeit. „Gut. Das ist gut so.” Ich fiel in den gleichen sachlichen Ton. „Meine Hütte ist geräumiger als eure, sie bietet. . .” „Das ist es nicht’, unterbrach sie mich und schüttelte den Kopf. „Von heute abend an bin ich deine Frau.” „Hoho, sieh einmal an! So ganz im geheimen hast du die Anordnungen getroffen und niemand um die Zustimmung gefragt?” „Doch, ich habe gefragt.” „Wen, mich?” „Ich habe mit Manauri gesprochen. Er ist einverstanden.” „So, er ist einverstanden! Und ich? Mich braucht man nicht zu fragen, wie?” „Dich. . . Du hast doch . . . Ich dachte, Jan. . .” Sie war ratlos und geriet völlig aus der Fassung. Nun führte ich sie an der Nase herum und tat, als habe mich ihre Absicht äußerst überrascht. Mein verwundertes Gehaben mußte fast beleidigend wirken. Sie wußte sich dieses Benehmen nicht zu erklären. Allerdings war es nicht zum erstenmal, daß sie ihre ge- wohnte Sicherheit verlor. In ihren Augen zeigten sich Fünkchen aufsteigender Empörung. Endlich sprach sie: „Wenn du mir deine Hütte verweigerst, so kann ich ...” „Aber nein, ich bitte dich!” Ich heuchelte erbarmungslosen Spott. „Natürlich kommst du zu mir. Du kannst dann das Essen hier zubereiten und brauchst es nicht von draußen hereinzutragen. Das ist besser so. Eine senkrechte Falte auf der Stirn der jungen Frau zeigte an, daß ein Gewitter im Anzug war. Der ehrliche Zorn und das schmerzliche Empfinden, das ihr braunes Gesicht widerspiegelte, ließen sie nicht weniger schön erscheinen. „Mein Essen wird dir immer schmecken, du sollst bei mir nicht hungern”, erwiderte sie mit beleidigter Stimme, fügte jedoch angriffslustig und mit blitzenden Augen hinzu: „Und deine Söhne, Weißer Jaguar, die werde ich so füttern, daß stattliche Krieger aus ihnen werden. Wenn du es nicht glaubst, dann sieh her!” Sie schob die Blumengewinde zur Seite, die von ihrem Hals herabhingen, und deutete mit einer erregten Gebärde, die in ihrer Natürlichkeit und unschuldigen Anmut ergreifend wirkte, auf ihre gesunden, vollen Brüste. Ich brachte es nicht über mich, den Bogen noch weiter zu spannen. Mit einem Sprung war ich an ihrer Seite, lachte ihr zu und fuhr mit der linken Hand in ihr lockiges Haar. Ich schüttelte sie leicht und drückte ihre Wange an die meine. „Nicht erst heute abend wirst du meine Frau werden”, flüsterte ich. „Jetzt, von diesem Augenblick an will ich dein Mann sein!” Als ich sah, mit welcher unbeschreiblichen Erleichterung sie meine Worte aufnahm, fügte ich scherzend hinzu: „Aber eines mußt du mir versprechen: Über ernste Dinge werden wir stets gemeinsam entscheiden.” Im Palmenhain wurde für die Ältesten ein Toldo aufgebaut. Von hier aus konnte man, im Schatten des breiten Daches sitzend, den Verlauf der Festlichkeit gut verfolgen. Gegen Mittag machte ich mich in Gesellschaft Lasanas auf, um das Schauspiel zu ge- nießen. Nach den Gesetzen des Brauches war es Frauen nicht gestattet, sich dem Schauplatz zu nähern, doch ihr, die außergewöhnliches Ansehen genoß, standen auch außergewöhnliche Rechte zu. Jeder in Kumaka wußte bereits, daß heute „ihr” Tag war, und alle bedachten sie mit wohlwollenden und achtungsvollen Blicken. Der Mukuari war seit Stunden in vollem Gange. Dieser Tanz hatte nur wenig mit den üblichen Tanzzeremonien gemeinsam, und wenn auch die Teilnehmer nach dem dröhnenden Takt der Trommeln tänzerische Bewegungen ausführten, so bestand doch das eigentliche Wesen des Tanzes in etwas anderem, nämlich im gegenseitigen Austeilen von Schlägen. Die Tänzer trugen mannigfaltige Masken und schlugen während des Tanzens mit dornenbesetzten Ruten aufeinander ein. Das Ziel der Festlichkeit war klar: Einmal sollte die Seele des Toten besänftigt werden, indem ihr vor Augen geführt wurde, welch großes Leid dessen Hinscheiden Lebenden bereitet habe, zum andern — und das war das Hauptanliegen — sollten die ständigen Schläge die Seele von den Menschen fernhalten, falls sie diesen gegenüber böse Absichten hegte. Alle erwachsenen Männer mußten an dem Tanz teilnehmen der ohne Unterbrechung den ganzen Tag währte. Die sich windenden und schlagenden Ungeheuer vor Augen, den keinen Augenblick verstummenden aufpeitschenden Rhythmus der Trommeln im Ohr, war niemand fähig, sich dem Eindruck entziehen, den das Schauspiel hervorrief. Es riß alle Anwesenden mit wie ein Wirbel, beherrschte die Seelen und rief eigenartige Stimmungen wach. Die Menschen standen völlig im Banne des Geschehens. Nachdem ich lange den Tänzen zugesehen hatte, fragte ich Ma nauri, der neben mir saß: „Alle müssen den Mukuari tanzen? Gibt es keine Ausnahme?” "Nein! Alle, die dem Knabenalter entwachsen sind, müssen daran teilnehmen. Ich habe am frühen Morgen getanzt, gleich zu Beginn" „Und ich?” „Du, Jan?” Er überlegte. Unter dem Toldo saßen noch mehrere Älteste, Mabukuli, das Haupt der Schildkrötensippe, Jaki, der Häuptling der Arakangas, und Konauro, der Älteste der Kaimansippe. Sie begannen die Frage zu erörtern, ob ich verpflichtet sei, am Tanz teilzunehmen, oder nicht. Sie konnten zu keinem klaren Urteil gelangen. Zwar war die Seele des toten Zauberers mächtig gewesen, und er hatte alle Böswilligkeiten aufgeboten, um mich zu vernichten, doch hatten sich eben meine Zauber als die stärkeren erwiesen und ihn schließlich überwunden. Sollte mir die Seele des Zauberers jetzt noch gefährlich werden können? „Sie kann ihm nichts anhaben”, antworteten einige der Ältesten, die von meiner Macht überzeugt waren, andere wiegten den Kopf hin und her. Lasana, die hinter mir saß, verfolgte das Gespräch sehr aufmerksam, ohne selbst ein Wort zu sagen. Ich drehte mich um und richtete die Frage an sie: „Und du, was meinst du dazu?” „Es ist deine Pflicht, zu tanzen”, erwiderte sie ohne Zögern. „Du glaubst, daß seine Seele mir Schaden zufügen könnte?’ „Das glaube ich nicht. Seine schmutzige Seele kann dem Weißen Jaguar nichts anhaben”, erklärte sie mit Bestimmtheit. „Warum soll ich also tanzen?” „Um zu beweisen. . .”, sie schwieg einen Augenblick und suchte nach den geeigneten Worten, „daß du mit Leib und Seele zu uns gehörst.” Ein Murmeln der Anerkennung lief durch die Reihen der Ältesten, und einer sprach die lobenden Worte: „Eine kluge Frau!” „Also gut!” Ich war einverstanden und forderte Lasana auf, das Jaguarfell herbeizubringen. Nachdem sie zurückgekehrt war, streifte ich das Fell über und band mir eine Liane um die Hüfte, damit sich die Hülle während des Tanzens nicht vom Körper löse. Mein Kopf verschwand im Schädel des Jaguars, nur vorn verblieb eine kleine Öffnung für die Augen und den Mund. Man reichte mir eine starke Gerte, doch verlangte ich noch eine zweite für die linke Hand. „Gleich zwei ist auch gut’, willigte Manauri ein und belehrte mich: „Denke daran, je fühlbarer du einen triffst, um so besser und schützender ist es für ihn.” Die Tänzer wünschten mir sichtlich den „allergrößten Schutz”, denn kaum hatten sie am Fell des Jaguars erkannt, wer in ihren Kreis getreten war, als mich mehrere zugleich umsprangen. Ich hielt sie mir vom Leibe, so gut ich konnte, und bedachte diesen und jenen ärgerlich mit einem derben Streich. Dennoch empfing ich selbst genügend Prügel. Das Fell reichte mir nur bis zu den Waden, die Füße waren nackt. Die Indianer hatten meine schwache Seite bald entdeckt und vereinigten ihre Bemühungen nun auf diese Stelle. Um wenigstens einigen Hieben zu entgehen, sprang ich wie rasend nach allen Seiten, ohne dabei aus dem von den Trommeln angezeigten Takt zu fallen. Trotz des scheinbaren Durcheinanders verlief der Tanz in einer festen Ordnung. Die Tänzer bewegten sich in einem Kreis von etwa dreißig Schritt Durchmesser. Wer den Kreis einmal um-tanzt hatte, war seiner zeremoniellen Pflicht nachgekommen. Als ich daher wieder vor dem Toldo angelangt war, teilte ich wütend links und rechts die letzten Hiebe aus und brachte mich dann mit einigen großen Sprüngen in Sicherheit. Als wollten mir die Trommeln danken, verstärkten sie für kurze Zeit ihr Dröhnen und steigerten sich zu einem wahnsinnigen Tempo; dann kehrten sie zu dem gewohnten Rhythmus zurück, und ich nahm wieder meinen Platz unter dem Toldo ein. Alle spendeten mir Lob. Am glücklichsten war Lasana, sie war zutiefst bewegt. Meine Füße waren an vielen Stellen aufgerissen, auch auf der Wange klafften zwei tiefe Schnitte. Während die Risse an den Füßen von selbst zu bluten aufhörten, entfernte Lasana mit der Zunge so oft das Blut von meiner Wange, bis die Wunden eintrockneten. Als ich sie so betrachtete, wie sie sich besorgt zu mir herabneigte, schweiften meine Gedanken um einige Wochen zurück. Damals hatte sie das Schlangengift aus meiner Wunde gesaugt und mir das Leben gerettet. Plötzlich überkam mich ein so starkes Zärtlichkeitsgefühl für diese Frau, daß ich mich gewaltsam zurückhalten mußte, um sie nicht in den Arm zu nehmen und an mich zu pressen. In diesem Augenblick traten mehrere Indianer zu uns heran und fragten die Ältesten, wer nun die Stelle des Zauberers einnehmen solle. „Sobald der Mukuari beendet ist’, antwortete Manauri, „rufen wir alle Bewohner Kumakas zur Beratung und beschließen, wen wir als Zauberer haben wollen.” „Wir wissen bereits, wen wir haben wollen”, brüsteten sich die Krieger. „Wir wollen Arasybo.” „Wir müssen auch die Einwohner Serimas fragen”, gab der Oberhäuptling zu bedenken. „Es gibt niemand in Serima, der sich dafür so eignen würde wie Arasybo”, entgegneten die Männer überzeugt. „Wir wollen Ara-sybo. Oder hast du etwas gegen ihn, Manauri?’ Der Tanz hatte die Indianer erregt, sie waren erhitzt und eigensinnig. Manauri warf mir einen fragenden Blick zu. „Muß denn überhaupt ein neuer Zauberer gewählt werden?” fragte ich mit biederer Miene. „Auf jeden Fall, er muß gewählt werden”, versicherten alle. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, daß der Stamm keinen Zauberer haben solle. „Ich bin überzeugt, daß für uns, für die Sippe des Weißen Jaguars, ein Zauberer überflüssig ist”, sagte ich laut. „Ja, für unsere Sippe”, entgegnete Manauri und spitzte ein wenig die Lippen. Die Häuptlinge der übrigen Sippen nahmen diese Worte mit gemischten Gefühlen auf. Sie empfanden sie als überheblich, und Mabukuli, der Häuptling der Schildkrötensippe, sonst ein enger Freund Manauris, stellte diesem aufgeregt und angriffslustig die Frage: „Du bist also der Meinung, die anderen Sippen sind schlechter als eure?” „Nein, Mabukuli, sie sind nicht schlechter, aber unsere Sippe hat größere Erfahrungen. Sie mußte in der Sklaverei schwere Prüfungen bestehen und ist zu einer festen Gemeinschaft geworden, das kannst du nicht leugnen.” „Ich habe nicht die Absicht, das zu leugnen”, lenkte Mabukuli knurrend ein. Manauri sah wieder zu mir herüber und fragte mich dann: „Was meinst du also, Weißer Jaguar?” „Wenn der Stamm einen Zauberer haben muß, wie alle hier behaupten, dann kommt Arasybo als erster dafür in Frage , erklärte ich zur allgemeinen Befriedigung der Krieger. „Auch ich bin dieser Ansicht”, pflichtete mir Manauri bei. Froh, ihren Wunsch erfüllt zu sehen, liefen die Indianer auseinander, und kurz darauf wußte bereits ganz Kumaka, daß Arasybo der neue Zauberer des Stammes sein werde. Unter dem Toldo herrschte Schweigen. Aus dem Gesicht Ma-nauris war die Fröhlichkeit verschwunden, er machte einen müden Eindruck. Während er mit den Augen die Bewegungen der Mukuaritänzer verfolgte, schienen seine Gedanken sich mit Dingen zu beschäftigen, die weitab von dem Geschehen im Palmenhain lagen. Er verspürte einen Vorgeschmack von den Schwierigkeiten, die er auf dem dornigen Pfad des Stammeshäuptlings zu erwarten hatte. Nach einiger Zeit beugte er sich zu mir herüber und flüsterte: „Es hat schon begonnen. Arasybo lenkt die Menschen, wie er sie haben will.” Ich hörte das Klagende aus seiner Stimme heraus. „Arasybo bleibt dir treu”, erwiderte ich überzeugt. „Wie lange?” Um seine Mundwinkel spielte ein bitteres Lächeln. Wie ich schon einmal erwähnte, hinterließ der Mukuari bei allen, die diesem Tanz längere Zeit zusahen, einen tiefen Eindruck. Die Menschen unterlagen einer Art Betäubung und versanken in einen traumähnlichen Zustand des Nichtstuns, der süß und quälend zugleich war. Ich versuchte, die Ursache dafür zu er-gründen, und erkannte, daß der Mukuari auch ein berauschendes, zügelloses Spiel der prachtvollsten Farben darstellte. Masken und Gewänder der Tanzenden waren größtenteils aus Vogelfedern geflochten. Der ganze bunte Reichtum der Natur war auf diesem Tanzplatz eingefangen. Eine unbeschreibliche Fülle funkelnder Farbtöne wogte auf und ab und bezauberte Auge und Sinne der Menschen. Als ich meine Gefährten darauf hinwies und nicht mit bitteren Vorwürfen sparte, daß zur Versöhnung des toten Schuftes Kara-pana so viele schöne Vögel des Waldes ihr Leben lassen mußten, gaben mir die Ältesten mit aufrichtigem Bedauern recht, breiteten aber zum Zeichen der Ratlosigkeit die Hände aus, und Jaki, der Häuptling der Arakangasippe, erwiderte halb scherzend, halb ernst: „Wie du siehst, ist es eben das Los der Vögel, die Menschen zu Feinden zu haben.” „Die Menschen Feinde der Vögel?” rief ich verwundert aus. „So ist es.” Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Die Vögel haben sich schwer vergangen an den Menschen.” „Es ist sonderbar, was du da behauptest, Jaki!” „Es ist auch eine sonderbare Geschichte. Wenn du Lust hast, will ich sie dir gern erzählen.” Er kam näher heran und ließ sich unmittelbar vor Lasana nieder. Die Gedanken sammelnd, strich er sich mit der Hand über Mund und Kinn. Endlich begann er: „Wie du weißt, leitet sich unsere Sippe von den Arakangas ab, und du hast schon mehr als einen dieser Vögel gesehen und deren schönes Gewand bewundert. Es sind die größten unter unseren Papageien, ihr Gefieder ist scharlachrot wie frisches Blut, und ihre Flügel sind blau wie der strahlend weite Himmel. Dieser Vogel, das Zeichen unserer Sippe, gilt als der kühnste, und wie er seine Kühnheit bewies, das sollst du nun hören.” Und Jaki erzählte mir folgende Geschichte: „Vor langen, langen Zeiten war das Leben einfach, alle Vögel waren gleichmäßig grau gefärbt, und zwischen den Menschen und den Tieren herrschte brüderliche Eintracht. Alle lebten wie eine große Familie. Und doch gab es einen Feind, der dieses friedliche Leben bedrohte — eine riesengroße Wasserschlange, ein Untier mit wunderbar bunt gefärbtem Körper, das von einer unglaublichen Freßgier besessen war. Es verließ oft das Dunkel des Wassers, kroch auf das Land und richtete unter den Tieren und unter den Menschen schreckliche Verheerungen an, indem es alles auffraß, was ihm in den Weg kam. Eines Tages war das Maß des Leides voll, und es entstand der verzweifelte Gedanke, das Scheusal zu töten. Doch, wie schon gesagt, war die Schlange riesengroß und von unüberwindlicher Kraft. Wer sollte also als erster dem allgewaltigen Beherrscher entgegentreten? Dem Verwegenen winkte als Lohn die schöne, schillernde Haut des Untiers, doch hatte jeder Angst um seine eigene Haut und zögerte. Die Menschen verließen sich auf die Tiere, die Tiere auf die Vögel; alle gaben sich gegenseitig gute Ratschläge und spornten einander an, doch wollte keiner als erster zuschlagen. Es war eine Schande, diese Mutlosigkeit zu sehen und alle die feigen Ausflüchte anzuhören. Schließlich konnte der tapfere Arakanga die Schmach nicht mehr ertragen und meldete sich freiwillig. ,O Arakanga', kreischten die Adler und die Geier schmeichelnd, ,du hast einen starken Schnabel, dir wird es am ehesten gelingen, du bist ein Held!' ,Tapferer Arakanga', ließen sich die Menschen vernehmen, ,du erwirbst dir Ruhm für ewige Zeiten!' Sie schmeichelten seinem Stolz, priesen ihn himmelhoch, lobten und feierten ihn, damit er als erster die Schlange angreifen solle. Er wäre aber auch ohne die schönen Worte gegangen, denn er besaß ein tapferes Herz. Der Arakanga wartete einen Augenblick ab, in dem das Untier dicht unter der Oberfläche des Wassers schlief, nahm einen Pfeil in den Schnabel, der am Ende eines langen Strickes befestigt war, holte tief Luft, tauchte und stieß den Pfeil tief in den Körper des Würgers. Die am Ufer versammelte Menge begann aus allen Kräften an der Leine zu ziehen, und es gelang den Menschen tatsächlich, die Schlange ans Ufer zu bringen. Dort fielen sie in Haufen über den Feind her und töteten ihn. Als das Ungetüm zu ihren Füßen lag, blinkte seine Haut in allen Farben des Regenbogens, als wäre sie mit Edelsteinen besetzt. Alle betrachteten sie mit begehrlichen Blicken, am gierigsten waren die Menschen. Sie waren es, die trotz der Abmachung die Schlangenhaut für sich gewinnen wollten, und als der Arakanga seinen Lohn verlangte, fuhren sie ihn an: ,Du, ein Vogel, willst die schwere Haut dieser großen Schlange emportragen? Die überlasse uns, den Starken, und mach, daß du wegkommst!' Der Arakanga aber wollte nicht auf seinen Lohn verzichten. Er rief viele andere Vögel zu Hilfe, und mit vereinten Kräften konnten sie das tote Scheusal an eine entlegene Stelle entführen. Flüche und laute Racheschwüre der wütenden Menschen schollen hinter ihnen her. Die Vögel, die bis dahin, wie bereits bekannt, alle das gleiche graue Gefieder trugen, zerlegten die erbeutete Haut in lauter kleine Stücke, die gerecht verteilt wurden. Jede Gattung erhielt ein oder mehrere Teile, um sich damit auszustatten. Daher haben die Vögel ihr buntes Kleid, und der farbenprächtigste ist der Arakanga, weil er, wie er es verdient hatte, die schönsten Stücke der Haut erhielt. Die wütenden Menschen aber konnten ihren Zorn nicht vergessen und rächten sich lange Zeit an den Vögeln, indem sie diese auf Schritt und Tritt verfolgten. Auch heute noch, obwohl der Rachedurst inzwischen geschwunden ist, stellen die Jäger eifrig den Vögeln nach, und wenn sie einen erblicken, so ist ihr erster Gedanke, wie sie ihn erlegen können. So verhält es sich”, schloß Jaki seine Erzählung, deutete auf die bunten Federgehänge, mit denen die Masken der Tanzenden überzogen waren, und fügte hinzu: „Und hier, Weißer Jaguar, hast du die Nachkommenschaft jener heldenhaften und traurigen Ereignisse vor Augen: Die Vögel besitzen ein buntes Gefieder, und die Menschen töten die Vögel, wo sie können. Wir von der Ara-kangasippe, die den Vögeln zugetan ist, sind leider nicht imstande, die Menschen davon abzubringen." Jaki war ein guter Erzähler, und alle unter dem Toldo hörten ihm aufmerksam zu, obgleich ihnen die alte Fabel sicher nicht fremd war. Als er geendet hatte, fühlten wir uns angenehm belebt, und Manauri ließ Kaschiri bringen, um die Kehlen zu spülen. Das eigentliche Trinkgelage sollte erst am nächsten Tage beginnen, wenn der Mukuari vorüber war. Immer öfter betrachtete Manauri Lasana und mich mit eigenartigen beredten Blicken, wobei ein schlaues Lächeln seine Lippenumspielte. Schließlich sprach er: „Heute erleben wir den Festtag unserer beiden Freunde hier. Lasana hat mich aber inständig gebeten, diesen Tag so bescheiden wie möglich, ohne die üblichen Feierlichkeiten, verlaufen zu lassen — und ich habe zugestimmt. War es richtig, daß ich dazu meine Zustimmung gegeben habe?” „Du möchtest uns wohl gern der Ameisenprobe unterwerfen, wie?” rief Lasana spöttisch und herausfordernd. „Wenn auch nicht der Ameisenprobe, so doch einigen kleinen Zeremonien.” „Denke daran, Häuptling’, unterbrach sie ihn, „daß er fremd ist und unsere Zeremonien nicht für ihn geschaffen sind.” „Hast du nicht gesehen, wie er vor einer Weile selbst aufsprang und wie schön er den Mukuari tanzte? Er soll fremd sein?” Den Tanz hatte ich getanzt, fremd war ich nicht, das mußte sogar Lasana zugeben. Übrigens drängte Manauri nicht weiter und ging auf ein anderes Thema über. Er benahm sich etwas rätselhaft und erklärte, daß auch er uns mit einer Erzählung erfreuen möchte. Ohne Umschweife begann er: „Der große Jäger und Urvater der Arawaken, Makanauro, stellte einmal voller Empörung fest, daß ein verwegener Geier ihm stets das Wild aus den Netzen stahl. Da beschloß er, den Räuber zu bestrafen, und legte sich auf die Lauer. Als der junge Königsgeier wie gewöhnlich herbeigeflogen kam, um die sichere Beute zu fassen, sprang Makanauro aus seinem Versteck und ergriff ihn. Doch kaum hatte er den Vogel mit seiner Hand berührt, da verwandelte sich dieser in ein schönes Mädchen, das ihm liebreich zulächelte. Freudestrahlend nahm der Jäger die Gefangene mit sich und machte sie zu seiner Frau. Beide entbrannten in Liebe zueinander und waren glücklich. Obwohl sich Makanauro wie im Paradies fühlte, mahnte ihn nach einiger Zeit sein Gewissen immer stärker, daß er mit dieser Frau ohne Wissen und ohne Einverständnis ihrer Eltern lebe — so groß war schon damals die Achtung der Arawaken von den geheiligten Bräuchen und Grundsätzen. Da auch die Frau von großer Sehnsucht nach den Ihren erfüllt war, machten sie sich eines Tages auf den Weg in ihre Heimat. Die junge Frau des Jägers hatte nur noch die Mutter. Es war Akatu, die strenge Gebieterin über alle Königsgeier. Makanauro wurde an ihrem Hof nicht gerade freundlich empfangen und mußte schwer arbeiten, um sich das Herz der Schwiegermutter zu erkaufen. Er schaffte so viel Wild aus dem Wald herbei, daß alle Geier sich fettfraßen und ständig Gastmähler auf seine Kosten veranstalteten. Akatu genügte dies nicht, sie wollte den ihr widerwärtigen Schwiegersohn loswerden und forderte deshalb von ihm die Erfüllung mehrerer Aufgaben, die weit über die menschlichen Kräfte hinausgingen. Makanauro war aber nicht nur ein über alle Maßen geschickter und erfahrener Jäger, sondern auch ein Zauberer. So kam es, daß er auch den Auftrag erfüllte, in einem geflochtenen Korb Wasser aus dem Fluß herbeizutragen. Die Waldameisen eilten ihm zu Hilfe, verklebten die Öffnungen des Geflechts mit Lehm, so daß kein Tropfen Wasser herauslief Dann wurde ihm die Aufgabe gestellt, einen bestimmten Waldstreifen abzuholzen, und zwar in einer so kurzen Zeit, daß fünf starke Männer damit nicht fertig geworden wären. Er machte sich an die Arbeit, und da ihn wiederum verschiedene Tiere des Waldes unterstützten, die großen Käfer, die Igel, die flinken Spechte und viele Nagetiere, so erfüllte er auch diese Aufgabe. Schließlich befahl Akatu, er solle ein getreues Abbild ihres Kopfes schaffen, was unmöglich war, da sie in ihrer Hängematte lag und den Kopf ständig unter einer Decke verborgen hielt. Wiederum waren es die dem Jäger freundlich gesinnten Ameisen, die herbeieilten und Akatu am ganzen Körper fürchterlich zu beißen begannen. Als sie es nicht mehr aushielt und ungeduldig die Decke lüftete, konnte er ihr Gesicht erblicken und schnitzte es geschickt aus einem Stück Holz. Er erfüllte alle Verpflichtungen, die ihm als Schwiegersohn aufgetragen wurden, und er tat es gern, da er der Schwiegermutter das Recht zuerkannte, für die Tochter einen bestimmten Kaufpreis zu verlangen. Nun war den Gesetzen des Brauches Genüge getan. Akatu aber, die keine Möglichkeit mehr hatte; ihm die Tochter zu verwehren, konnte sich damit nicht abfinden und beschloß, ihn zu töten. Durch eine List lockten ihre Geier den Jäger in eine hohe Einfriedung, um ihn mit ihren Schnäbeln zu zerfleischen. Nur weil er sich im letzten Augenblick in eine Fliege verwandelte und unbemerkt davonfliegen konnte, kam er mit dem Leben davon. „Und seine schöne Frau? Konnte er sie mitnehmen?’ fragte ich. „Nein”, antwortete Manauri, „die war für ihn verloren. . . Diese Geschichte ist sehr lehrreich, denn sie führt uns nachdrücklich vor Augen, welche großen und ernsten Verpflichtungen ein Neuvermählter bei uns den Eltern des erwählten Mädchens gegenüber besaß und auch heute noch besitzt. . . und auch gegenüber den Ältesten ihres Stammes”, fügte er mit schalkhaftem Augenaufschlag hinzu. Es bedurfte keiner weiteren Anspielung, ich hatte den Sinn der Geschichte verstanden, und mir war klargeworden, daß ich verpflichtet sei, den Ältesten für Lasana ein Geschenk zu überreichen. Aber was für ein Geschenk? Was war das Wertvollste, das ich besaß? Mein Blick fiel auf die silberne, mit Edelsteinen ausgelegte Pistole, die in meinem Gürtel steckte. Ich zog sie heraus, überreichte sie Manauri und sagte: „Ich bitte dich, nimm sie! Leider besitze ich nichts Wertvolleres und wüßte nicht, was mir teurer wäre. Ich schenke sie dir gern.” Die Häuptlinge waren so überrascht, daß sie mit der Zunge schnalzten. Die Pistole war ein ungewöhnlich schönes Stück handwerklicher Kunst und von unschätzbarem Wert. Selbst Manauri war bestürzt, sein schalkhaftes Lächeln erstarb, sein Gesicht färbte sich dunkel vor Verlegenheit. Mit einer abwehrenden Bewegung wich er zurück. „Die Hand soll mir abfallen, wenn ich das von dir annehme!” rief er aus. „Und der arawakische Brauch? Die Pflicht des Neuvermählten?” erwiderte ich starrsinnig. Manauri richtete sich auf. Stolz, tadelnd und etwas aufgeregt erklärte er streng: „Du hast deine Verpflichtung schon lange erfüllt, und zwar mit Zinsen und Zinseszinsen! Du hast den Arawaken mehr gegeben als den hundertfachen Wert dieser prachtvollen Pistole.” „So viel?” Ich mußte lachen. „Du hast uns deine Freundschaft geschenkt.” „Und deinen weisen Rat und deinen starken führenden Arm”, beeilte sich Konauro zu versichern. „Nicht du schuldest uns etwas, sondern wir sind dir verpflichtet’, ergänzte Mabukuli. „Vielleicht werdet ihr noch behaupten, daß ein Mädchen zuwenig ist für mich”, rief ich scherzend. „Jawohl, ein Mädchen ist zuwenig”, pflichtete Manauri lebhaft bei. „Halt, halt!” widersetzte sich Lasana. „Ein schöner Oberhäuptling, der solchen Unsinn redet!” Wir lachten und waren alle guter Dinge. Ich schob die Pistole wieder in den Gürtel. Jaki gab zu erkennen, daß auch er etwas sagen wolle. Wir wandten uns ihm zu. Er maß den Oberhäuptling mit einem kritischen Blick und begann: „Alles ist richtig, was Manauri erzählt hat, nur das Ende dieser Ehe war ein wenig anders.” „Hat sich der Jäger nicht in eine Fliege verwandelt? Gelang es ihm nicht, zu entkommen?” „Doch, er hat sich verwandelt und ist auch entkommen. Aber etwas sehr Ernstes hat uns Manauri verschwiegen.” „So sag es schon, Jaki, was er verschwiegen hat!” „Die Sage berichtet, daß die schöne Frau den Jäger schändlich verraten hat. Sie unterlag den Einflüsterungen der Mutter und der übrigen Geier und war mit ihnen einig, daß er getötet werde. Oder war es nicht so?” „Es stimmt. Genauso war es”, bekannte Manauri. „Und erst hat sie ihn geliebt! So eine niederträchtige Schlange!” entrüstete ich mich zum Scherz. „So sind eure Frauen also?” „Ja, auch solche gibt es”, bemerkten die Häuptlinge bissig, und wieder herrschte übermütige Heiterkeit in der Runde. Lasana antwortete nicht gleich, die anzüglichen Sticheleien schienen sie beleidigt zu haben. Erst nach geraumer Zeit legte sie zart die Hand auf meine Schulter und sagte so laut, daß es die Häuptlinge hören mußten: „Jan, höre nicht auf ihre Worte, es sind quakende Frösche, die selbst ausschweifende und schmutzige Gedanken im Kopf haben. Sie haben dir Stammesgeschichten erzählt, die von ebenso übermütigen Nichtsnutzen ersonnen wurden, wie sie selbst es sind. Wieviel Wahres kann daran schon sein? Ich könnte dir eine ganze Reihe von Begebenheiten erzählen über Frauen, die bis in den Tod treu waren, und von ehrbaren liebenden Mädchen, die einer Liebe fähig waren, von der die kaltblütigen Kröten dort überhaupt keine Ahnung haben.” Die Häuptlinge nahmen die abfälligen Äußerungen Lasanas mit wohlwollendem Verständnis auf und baten sie selbst, sie möge doch etwa Schönes und Liebes erzählen. „Möchtest du die Geschichte von der Tochter des Zauberers hören, die einmal in einen Jäger verliebt war?” wandte sie sich an mich. „Recht gern.” Und Lasana begann mit ihrer wohlklingenden, tiefen Stimme: „Wawaja, die liebliche Tochter des Zauberers, besaß, obgleich sie noch ein halbes Kind war, ein leidenschaftliches Herz. Sie hatte sich über alle Maßen in einen jungen, tapferen Jäger verliebt, war aber so verschämt, daß sie ihm ihre Liebe in keiner Weise zu verstehen gab und er nichts davon ahnte. Junge Mädchen verlieben sich leicht, doch verlieren sie ihre Gefühle auch schnell. Bei Wawaja aber war es anders. Je länger ihre Neigung währte, um so stärker wurde sie. Wawaja verzehrte sich in Sehn-sucht, und als diese unerträglich wurde, gingen ihr allerlei unsinnige Gedanken durch den Kopf. Um der Trennung ein Ende zu setzen, um den Geliebten ständig sehen und ihm dienen zu können, kam sie schließlich zu einem ungewöhnlichen Entschluß: Sie bat ihren Vater, den Zauberer, er möge sie in einen Hund verwandeln, um immer an der Seite des Jägers sein zu können. Der. Vater schalt sie und suchte sie davon abzubringen, doch als er nach einiger Zeit gewahrte, daß sie vor Sehnsucht dahinsiechte, erfüllte er ihr den Wunsch und verwandelte sie in einen Hund. Sie schloß sich der Koppel des Jägers an. Da sie verständiger war als die anderen Hunde und jede Absicht ihres Herrn sofort erriet, gewann dieser sie sehr bald lieb und streichelte sie oft. Wenn der Jäger nach der Rückkehr von der Jagd in der Hütte ausruhte, legte sie den Kopf auf sein Knie und konnte ihm stundenlang in die Augen schauen. Sie hatte nur einen Fehler: sie war unfolgsam und hatte eigenartige Angewohnheiten. Einige Stunden vor dem Ende des Streifzuges verschwand sie regelmäßig wie der Blitz im dichten Gebüsch und kam nicht wieder zum Vor-schein. Im Urwald, der voller Dämonen steckt, geschieht manches Verwunderliche, und auch in der Hütte des Jägers ereigneten sich jetzt absonderliche Dinge. Wenn er aus dem Wald zurückkehrte, war die Hütte sauber ausgefegt, das Feuer loderte, und noch heiße, frisch gebackene Maniokafladen lagen bereit. Kurz darauf tauchte auch der Hund wieder auf, und obgleich er für seinen Ungehorsam jedesmal eine Tracht Prügel erhielt, bezeigte er außerordentliche Freude und sprang an seinem Herrn empor. Zunächst schrieb der Jäger die Geschehnisse in seiner Hütte wohlgesinnten Geistern zu; doch kam es ihm mit der Zeit allzu sonderbar vor, und er beschloß, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Eines Tages brach er daher die Jagd bedeutend früher ab als sonst und näherte sich vorsichtig der Hütte. Im Innern vernahm er geschäftiges Hantieren, und als er durch eine Öffnung im Flechtwerk hineinsah, erblickte er ein junges Mädchen, das Feuer entfachte. Dicht daneben hing das Fell seines Lieblingshundes an der Wand. In diesem Augenblick wurde ihm alles klar. Vorsichtig schlich er zum Eingang, stürzte hinein, erraffte das Hundefell und warf es in die Flammen. Das Mädchen konnte nun seine Gestalt nicht mehr wechseln und war in seiner Gewalt. Er zog sie an sich und blieb für immer ihr Mann. Sie lebten zusammen”, schloß Lasana ihre Erzählung und bedachte die Häuptlinge mit einem vielsagenden Blick, „bis an das Ende ihres Lebens, ohne sich jemals zu trennen, und waren sehr glücklich.” „Soso!” Die Häuptlinge nickten wohlwollend. „Ja, es soll auch solche Mädchen geben.” „Es gibt mit Sicherheit solche Mädchen!” schnitt ihnen Lasana die Rede ab. Inzwischen neigte sich der vom Lärmen der Menschen und vom Dröhnen der Trommeln erfüllte Tag langsam seinem Ende zu. Die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten die Welt in rotes Licht, die Schatten wurden immer länger und länger, und in der Tiefe des Waldes nistete bereits die Dunkelheit. Immer noch aber herrschte in der Siedlung und an ihrem Rande, unter den Burtiti-palmen, lebhaftes Treiben. Schreie flogen hin und her, und die Kinder trieben allerhand Unfug. In einiger Entfernung tauchte ein junger Indianer, ein flinker Jäger, auf. Er lief auf unseren Toldo zu. Noch schwangen in unserem Innern die Worte Lasanas, noch weilten unsere Gedanken bei dem glücklichen Jäger und seiner Geliebten, und der näher kommende Jüngling erschien uns — o welche Täuschung! — einen Augenblick als eine Gestalt aus einer Erzählung. Aber nur einen Augenblick. Der Indianer hatte uns erreicht. Seine vom schnellen Lauf umnebelten Augen verrieten Entsetzen. Außer Atem stieß er hervor: „Die Akawois . . . dort!” Er wies auf das andere Ufer des Sees. „Was sagst du da?” Manauri brachte die Worte kaum hervor. „Die Akawois .. . sind gekommen!” Selbst wenn sich die Erde geöffnet hätte, wäre die Überraschung nicht größer gewesen. Wir fielen aus allen Himmeln, der Atem drohte uns zu versagen, im Kopf ging alles wirr durcheinander. Irgendjemand stöhnte schmerzvoll auf. Wir saßen noch immer so da wie zuvor. „Wo befinden sie sich?” Ich hatte mich als erster gefaßt. „Dort am Ufer des Sees. Vielleicht setzen sie jetzt bereits über.” „Wie viele sind es?” „Acht.” „Und woher weißt du, daß es Akawois sind?” „Ich stand am Ufer des Sees, als sie aus dem Dickicht traten. Sie haben mit mir gesprochen.” „Bist du ihnen ausgerissen?” „Ich wollte fliehen, als ich sie sah, doch fingen sie mich ... Sie haben mir aber nichts getan, sondern ließen durchblicken, daß sie nach Kumaka kommen wollen.. .” „Und es waren nur acht?” „Ja, acht.” „Wo sind die andern?” „Ich weiß es nicht. Mehr habe ich nicht gesehen.” Auf so rauhe Weise aus der glücklichen Stimmung gerissen, empfand ich ein ganz eigenartiges Gefühl, ein Gefühl der Erleichterung, daß endlich, nach vielen Monaten gespannten Wartens, etwas geschah. Nun hatte der Blitz eingeschlagen. Die Akawois waren gekommen. Die Häuptlinge hingen mit starren Augen an mir. In ihrem flackernden Blick lagen Vertrauen und Furcht. Die acht Akawois Alle sprangen auf. „Bleibt ruhig”, ermahnte ich sie mit gepreßter Stimme. „Wir dürfen durch nichts verraten, daß wir vor der Gefahr gewarnt wurden. Von den acht Akawois droht uns kaum eine Gefahr, doch ist es nicht ausgeschlossen, daß eine andere Abteilung auf unserer Halbinsel gelandet ist und sich anschleicht. Vielleicht liegen sie bereits hinter den nächsten Bäumen auf der Lauer.” Unwillkürlich blickten die Ältesten zu den Büschen hinüber. Sie konnten sich nicht beherrschen, es fehlte ihnen die Erfahrung wirklicher Krieger. Allein Manauri benahm sich so; wie es in unserer Lage geboten war. „Einen unnötigen Blick kann man in der Wildnis mit dem Leben bezahlen”, warnte ich sie. Dann legte ich ihnen in knappen Worten meinen Plan für die kommenden Minuten dar: Wir mußten unauffällig auseinandergehen und zu unseren Sippen zurückkehren. Jeder, dem einer von uns unterwegs begegnete, sei zu unterrichten, daß sich alle Krieger bewaffnen und nach Sippen geordnet in den Hütten bereit-halten sollten. Nach allen Richtungen seien Späher zu entsenden, die das Dickicht rings um Kumaka im Umkreis von fünfhundert Schritt zu durchsuchen hatten. „Mit einem Wort’, schloß ich die kurze Beratung, „es ist alles zu tun, daß die Gruppen bereit sind, einen Angriff abzuwehren, und der Feind nichts von den Vorbereitungen merkt. Der Mukuari muß weiterlaufen wie bisher, die Trommeln dürfen keinen Augenblick verstummen. Manauri und ich werden die Akawois empfangen, ihr andern verfolgt das Geschehen aus der Ferne. Sobald die Späher Nachrichten bringen, sind wir auf dem schnellsten Wege davon zu verständigen.” Wir erhoben uns und gingen auseinander. Die Mukuaritänzer wurden heimlich in Kenntnis gesetzt, daß sie ohne Unterbrechung weitertanzen sollten. Als wir bei meiner Hütte ankamen, erreichten die Akawois gerade das Ufer und zogen ihr Boot dicht neben unserem Segler an Land. Die Anwesenheit eines solchen Schiffes in dieser Urwaldgegend war bestimmt nichts Alltägliches, und doch verrieten die Ankömmlinge mit keinem Laut und keiner Bewegung ihre Verwunderung darüber. Sie verstanden es meisterhaft, ihre Gedanken zu verbergen. Am Rande des Wassers blieben sie stehen, und einer von ihnen, wahrscheinlich der Anführer, vollführte mit der Hand verschiedene Bewegungen vor seinem Gesicht zum Zeichen freundschaftlicher Begrüßung. Manauri antwortete ihm auf die gleiche Art, worauf die Akawois ihre Waffen und ihr Gepäck ausluden. Es bestand aus acht reichlich gefüllten Säcken, wie sie die Indianer auf ihren Wanderungen mittels eines Stirnriemens auf dem Rücken zu tragen pflegen. „Wir sind wandernde Händler vom Stamme Kapong, der auch Akawoi genannt wird”, begann der Anführer, der uns begrüßt hatte, in gebrochenem Arawakisch das Gespräch, „und sind gekommen, um euch unsere Waren anzubieten.” „Wenn das der Grund eures Kommens ist’, erwiderte Manauri freundlich, doch mit einer gewissen Betonung, „so heißen wir euch herzlich willkommen und beherbergen euch gern.” „Wir danken dir. Nehmt es uns nicht übel, daß wir euer Boot benutzt haben, um über den See zu gelangen. Wir kommen aus den südlichen Wäldern, benutzen die Urwaldpfade und besitzen kein eigenes Boot.” „Wo hast du die arawakische Sprache erlernt?” „Unsere Siedlungen am Cuyuni liegen nahe den Wohnsitzen der südlichen Arawaken, die am Pomerun leben. Ich heiße Dabaro und bin oft mit euren Brüdern zusammengekommen." Diesen Menschen sah man es auf den ersten Blick an, daß sie einem anderen Stamm angehörten als den Arawaken oder den Warraulen. Sie waren einen halben Kopf größer als die meisten der hier ansässigen Indianer und weitaus kräftiger. Wenn sie auch als Händler auftraten, so verriet jede ihrer Bewegungen die Elastizität und Sicherheit erprobter Krieger. Ihre Augen blickten scharf, wenn auch beherrscht, ihre Mienen waren stolz und die Haltung würdevoll. Die weißen Faserbinden am Unterarm und unterhalb der Knie und die schwarzen Streifen, die vom Ohr zur Nase und zum Mund verliefen, stellten sicher das Stammeszeichen dar. Alle acht Mann waren bis an die Zähne bewaffnet, jeder trug Pfeil und Bogen bei sich, Speer, Keule und einen Schild aus hartem Tierfell. Die Waffen legten sie keinen Augenblick aus der Hand und gingen so geschickt damit um, daß sie ihnen bei keiner Tätigkeit im Wege waren. Diese Gewandtheit im Umgang mit Waffen wirkte drohend und unheilverkündend, nötigte aber gleichzeitig auch Achtung ab. Als die Begrüßungszeremonien vorüber waren, ließ Manauri die Gäste in die ihnen zugewiesenen Hütten geleiten, wo sie reichlich mit Speise und Trank bewirtet wurden und Holz erhielten, um ein Feuer zu entzünden. Die Hütten waren so gelegen, daß sie Tag und Nacht von allen Seiten aus gut beobachtet werden konnten. Die ausgesandten Späher hatten in der nächsten Umgebung Kumakas nichts Verdächtiges gefunden. Nun schickte ich sie ein zweites Mal weg, diesmal jedoch bedeutend weiter. Sie sollten unsere ganze Halbinsel und auch das gegenüberliegende Ufer des Sees absuchen. Weil die Akawois von dorther gekommen waren, befahl ich Arnak, den Pfad, den sie benutzt hatten, so weit wie möglich zu verfolgen. Anschließend hielt ich mit Manauri und den Häuptlingen eine Beratung ab. Ich erklärte ihnen, daß die Akawois ihre Überfälle meistens kurz vor Tagesanbruch durchführten, in der Zeit des tiefsten Schlafes, und daß jede Sippe eine Anzahl Krieger für den Wachdienst bereithalten müsse. „Die Wachen werden die ganze Nacht über ausgestellt, und zwar in Kumaka selbst und auch außerhalb der Siedlung.” Mit diesen Worten schloß ich meine Anordnungen. „Weißer Jaguar, glaubst du, daß noch mehr Akawois im Wald verborgen sind?” fragte Mabukuli. „Ich weiß genausoviel wir ihr, doch sagt mir eine innere Stimme, daß es nicht nur acht waren.” „Meinen Kopf will ich verlieren, wenn es nicht mehr waren”, erklärte Konauro. Mehr oder weniger waren alle dieser Ansicht, und weil die Angst große Augen hat, schätzten sie die Größe der Gefahr, in der wir uns befanden, richtig ein. Unter den Stämmen Guayanas und Südostvenezuelas waren die schaurigsten Gerüchte über die Akawois im Umlauf. Besonders ihre Blutgier und unmenschliche Grausamkeit waren gefürchtet. Die Häuptlinge der Arawaken verfielen aber nicht in Panik, weil sie fest an meinen guten Stern glaubten und mir unbegrenztes Vertrauen schenkten. „Gibt es unter unseren Leuten jemand, der die Sprache der Aka-wois versteht?” fragte ich. Leider gab es niemand. Die Bewohner Serimas und Kumakas waren erst vor zwei Jahren von der Küste des Karibischen Meeres hierhergekommen und hatten mit den Akawois noch keine Berührung gehabt. „Das ist sehr schade, denn ich bin überzeugt, daß die Akawois Späher sind. Sie werden sich so lange bei uns aufhalten, bis sie alles erfahren haben, was sie wissen wollen. Es wäre daher gut, wenn jemand ihre Gespräche belauschen könnte.” „Wir haben niemand.” Manauri zuckte die Achseln. „Doch gibt es einen”, rief Mubukuli plötzlich aus. „Fujudi!” Fujudi, der zur nächsten Umgebung des Oberhäuptlings Koneso gehört hatte, war jener Arawake, den wir bereits in dem Dorf Jekuanas an der Mündung des Orinoko kennengelernt hatten. Er stammte vom Pomerun und war erst vor Jahresfrist hier eingetroffen. „Natürlich, Fujudi”, bestätigten Konauro und Jaki. „Er kennt die Sprache der Akawois, wir wissen es ganz genau.” Fujudi hatte sich seinerzeit nicht von Koneso trennen wollen und hielt sich in Serima auf. „Er war nicht an der Seuche erkrankt?” fragte ich. „Nein.” Ich wandte mich an Manauri. „Entsende sofort einen flinken Boten zu Fujudi. Er soll noch in dieser Nacht zu uns kommen. Außerdem muß in Serima Ordnung geschaffen werden, alle Hütten, in denen Kranke lagen, sind zu verbrennnen, möglichst gleich morgen früh.” „Gut, Jan.” Als wir berieten, wie die acht Akawois am besten überwacht werden könnten, rümpften Mabukuli, Jaki und Konauro die Nase und machten unzufriedene Gesichter. „Der Weiße Jaguar hat selbst zugegeben”, brachte schließlich Konauro vor, „daß die Akawois Kundschafter sind. Es besteht also kein Zweifel, daß wir es mit Feinden zu tun haben. Wenn wir sie töten, befreien wir unseren Körper von dem Geschwür, das ihn befallen hat. Damit beseitigen wir die Gefahr und lassen gleich-zeitig unseren Jägern, die während der letzten Trockenzeit in den Bergen umgebracht wurden, Gerechtigkeit widerfahren.” „So ist es, wir werden sie töten”, bekräftigten Jaki und Mabukuli. Manauri krümmte sich, als habe ihn eine Schlange gebissen. Er schnaufte und maß seine Häuptlinge mit wütenden Blicken. Es dauerte geraume Zeit, bis er ihnen eine Antwort gab. Endlich öffnete er den Mund und sprach: „Ich habe erwachsene Männer vor mir, doch was sie reden, ist die Sprache von Gelbschnäbeln. Sind wir vielleicht wilde Bestien, die wandernde Händler umbringen? Will es niemand gesehen haben, daß Manauri im Namen des ganzen Dorfes die Fremden begrüßt und ihnen Gastfreundschaft angeboten hat? Und nun erhebt ihr, meine Freunde und Häuptlinge, die schamlose Forderung, ich solle ehrlos mein gegebenes Versprechen brechen? Eine solche Schande mutet ihr mir zu?" Der Oberhäuptling war zutiefst empört, und ich rieb mir insgeheim vor Freude die Hände, denn ich erblickte in diesem berechtigten Ausbruch gleichzeitig auch einen Erfolg meines Einflusses. Die Häuptlinge nahmen den Tadel ruhig und ergeben auf, nur Mabukuli, der vertrauteste Gefährte Manauris, machte den Einwand: „Und wenn die Akawois wirklich Verräter sind, was dann?’ „Das ist etwas anderes. In diesem Fall werden wir sie vernichten!” „Wenn es dann nur nicht zu spät ist’, knurrte Mabukuli warnend. Die Häuptlinge richteten ihre Augen auf mich. Ihre letzte Hoffnung war, daß ich Partei für sie ergreifen könnte, doch waren sie im Irrtum. Ich stellte mich unmißverständlich auf die Seite Manauris und fügte hinzu, die acht Akawois müßten schon deshalb am Leben bleiben, um uns durch ihr Verhalten möglicherweise das Versteck der übrigen Feinde zu verraten, wenn solche in der Nähe Kumakas weilen sollten. Vor Einbruch der Dunkelheit besuchten wir die Gäste in ihren Hütten und überzeugten uns, ob es ihnen an nichts fehle, gleichzeitig warnten wir sie bei dieser Gelegenheit freundschaftlich, sich in der Finsternis von ihrer Behausung zu entfernen. Als es Nacht wurde, kehrten Arnak und die übrigen Kundschafter in das Dorf zurück. Nirgends hatten sie Spuren fremder Menschen gefunden. Ungefähr zwei Stunden nach Mitternacht wurde ich geweckt. Fujudi war gekommen. Er war begeistert von der Aufgabe, die er erfüllen sollte, und freute sich, daß wir ihm Vertrauen schenkten. Die Sprache der Akawois beherrschte er recht gut. „Ich vertraue dir die Akawois an. Du wirst ihnen behilflich sein und auf jedes Wort achten, das sie sprechen, doch dürfen sie nie merken, daß du sie verstehst’, belehrte ich ihn. „Es fragt sich nur, ob sie dich nicht von früher kennen.” „Das ist unmöglich”, antwortete er, „denn ich habe ihre Sprache von zwei Akawois gelernt, die ständig in unserem Stamm am Pomerun lebten. Ich war nie am Cuyuni.” „Um so besser! Wie steht es in Serima?” „Die Seuche scheint vorüber zu sein. Die Überlebenden kommen langsam wieder zu Kräften.” „Und Koneso?” „Er ist völlig gebrochen, abgestumpft und verlassen. Ganze Tage spricht er kein einziges Wort.” „Und die übrigen?” „Sie hoffen auf dich, Weißer Jaguar, und möchten sich mit dem Stamm Manauris vereinigen. Sie wollen alles tun, was ihr ihnen befehlt.” „Wann werden die verseuchten Hütten verbrannt?” „Sobald es Tag wird.” Das waren erfreuliche Nachrichten, die eine friedliche Zukunft ohne Zwistigkeiten verhießen, falls es uns gelang, die von den Akawois drohende Gefahr, wenn sie wirklich vorhanden war, glücklich abzuwenden. „Sind die Bewohner Serimas über das Auftauchen der Akawois unterrichtet?” „Ja. Sie werden äußerst wachsam sein.” Ich sagte Fujudi, er solle noch einige Stunden schlafen, und kontrollierte die Wachen. Alle waren auf ihrem Posten. Auch dem Palmenhain stattete ich einen Besuch ab. Ein Teil der Krieger tanzte noch immer den Mukuari, und die Trommeln schickten ihr rhythmisches Dröhnen in die Dunkelheit. Die Nacht verging ohne besondere Vorfälle. Als der Morgen graute, war ganz Kumaka auf den Beinen. Ich stellte die Wachen so weit wie möglich vor der Siedlung auf und sandte Gruppen besonders gewandter Jäger und Fischer auf Erkundung in den Urwald und den Itamaka flußaufwärts. Bald herrschte vor den Hütten der acht Akawois lebhaftes Treiben. Es war ein heiterer Morgen, und die Händler legten den Inhalt ihrer Säcke auf der Erde aus, daneben stießen sie ihre Speere und Keulen in den Boden. Die Keulen waren eigenartig geformt, sie glichen riesigen Dolchen. Was gab es da nicht alles! Kleine Töpfe mit dem wertvollen Gift Urari, das von den am Fuße der Pacaraimaberge lebenden Makuschis stammte, dahinter lagen verschiedene Halsketten und andere aus Jaguar-, Kaiman- und Affenzähnen hergestellte Schmucksachen sowie eine Anzahl seltener Früchte. Es war die reinste Augenweide. Dabaro erläuterte unseren Männern und Frauen bereitwillig, woher die einzelnen Dinge kamen: diese von den Karibisen, jene von den Wipisanas, andere von den Arekunas und einige Sachen sogar von den Arawaken, die am Essequibo lebten. Besonders ins Auge fielen blinkende, bunte Glasperlen verschiedener Größe, die sichtlich europäischen Ursprungs waren; an ihnen konnten sich die Leute aus Kumaka gar nicht satt sehen. Ferner gab es holländische Tücher aus Baumwolle, Äxte, die gleichfalls aus Holland stammten, und viele Arten von Messern, große und kleine, darunter auch solche, die mir bekannt vorkamen. Als ich eins davon in die Hand nahm, um es näher zu betrachten, entdeckte ich den eingestanzten Namen Liverpool. Ich hatte das Gefühl, als striche ein heimatlicher Wind um meine Wangen und lasse mein Herz freudig erbeben. Dabaro — er trug als auffälligsten Schmuck ein silbernes Plättchen, das von seiner durchlöcherten Unterlippe herabbaumelte und etwa die Größe eines Talers hatte — bemerkte mein Interesse für die englischen Erzeugnisse. Er trat zu mir heran, deutete auf das Messer und erklärte mir: „Das stammt aus den Faktoreien deiner Landsleute am Essequibo, von den Paranakedis — den Engländern.” „Woher weißt du denn, daß ich ein Engländer bin, wenn es dir hier niemand erzählt hat?” stellte ich ihn zur Rede. Auf dem bisher verschlossenen und düsteren Gesicht des Aka-wois erschien ein breites Lächeln. „Zwischen dem Orinoko, dem Essequibo und dem Cuyuni gibt es zwar viele Berge und mächtigen, dichten Urwald, doch erreichen uns Nachrichten und Neuigkeiten mit der Geschwindigkeit des Sturmes, Weißer Jaguar.” „Auch mein Beiname ist dir also bekannt?” „Wie du hörst, ja.” „Und was weißt du sonst noch über uns?” „Alles”, antwortete er ernst, mit unbeweglicher Miene. Während ich den Akawois zusah, die ihre Waren mit dem Geschick erfahrener Händler zur Schau stellten, und meinen Blick über die Vielfalt der mitgebrachten Gegenstände gleiten ließ, stiegen unwillkürlich Zweifel an unserem Verdacht in mir empor. Zwischen den Stämmen bestand ein lebhafter Tauschhandel, und möglicherweise waren diese acht wirklich Händler und keine Krieger, die feindliche Absichten hegten. Plötzlich erhob sich im Norden eine schwarze Rauchsäule gegen den Himmel. In Serima wurden also die verseuchten Hütten verbrannt. Die nacheinander an verschiedenen Stellen aufsteigenden und sich über dem Urwald zu einer mächtigen Wolke vereinigenden Rauchschwaden boten einen überwältigenden Anblick. Da die Leute in Kumaka nichts von dem Auftrag der Ältesten wußten, wurden sie unruhig. Die Waren der Akawois fanden keine Beachtung mehr. Bald wurde die Vermutung laut, daß Serima überfallen worden sei, und obwohl der Name des Angreifers nicht genannt wurde, fiel heimlich mancher zornige Blick auf die acht Akawois. Einige rannten in panikartiger Hast zu ihren Hütten, um sich zu bewaffnen. Die Akawois hatten gleichfalls die Rauchwolken bemerkt, und Dabaro verstand auch die unzweideutigen Vermutungen und Bemerkungen unserer Leute. Sie waren sichtlich verblüfft, ja mehr noch, ihre Mienen schienen Zorn gegen die vermeintlichen Urheber des Überfalls auszudrücken; jedenfalls deutete ich den Aus-druck als Zorn. Sie begannen hastig ein halblautes Gespräch, und Fujudi, der sich in der Nähe aufhielt, spitzte unauffällig die Ohren. Viel konnte er nicht hören, denn die Akawois tauschten nur einige kurze Erwägungen aus und verstummten wieder. Gleich darauf entfernte sich Fujudi, ein Weilchen später folgte ich ihm. An einer sicheren Stelle zwischen den Hütten holte ich ihn ein. „Hast du etwas gehört?” fragte ich. „Kaum hatte Dabaro den Rauch erblickt, rief er den andern zu: ,Die Dummköpfe konnten es nicht erwarten, nun haben sie sich vorzeitig verraten.' Ein anderer antwortete ihm: ,Sie haben unseren ganzen Plan verdorben.” „Dabaro war also der Meinung, daß Akawois Serima überfallen hätten?” „So ist es. Sie flüsterten dann noch, daß sie sofort fliehen und sich zu unseren Booten am Seeufer durchschlagen müßten.” „Das müssen wir auf jeden Fall verhindern! Lauf sofort zurück und gib laut bekannt, daß sich die Sache mit dem Rauch geklärt habe; in Serima werden die verseuchten Hütten niedergebrannt.” Er eilte zurück, erfüllte seinen Auftrag, und bald hatten die Einwohner Kumakas und die Akawois ihre Ruhe wiedergefunden. Ich selbst schritt in Gedanken versunken auf die Hütte Ma-nauris zu. Nun gab es keine Zweifel mehr! Die Akawois waren mit einer größeren Abteilung gekommen, die sich irgendwo in der Nähe versteckt hielt. Auch war es sicher, daß sie böse Absichten hegten. Unausweichlich mußte es zu einer entscheidenden Auseinandersetzung kommen, das machte ich einige Minuten später auch Manauri und den übrigen Häuptlingen klar. „Nur Wachsamkeit, offene Augen für alles und noch einmal Wachsamkeit können uns retten”, prägte ich ihnen ein. „Die Hütten Kumakas liegen verstreut und zu weit auseinander, sie lassen sich schlecht verteidigen. Alle Bewohner müssen daher in der Mitte des Dorfes zusammengezogen werden und hier verbleiben. Vergeßt nicht, Aripaj zurückzuholen!" Währenddessen wurde weiter gehandelt, doch kamen die Geschäfte nicht recht vom Fleck, da die Akawois ihre Waren sehr hoch und die Tauschartikel der Arawaken, insbesondere die bunten Gewebe, allzu niedrig bewerteten. Die Händler wollten auch größere Vorräte an Lebensmitteln einkaufen, wir aber hatten nicht die Absicht, davon etwas abzugeben. Als gegen Mittag wegen der großen Hitze das Feilschen für einige Stunden unterbrochen wurde, hatten daher nur wenige Dinge ihren Besitzer gewechselt. Mir wurde klar, daß die Akawois ein Interesse daran hatten, sich so lange wie möglich in Kumaka aufzuhalten. Um die Mittagszeit hatte auch die heimliche Übersiedlung der Einwohner in die Mitte des Dorfes ihren Abschluß gefunden. In den Hütten gegenüber dem Schoner wimmelte es von Menschen, während die Behausungen am Rande Kumakas einsam und verlassen dalagen. Zwar bemerkten die Akawois das lebhafter werdende Treiben, doch konnten sie keine richtige Erklärung dafür finden und blieben — wie Fujudi berichtete — im ungewissen. Im Laufe des Nachmittags kehrten die Kundschafterguppen vom Fluß und aus dem Urwald zurück. Sie hatten nichts bemerkt, was auf die Anwesenheit eines Feindes schließen ließ, und waren im Umkreis von zehn Meilen auf keine verdächtigen Spuren gestoßen. Man mußte also annehmen, daß die Akawois entweder noch weiter ab von Kumaka lagerten oder ein ausgezeichnetes Versteck gefunden hatten, das nur schwer aufzuspüren war. Am frühen Nachmittag verstauten die Akawois ihre Waren und erklärten, daß sie uns einen Tanz zur Verehrung des Feuers vorführen wollten. Wir hatten nichts dagegen, und viele Bewohner Kumakas kamen herbei, um dem Schauspiel zuzusehen. Der Tanz fand vor den Hütten der Gäste statt, neben den Spee-ren und Keulen, die die Akawois ihrer Gewohnheit gemäß in die Erde gesteckt hatten. Die Zeremonie bestand darin, daß einer der Akawois die Flammen eines großen Feuers abwechselnd hoch auflodern und gleich darauf wieder in sich zusammensinken ließ, während sich die übrigen Krieger an den Händen hielten und in kleinen seitlichen Tanzschritten das Feuer umkreisten, wobei sie in singendem Tonfall Kampfrufe ausstießen. „Kannst du verstehen, was sie singen?’ wandte ich mich unauffällig an Fujudi. „Sie bitten das Feuer, daß es ihnen Sieg bringen und mit seinem Rauch die Augen ihrer Feinde blenden möge.” „Ist es einer ihrer üblichen Tänze?’ „Das weiß ich nicht.” „Hast du schon einmal von ihm gehört?” „Nein, ich sehe ihn zum erstenmal.” Es war ganz natürlich, daß Fujudi den Tanz nicht kannte, doch fiel mir während der Zeremonie auf, daß in den Abständen, in denen das Feuer entfacht oder gedämpft wurde, dichte Rauchkringel emporstiegen, was mir nicht als Zufall erschien. Die Rauchwolken erhoben sich in längeren oder kürzeren Unterbrechungen hoch über die Wipfel der umstehenden Bäume und waren sicher von jeder Stelle des Seeufers und wahrscheinlich auch von dem jenseits des Itamaka gelegenen Waldrand aus zu beobachten. Nachdem ich dieses Tun eine Zeitlang aufmerksam verfolgt hatte, hätte ich den Kopf dafür gegeben, daß die Akawois mit Hilfe des Rauchs bestimmte Signale übermittelten. Ich stieß Manauri an und erklärte: „Die Akawois müssen sich in der Nähe Kumakas aufhalten.” „Woran willst du das erkennen?’ fragte er verwundert zurück. „An dem Rauch, den die Tänzer aufsteigen lassen. Sieh einmal genau hin!” Der Häuptling gab mir recht. Auch ihm schienen die Rauchknäuel nicht ohne verborgene Bedeutung zu sein. „Was ist zu tun?” zischte er gereizt. „Sollen wir den Tanz abbrechen und das Feuer löschen?” „Nein, noch ist die Zeit nicht gekommen.” „Aber diese Verräter werden uns die ganze Meute auf den Hals hetzen.” „Wir sind doch auf der Hut! Übrigens werden wir sofort ihre Pläne durchkreuzen und ihre Rauchsprache durcheinanderbringen.” Ich rief Arnak und Wagura herbei, die in der Nähe standen, weihte sie in unsere Vermutungen ein und trug ihnen auf, in der Nähe zwei weitere Feuer zu entzünden und in unregelmäßigen Abständen Rauchwolken zum Himmel steigen zu lassen. „Das bringt Verwirrung in die Rauchzeichen der ,Händler' ", erklärte ich und wandte mich wieder Manauri zu, „doch ist damit die Sache nicht abgetan. Wir müssen neue Späher an den See entsenden. Sie sollen noch einmal die Ufer absuchen, diesmal aber ganz gewissenhaft.” Meine Anordnungen wurden sofort ausgeführt. Ich weiß nicht, ob die Akawois etwas bemerkten, jedenfalls tanzten sie noch eine gute Stunde lang und ließen immer wieder die bewußten Rauchkringel emporsteigen. Ähnliche Wölkchen, wenn auch in anderen Abständen, erhoben sich aber auch von den beiden anderen Feuern über die Wipfel. Von weitem hätte sich nicht einmal der Teufel in diesem Durcheinander der Zeichen ausgekannt. Gleichzeitig waren zwei starke Gruppen unterwegs, die jeden Strauch des Dickichts am Ufer untersuchten. Die ausgesandten Krieger kehrten erst am späten Abend zurück. Vom Feind hatten sie keine Spur gefunden, doch brachten sie eine andere Nachricht mit, die ganz Kumaka erschütterte: Aripaj war mit seiner ganzen Familie ermordet worden. Sofort erhob sich das Gerücht, daß sie einem Racheakt der Freunde des Zauberers Karapana zum Opfer gefallen seien. Am meisten fühlte sich Manauri von dem traurigen Ereignis betroffen. Er war äußerst niedergeschlagen und konnte es sich nicht verzeihen, daß er Aripaj nicht rechtzeitig hatte ins Dorf bringen lassen. In dieser Nacht waren wir alle auf einen Überfall gefaßt, doch der Feind zeigte sich nicht. Sobald der Tag graute, sammelte sich vor meiner Hütte eine Gruppe von Kundschaftern, und ich machte mich mit ihnen auf den Weg zum Ort des Verbrechens. Als Manauri sah, daß wir nur fünfzehn waren, hielt er uns zurück und schalt unseren Leichtsinn. Wir mußten solange warten, bis weitere zwanzig Krieger zur Stelle waren, die unseren Schutz übernahmen. Die Hütte Aripajs lag etwa eine halbe Meile von Kumaka entfernt, und als wir sie erreichten, war bereits die Sonne aufgegangen. Aus Sicherheitsgründen befahl ich den Kriegern, den Ort in weitem Bogen zu umstellen, und näherte mich allein der Hütte, um nach Spuren zu suchen. Die ganze Familie, Aripaj, seine Frau und die beiden Kinder, lagen noch so da, wie der Tod sie ereilt hatte. Durch Schläge mit einem harten Gegenstand, wahrscheinlich mit Keulen, waren ihnen die Schädel zerschmettert worden. Ich fand weder Spuren eines Kampfes noch sonstige Anzeichen, die auf die Urheber des Verbrechens schließen ließen. Erst als ich die Hütte verließ und in dem Gewirr von Spuren, die in der nächsten Umgebung vorhanden waren und wohl zum größten Teil von den Familienmitgliedern stammten, nach auffälligen Anzeichen suchte, entdeckte ich zwei längliche, nicht allzugroße Löcher im Erdboden. Ich überlegte, wo ich schon ähnliche Löcher gesehen hatte, und plötzlich kam mir die Erleuchtung: Die Akawois hatten doch die Angewohnheit, ihre Keulen in die Erde zu stoßen, und die Löcher hier entsprachen in der Größe den Enden dieser Waffen! Die Akawois also, überlegte ich und erschrak. Die Akawois hier auf unserer Halbinsel? Der Reihe nach rief ich mehrere Krieger herbei und trug ihnen auf, selbst nach Spuren zu suchen. Da sie mich vordem von weitem beobachtet hatten, fiel es ihnen jetzt verhältnismäßig leicht, die beiden Löcher zu finden, und sie zogen daraus — das mußte ich ihnen zuerkennen — auch die richtigen Schlußfolgerungen. Bei unserer Rückkehr ins Dorf erwartete uns eine neue unangenehme Überraschung. In der vergangenen Nacht war eine unserer größeren Itauben gestohlen worden. Das Boot hatte in der Nähe des Schoners gelegen. Trotzdem wir die ganze Nacht Wachen ausgestellt hatten, war der Diebstahl gelungen. Der Dieb oder, besser gesagt, die Diebe mußten von der Seeseite her gekommen und mit außerordentlicher Geschicklichkeit zu Werke gegangen sein, um die Itaulbe unbemerkt ins Wasser zu schieben und zu entführen. Es wurden wiederum — das wievielte Mal schon, zum Teufel? — zwei Kundschaftergruppen ausgeschickt, um an den Ufern des Sees nach dem verschwundenen Boot zu suchen. Sollten sie es nicht finden, so gewannen wir wenigstens die Gewißheit, daß der Dieb oder, was gleichbedeutend war, der Feind vom Fluß gekommen sein mußte. Ich bekenne, daß ich an diesem Morgen ein wenig aus der Fassung geriet. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als stände ich auf glühenden Kohlen, als würde mir die Kehle zusammengeschnürt. Dieser erbitterte Feind mordete bereits unsere Leute und drang in unser Dorf ein. Wir kannten sein Versteck noch immer nicht und hatten keine Ahnung von seiner Stärke. Was wird er in der nächsten Stunde gegen uns unternehmen, von wo ist der nächste Schlag zu erwarten, vielleicht schon der letzte, der entscheidende? Doch die Zweifel und das Schwächegefühl hielten nicht lange an. Bald fand ich mein inneres Gleichgewicht wieder. Lasana brachte mir das Frühstück, und der Anblick der geliebten Frau und mehr noch ihre Ruhe und ihr Vertrauen gaben mir den Glauben an mich selbst und an unseren Sieg zurück. Ich schämte mich meiner Schwäche. Noch während des Essens überlegte ich die weiteren Möglichkeiten unserer Verteidigung. Ich ließ die Häuptlinge sowie Fujudi, Arnak und Wagura rufen, und als sie eingetroffen waren, erläuterte ich ihnen kurz meinen Plan: Die Leute in Kumaka müßten sich so verhalten, daß die acht Akawois nicht auf den Gedanken kämen, wir könnten den Mord und den Diebstahl des Bootes bemerkt haben. Außerdem ordnete ich an, daß sich in einer Stunde alle, die Feuerwaffen besaßen, bei den Buritipalmen versammeln sollten. „Die Kundschafter, die eben zum See entsandt wurden, haben einige Büchsen mitgenommen”, erinnerte Manauri. „Dann müssen wir eben ohne diese auskommen”, entgegnete ich. „Viele werden sie nicht mitgenommen haben, höchstens drei oder vier.” „Drei waren es”, versicherte Arnak. „Alle, die eine Feuerwaffe besitzen, sollen bei den Palmen erscheinen?’ fragte Wagura noch einmal. „Alle.” „Das werden annähernd vierzig sein. Bist du der Meinung, Jan, daß die Akawois nichts merken werden, wenn so viele mit Büchsen oder Pistolen bewaffnete Männer zu dem Wäldchen gehen?” „Ich glaube, sie werden es merken.” „So können wir uns offen vor ihnen zeigen?” „Nein. Die Akawois müssen den Eindruck gewinnen, daß wir die Waffen vor ihnen verbergen wollen, und doch sollen sie uns bemerken und unsere Waffen sehen.” „Ah, jetzt verstehe ich!” rief Wagura aus. „Sie sollen sehen, über wie viele Waffen wir verfügen.” „So ist es! Und du, Arnak, sorgst dafür, daß sämtliche Pulver-fäßchen, die auf dem Schoner sind, in den Palmenhain gebracht werden.” „Die Augen sollen ihnen übergehen, diesen Lumpen!” Wagura freute sich. Währenddessen hatten die Akawois, genau wie am vorher-gehenden Tage, ihre Waren ausgestellt, und das Feilschen begann von neuem. Heute waren es vorwiegend Frauen, die sich bei den Händlern einfanden, denn die Männer hatten anderes zu tun. Die Akawois forderten auch nicht mehr so hohe Preise und tauschten bereitwillig die arawakischen Gewebe gegen ihre Waren ein. Zur festgesetzten Zeit bot der Hain aus Buritipalmen ein ungewöhnliches Bild. Die Indianer hatten drei bis vier Fuß über der Erde an den Bäumen Stangen befestigt, die einen Stamm mit dem andern verbanden. Daran lehnten die Läufe ihrer Musketen und Büchsen. Etwas höher, an waagerecht gespannten Lianen, hatten sie nebeneinander die Pistolen aufgehängt. Insgesamt waren es achtunddreißig Büchsen und vierunddreißig Pistolen, eine ansehnliche Sammlung, die Bewunderung hervorrufen mußte. Mit Arnak und Wagura machte ich mich daran, die Waffen zu untersuchen. Es war die höchste Zeit, denn in dem feuchten Klima begann bereits der Rost an unseren Flinten zu nagen. Die Musketen, die ich den neu ausgebildeten Schützen zugeteilt hatte, waren in besonders schlechtem Zustand. Das Fett der Apias erwies sich als wunderbares Mittel, das Schießzeug recht und schlecht wieder in Ordnung zu bringen. Mit größter Aufmerksamkeit kontrollierte ich, ob für jede Feuerwaffe ein lederner Überzug vorhanden war, der über das Schloß und den Hahn gezogen wurde und die Pfanne vor Feuchtigkeit und Regen schützte. Noch war die Besichtigung nicht abgeschlossen, als Wagura mich darauf aufmerksam machte, daß sich Dabaro nähere. Der Fisch hatte also den Köder geschluckt. Wir beachteten den Aka-woi nicht weiter, erst als er vor uns stand, warf ich ihm einen fragenden Blick zu. Als Händler genossen unsere Gäste das Recht, sich tagsüber im ganzen Dorf nach Gutdünken zu bewegen. „Das Feuerholz ist uns ausgegangen”, brachte Dabaro vor. „Wir möchten hier in der Nähe etwas Holz sammeln.” „Unsere Leute werden euch soviel Holz bringen, wie ihr braucht’, entgegnete ich ihm freundlich. „Wir wollen euch nicht damit belasten”, erwiderte er im gleichen Ton. „Gut, Dabaro, dann geht selber in den Wald. Achtet aber auf unsere Wachen, die im Walde verteilt sind, damit euch nichts Unangenehmes zustößt.” Er tat verwundert. „Wozu habt ihr die Wachen ausgestellt?” „Das haben wir dir noch nicht gesagt? Die Spanier führen etwas im Schilde. Sie wollen wegen der ungastlichen Aufnahme, die wir ihnen bei ihrem letzten Besuch bereitet haben, mit uns abrechnen.” „Die Spanier!” Dabaro überlegte und fügte dann hinzu: „So gib uns lieber einen Mann mit, der den Wachen erklärt, was wir im Walde wollen.” ' „Gut, ich gebe euch einen Begleiter mit.” Bereits im Gehen fiel ihm noch etwas ein: „Nachmittags möchten wir euch wieder etwas vortanzen.” „Ausgezeichnet! Ihr seid unermüdliche Tänzer. Das viele Holz braucht ihr wohl, um ein großes Feuer zu unterhalten?” „Nein, Weißer Jaguar, heute zünden wir kein Feuer an. Heute tanzen wir den Tanz der Krieger.” Er ging davon, ohne die Waffen auch nur mit einem Blick zu streifen. Daß sie seinen Augen entgangen sein sollten, erschien den Freunden unwahrscheinlich, ja geradezu unnatürlich, und Arnak murmelte: „Schlau ist der Kerl, aber nicht schlau genug.” In Begleitung Fujudis und zweier Krieger begaben sich die Akawois in den Urwald. Ihre Waffen hatten sie in Kumaka zurückgelassen. Nach einer knappen Stunde kehrten sie mit Holz beladen wieder. Sie hatten die Wachen gesehen. Sonst hatte sich nichts Verdächtiges ereignet, und auch Fujudi konnte nichts Besonderes berichten. Kurz vor Mittag kehrten die Späher vom Seeufer zurück. Sie hatten weder Spuren des verschwundenen Bootes noch Fährten in der Nähe des Wassers entdecken können. „Die Situation beginnt sich zu klären”, sagte ich zu den Häuptlingen. „Die Akawois lagern auf der Flußseite.” „Wie ich sehe, befriedigt dich diese Nachricht”, erwiderte Ma-nauri in bitterem Ton und wiegte den Kopf hin und her. „So wahr ich lebe! Wenn Kumaka nicht überfallen wird, so bringt uns die nächste Nacht die Gewißheit, wo sich das Lager der Akawois befindet.” „Hast du schon einen bestimmten Plan?” „Den habe ich. Ihr müßt nur aus den Sippen Kumakas fünfzehn Krieger aussuchen, die ein mutiges Herz besitzen, vor allem aber im Dunkeln sehen können wie die Eulen. Diese schickt zwei Stunden nach Mittag zu mir.” Sie sandten die Krieger und kamen auch selbst, um meinen Plan zu vernehmen. Ich machte ihnen mein Vorhaben klar: „Wir besetzen heute nacht mit zwei Booten die enge Durchfahrt, die den See mit dem Itamaka verbindet. Ich bin überzeugt, daß die Akawois, ermutigt durch ihren gestrigen Erfolg, auch heute wieder versuchen werden, uns weitere Boote zu entwenden. Wenn wir sie aus Kumaka vertreiben, so werden sie auf den Fluß hinausfahren und Hals über Kopf ihrem Lagerplatz zusteuern. Unsere beiden Boote, die in der Enge auf der Lauer liegen, können sie unbemerkt verfolgen und auf diese Weise ihr Lager entdecken. Seid ihr mit diesem Plan einverstanden?” „Und du willst mit zur Durchfahrt, Jan?” „Natürlich. Sobald es dunkel wird, fahren wir los. Das eine Boot begleite ich, Arnak übernimmt das zweite.” „Und wenn in deiner Abwesenheit das Unglück über Kumaka hereinbricht, wenn die Akawois über unser Dorf herfallen?” „Wozu sind denn die Wachen ausgestellt? Außerdem ist es nicht weit zur Durchfahrt, wir würden euch bei einem Überfall sofort zu Hilfe eilen.” Wir brachen unverzüglich auf, um ungefähr eine halbe Meile entfernt eine geeignete Stelle für das nächtliche Unternehmen auszusuchen. Die Durchfahrt war über zweihundert Schritt lang, aber ziemlich schmal, und die Ufer waren hinter einer dichten Wand tief herabhängender Zweige verborgen. In ihrem Schatten konnte man sich ausgezeichnet verstecken. Nachdem wir den nächtlichen Standplatz für die Boote festgelegt hatten, kehrten wir nach Kumaka zurück. Kurz darauf begannen die Akawois ihren Tanz. Es war ein Kriegstanz, wie Dabaro angekündigt hatte. Sie hielten sich wieder an den Händen gefaßt, doch bewegten sie sich diesmal viel lebhafter, vollführten gewaltige Sprünge und stießen wilde Schreie aus. Von Zeit zu Zeit sprang einer von ihnen in die Mitte des Kreises und drehte sich wie rasend um sich selbst. Tatsächlich hatten sie kein Feuer entzündet, dafür saß einer der Akawois vor einer aus einem hohlen Baumstamm gefertigten Trommel und schlug laut den sich ständig verändernden Takt. „Merkst du etwas?” fragte ich den neben mir stehenden Ma-nauri. „Ich wüßte nicht, was!” „Heute dient ihnen die Trommel als Mitteilungsinstrument für ihre Leute.” „Was können wir tun?” „Noch ist es nicht an der Zeit, ihnen die Maske vom Gesicht zu reißen.” „Und wenn sie etwas Wichtiges verraten?” Es war Arasybo, unser neuerkorener Zauberer, der uns zu Hilfe kam. Bereits gestern hatte er unweit der Behausungen der Gäste eine Stange in den Boden gerammt und den Jaguarschädel darauf befestigt. Die eine Augenhöhle starrte genau in die Richtung der Akawois. Heute tat er das gleiche. Als die Krieger ihren Tanz anfingen und Bewegungen vollführten, die Beschwörungen darstellen konnten, begann auch er sofort zu tanzen, um die fremden Zauber zu verderben. Dabei sprang er jeden Augenblick zu seiner Trommel und schlug sie leicht an. Ich schickte Wagura zu Arasybo und ließ ihn bitten, ununterbrochen seine Trommel zu schlagen, um die Signale der Akawois zu übertönen. Er kam meiner Bitte sofort nach, und schon erzitterte die Luft vom verwirrenden Dröhnen beider Trommeln. Nach einem kurzen, gewaltigen Regenguß senkte sich still und friedlich der Abend herab. Wir beschlossen, Fujudi an unserer nächtlichen Fahrt teilnehmen zu lassen. Mit Absicht wählten wir für das Unternehmen kleine Boote aus, die höchstens acht Männer faßten. Obgleich wir nur auf Erkundung fahren wollten, befahl ich den Kriegern, alle Waffen mitzunehmen, um für den Fall eines Überfalls auf Kumaka gerüstet zu sein. Bevor wir auf brachen, brachte Lasana ein Öl gegen die Mücken und rieb mir den ganzen Körper damit ein. Als die Nacht herein-gebrochen war, überzeugten wir uns, daß die acht Akawois in ihren Hütten weilten, und stießen dann vom Ufer ab. Ohne Zwischenfall erreichten wir die Enge und suchten unsere Standplätze auf, ich mit meiner Itauba bei der Mündung in den See, Arnak an der Ausfahrt zum Fluß. Wolken zogen am Himmel dahin, der Mond würde erst in der zweiten Nachthälfte aufgehen. Es war finster, geräuschvoll und leider ein wenig diesig. Ein feiner Nebel hing über dem Wasser. Es begann die große Geduldsprobe, die Zeit des Wartens. Zu Tausenden schwärmten die Mücken um unsere Körper und stachen vor allem mich, trotz der Salbe. Wie betäubt gaukelten Nachtfalter durch die schwüle Finsternis und streiften alle Augenblicke unsere Körper. Bösartige Insekten oder Ungeziefer setzten sich in den Haaren fest. Dabei durfte man keinen Laut von sich geben, mußte geduldig warten und leiden, jedes Geräusch aus dem Dunkel erfassen und mit den Augen den Dunstschleier zu durchdringen versuchen. Zum Glück wurde der Nebel nicht dichter. Wir hatten damit gerechnet, daß die Akawois, wenn sie überhaupt beabsichtigten, in dieser Nacht wiederzukommen, vor dem Aufgehen des Mondes erscheinen würden — und unsere Rechnung ging auf. Gegen Mitternacht vernahmen unsere gespannt lauschenden Ohren ein Geräusch; es klang wie vorsichtiges Eintauchen von Rudern. Gleich darauf schob sich ein dunkler Schatten aus dem Nebelschleier in der Enge. Er bewegte sich langsam auf den See zu. Erleichtert und freudig erregt atmeten wir auf. Das waren sie! Als sie an uns vorüberglitten, konnten wir fünf oder sechs geduckte Gastalten unterscheiden. Vergebens warteten wir, ob noch andere nachkämen. Die Akawois waren nur mit dem einen Boot ausgefahren. Kaum waren sie vorbei, so erklomm einer meiner Krieger das Ufer, um nach Kumaka zu eilen und dort die Nachricht von der nahenden Gefahr zu überbringen. Ungefähr nach einer halben Stunde wurde in der Siedlung Lärm geschlagen: Die Diebe waren entdeckt. „Alles läuft wie am Schnürchen”, raunte ich den Gefährten zu. „Nach unserem Plan müßten sie, wenn sie aus Leibeskräften rudern, gleich wieder bei uns auftauchen.” Ich hatte mich nicht geirrt. Nach wenigen Minuten schoß das Boot vorbei. Die Insassen handhabten die Ruder mit größter Hast, wahrscheinlich fürchteten sie, verfolgt zu werden. Als sie sich sechzig oder siebzig Schritt entfernt hatten und gerade noch zu erkennen waren, stießen wir ab. „Jetzt zeigt, was eure Augen wert sind!” ermahnte ich die Indianer leise. Kurz darauf lag die breite, etwas hellere Wasserfläche des Flusses vor uns. Das Boot der Akawois war nun besser auszumachen, und von rechts schob sich Amaks Itauba in unser Blickfeld. Jetzt konnten uns die fremden Indianer nicht mehr entgehen. „Wir dürfen ihnen nicht zu nahe kommen”, warnte ich meine Ruderer. „Es wäre gegen unseren Plan, wenn sie uns bemerken würden.” Kaum hatten die Akawois die Enge hinter sich gelassen, als sie sofort der Flußmitte zustrebten. Wir folgten. Unser Boot hielt ständig den gleichen Abstand zu ihnen, so daß wir den vor uns hingleitenden dunklen Bootskörper gerade noch erkennen konnten. Ich hatte ausgezeichnete Ruderer, die sich geschickt anstellten. Eine gute Meile fuhren die Akawois in der Mitte des Stromes flußaufwärts, dann näherten sie sich dem gegenüberliegenden Ufer. Dort ragte eine Landspitze in den Fluß hinein. Sie steuerten darauf zu. Als sie auf gleicher Höhe mit ihr waren, machten sie eine scharfe Wendung nach rechts und ruderten ans Ufer. „Sie wollen anlegen”, äußerte Fujudi. „Hinter jenem Vorsprung liegt ein ähnlicher See wie unser Potaro”, erklärte einer der Ruderer. Als wir um die Landzunge bogen, erblickten wir tatsächlich einen hell schimmernden Durchbruch, der sich deutlich von der schwarzen Wand des Urwalds abhob. Der Fluß bildete hier eine kleine Bucht, hinter der sich ein See ausbreitete. In diese Bucht lenkten die Akawois ihr Boot. Sie waren nur noch einige Dutzend Schritt vom Ufer entfernt, als sich etwas Unvorhergesehenes ereignete. Irgend etwas mußte ihrem Boot im Wege sein, denn sie ruderten plötzlich mit aller Kraft rückwärts. Wir bemerkten dies zu spät, und unsere Itauba, die immer noch in der alten Richtung weiterfuhr, geriet in gefährliche Nähe des feindlichen Bootes. Inzwischen hatte ich begriffen, was geschehen war. Die Akawois waren auf einen großen Baum aufgefahren, der in der Strömung trieb; nun fuhren sie zurück, um sich von dem Astwerk zu befreien. In diesem Augenblick erscholl ein gedämpfter Warnruf vor uns. Wir waren entdeckt! Fast gleichzeitig erhielt unser Boot einen Stoß, mein Nachbar wurde von einem Speer durchbohrt, stöhnte , laut auf und sackte zusammen. Doch wir waren auf einen Zusammenstoß vorbereitet. Der vorderste und der hinterste Ruderer trieben das Boot weiter voran, die übrigen griffen schnell zu den Waffen. Die Sehnen der Bogen surrten, und wie die Bewegung beim Gegner verriet, fanden unsere Geschosse ihr Ziel. Jetzt waren wir herangekommen. Speere bohrten sich in menschliche Körper. Ich verspürte einen heftigen Schlag an der linken Schulter. Zum Glück glitt die Keule seitwärts ab, und ich konnte dem Angreifer meinen Spieß in den Leib rennen. Einer sprang ins Wasser und versuchte zu fliehen. Er kam aber nicht weit. Eine Keule sauste nieder und zertrümmerte ihm den Schädel. Als wir alle überwältigt und den Toten aus dem Wasser gezogen hatten, nahmen wir ihr Boot ins Schlepptau und ruderten der Mitte des Flusses zu, wo die Strömung am stärksten war. Dort warfen wir die Leichen ins Wasser, damit es sie in den Orinoko trage. Einer der Feinde war noch am Leben, und Fujudi versuchte, ihn zum Sprechen zu bringen. Es war vergeblich. Der Gefangene verlor das Bewußtsein und starb. Er folgte den andern in die Tiefe des Flusses. Wir hatten zwei Tote und einen Schwerverwundeten, außer-dem gab es keinen unter uns, der nicht etwas abbekommen hatte. Der erbitterte und kampfgewohnte Feind hatte uns, obgleich er überrascht worden und zahlenmäßig unterlegen gewesen war, empfindliche Verluste beigebracht. Der Kampf war so schnell entbrannt, daß bereits alles vorüber war, bevor uns das Boot Arnaks erreichte. Auf dem Rückweg fuhren unsere Itauben dicht nebeneinander, das erbeutete Boot schleppten wir hinter uns her. Es wurde kein Wort gesprochen, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. „Arnak!” rief ich leise, als wir bereits unseren See erreicht hatten. „Ist dir klar, daß der Krieg begonnen hat? Es wird ein blutiger Kampf. Sechs haben wir getötet. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir bringen sie alle um, oder sie werden uns vernichten.” „Sie werden sterben”, erwiderte er ruhig und mit bewundernswerter Bestimmtheit. Wenig später fügte er, gleichsam erklärend, hinzu: „Jetzt kennen wir ihr Versteck.” Die meisten Bewohner Kumakas mieden in dieser Nacht den Schlaf und warteten auf unsere Rückkehr. Groß war ihre Freude, als sie vernahmen, daß wir den Sieg davongetragen hatten; doch gab es auch Trauer und Schmerz, denn nicht alle waren lebend wiedergekommen. Der größeren Sicherheit wegen ließ ich die Wachen bei den Hütten der Akawois verdoppeln. Anschließend berief ich die Ältesten und einige bewährte Krieger an das entgegengesetzte Ende der Siedlung, um sie rasch über das Vorgefallene zu unterrichten. „Wir wissen nun, wo sich die Akawois versteckt halten. Sie befinden sich auf der anderen Seite des Itamaka, oberhalb der Bucht hinter der Landzunge. Noch in dieser Nacht fahren unsere Kundschafter aus, um am Morgen ihren Lagerplatz festzustellen. So-bald sie zurückkehren, beschließen wir, wie wir den Feind vernichten.” „Wer wird die Kundschafter begleiten?” fragte Manauri. „Wer? Ich natürlich, die Aufgabe ist sehr wichtig’, gab ich zur Antwort. Von mehreren Seiten wurde Einspruch erhoben: ich hätte nicht geschlafen, ich könne den linken Arm kaum gebrauchen, ich müsse meine Kräfte für später aufsparen usw. Die übergroße Besorgtheit der Gefährten belustigte mich fast. Um dem Gerede ein Ende zu machen, rief ich schließlich aus: „Wer, zum Geier, will also mitfahren?” „Ich!” erklärte Arnak in entschiedenem Ton. Eine englische Brigg geht vor Anker Am Morgen fiel ein ausgiebiger Platzregen, gewissermaßen als Vorgeschmack der bald zu erwartenden Regenzeit. Dann verbreitete die aufgehende Sonne deinen blutroten Schein, der von vielen Menschen in Kumaka als Prophezeiung eines schweren Kampfes angedeutet wurde. Ich erwachte neu gestärkt. Mein linker Arm war blutunterlaufen, doch der Schmerz hatte nachgelassen. Nach Sonnenaufgang legten die Akawois wieder ihre noch nicht veräußerten Waren aus. Etwa hundert Schritt weiter waltete Arasybo unter dem Jaguarschädel seines Amtes und versuchte mit eifrig gemurmelten Zauberformeln, sich ihren Willen untertan zu machen. Ich trat heran, nickte den Händlern zu und fragte mit besorgter Miene: „Heute nacht wurdet ihr sicher aus dem Schlaf gestört?” Dabaro sah mir ernst in die Augen. „Ja, wir sind aufgewacht, als wir Geschrei hörten.” „Und was habt ihr euch gedacht?’ „Daß die Spanier gekommen seien, die ihr erwartet’, antwortete er, ohne im geringsten verlegen zu werden. „Diesmal waren es nicht die Spanier, sondern Indianer.” „Indianer?” wiederholte der Akawoi mit gespielter Ungläubigkeit und gewissen Anzeichen von Unruhe. „Ja, Indianer. Sie wollten unsere Boote stehlen. Es waren die Lumpenkerle aus Serima, wir stehen mit ihnen auf sehr gespanntem Fuß.” Ein kaum wahrnehmbares Lächeln spielte um seine Lippen. „Wirklich?” fragte er verwundert. „Und ihr habt sie erwischt?” „Nein.” „Woher willst du dann wissen, daß die Diebe aus Serima waren?” „Wer sollte es sonst gewesen sein, wenn nicht sie?” „Ja, das ist wahr. Wer sollte es sonst gewesen sein?” Er machte ein überzeugtes Gesicht und äußerte dann: „Hör zu, Weißer Jaguar, wir sind nun schon drei Tage hier zu Gast. Es ist an der Zeit, daß wir euer Dorf verlassen.” „So wollt ihr uns nichts mehr vortanzen? Das ist schade.” „Wir tanzen euch gern noch einen Tanz, sehr gern sogar; nur wollten wir bereits heute nachmittag abfahren.” „Abfahren? Seid ihr nicht zu Fuß gekommen?” Dabaro ließ sich nicht verblüffen. „Natürlich sind wir zu Fuß gekommen”, antwortete er. „Jetzt wollen wir aber für die Dinge, die uns noch verblieben sind, ein Boot eintauschen. Sie sind es wohl wert?’ Auf der Matte lagen noch sechs Beile, vier oder fünf Messer, einige Tongefäße mit Urarigift sowie verschiedener Kleinkram. „Gut, Dabaro, ich werde die Ältesten fragen, ob sie ein Boot abgeben wollen.” Ich suchte sofort Manauri auf, und es wurde eine Beratung einberufen. Nachdem ich den Häuptlingen die Bitte Dabaros unterbreitet hatte, ergriff Mabukuli als erster das Wort: „Ich rate, daß wir sie nicht mehr länger als Gäste behandeln. Nehmen wir sie gefangen und legen sie als Geiseln in Fesseln. Die Waren werden ihnen abgenommen. Sollten wir von den übrigen überfallen werden, so töten wir die Gefangenen.” „Und wenn sie uns nicht angreifen, sondern wir über sie herfallen, was so gut wie sicher ist, was soll dann mit den Gefangenen geschehen?” warf ich ein. „Es sind blutgierige Feinde. Dann töten wir sie ebenfalls.” „Ich glaube kaum, daß ich dem zustimmen würde! Diese acht Krieger haben uns bisher nichts Böses getan.” „Sie können uns aber noch manches zufügen. Acht tote Akawois sind acht Feinde weniger”, widersetzte sich Mabukuli, und die Mehrzahl der Anwesenden teilte diese Ansicht. In diesem Augenblick erhob Manauri seine Stimme: „Der Weiße Jaguar wünscht, daß wir uns wie ehrenvolle Krieger benehmen und nicht wie treulose Schufte. Bisher hat es sich immer als richtig erwiesen, was uns der Weiße Jaguar geraten hat. Wir werden sie also nicht gefangennehmen, sondern laufen lassen. Es fragt sich nur, wie wir uns zu ihrem Angebot stellen. Ob wir ihnen ein Boot überlassen?” „Ich würde ihnen keines geben”, knurrte der beleidigte Mabukuli. „Wozu sollen wir ihnen den bevorstehenden Kampf gegen uns noch erleichtern?” „Was den Kampf am meisten erleichtert, ist eine gute Waffe. Sechs Beile und fünf Messer werden in unsere Hände übergehen, und Boote für den Kampf besitzen wir trotzdem genug.”' Fast alle unterstützten den Oberhäuptling. „Übrigens”, fuhr Manauri fort, „werden wir ihnen unsere schlechteste Itauba abtreten; wir besitzen eine, die schon ziemlich morsch ist. „Und wenn sie diese nicht annehmen?” „Eine andere kriegen sie nicht.” „Wenn sie das Boot ablehnen”, warf ich dazwischen, „werden wir ihnen ein anderes geben. In der folgenden Nacht kommt es sowieso zur entscheidenden Auseinandersetzung, dann nehmen wir ihnen die Itauba wieder ab.” „Das ist wahr”, stimmten sie zu. „Und noch ein Umstand spricht dafür, ihren Wunsch zu erfüllen”, fuhr ich fort. „Die Akawois beabsichtigen uns heute nachmittag zu verlassen. Unsere Kundschafter werden ihnen heimlich folgen, und mit Sicherheit erfahren wir auf diese Weise interessante Dinge.” Als unsere Besprechung zu Ende ging, rief jemand von der anderen Seite des Sees, daß er übergesetzt werden wolle. Beim Näherkommen erkannten wir in ihm den Sohn des Fischers Ka-tawi, dessen Hütte an der Mündung des Itamaka in den Orinoko lag. Er bemerkte die Versammlung, sprang gewandt ans Ufer und rannte auf uns zu. Sein Gesicht und sein ganzes Gehaben ließen erkennen, daß er eine wichtige Neuigkeit bringe. „Zu dir, Herr. . . zu dir!” Er rang nach Atem. „So sprich schon”, drängte Manauri neugierig. „Weißer Jaguar, zu dir kommen Paranakedis — Engländer!” „Engländer? Was faselst du da? Was für Engländer?” „Auf einem großen Segler.” „So groß wie unser Schoner?” „ Oh, er ist größer, viel größer.” „Sprich doch vernünftig, Menschenskind!” Wie der Sohn Katawis berichtete, war am Abend vorher eine Zweimastbrigg den Orinoko heraufgekommen. Sie ging an der Mündung des Itamaka vor Anker, denn wegen der Ebbe nahm die Strömung der Flüsse zu. Es wurde ein Boot ausgesetzt, und einige Matrosen sowie drei Warraulen aus Kaiiwa, die als Vermittler dienten, kamen an Land. Sie gingen zu Katawi und gaben ihm zu verstehen, daß die Brigg ein englisches Schiff sei und daß der Kapitän den Weißen Jaguar aufsuchen wolle. Der Fischer ging daraufhin an Bord, um ihnen den Weg flußaufwärts zu weisen, während sein Sohn zu Fuß nach Kumaka eilte, um uns über die Ankunft der Engländer in Kenntnis zu setzen. Da das Schiff mit dem Beginn der Flut seine Reise hatte fortsetzen wollen, war jeden Augenblick mit seinem Eintreffen zu rechnen. „Und du weißt ganz bestimmt, daß sie ausschließlich mich zu sprechen wünschen?” fragte ich Katawis Sohn und wollte meinen Ohren nicht trauen. „Ganz bestimmt! Ich konnte zwar nicht viel verstehen, doch wiederholten sie immer wieder den Namen Weißer Jaguar und noch einen andern. . .” „Vielleicht John Bober?” „Ja, richtig, John Bober.” Es gab keinen Zweifel mehr, diese Engländer kannten mich und waren auf dem Wege zu mir. Natürlich versetzte mich die Nachricht in ungewöhnliche Aufregung. Eine eigenartige Unruhe kam über mich: Was, zum Kuckuck, mochten sie von mir wollen, daß sie in diesem menschenleeren Labyrinth nach mir suchten? Drohte mir vielleicht Gefahr von ihrer Seite? Noch hatte ich die drei Jahre zurückliegenden Ereignisse in Virginia in lebhafter Erinnerung. Die machthungrigen Beherrscher dieser Kolonie, Eigentümer riesiger Ländereien, hatten damals Lord Dunbury völlig unbegründet ermächtigt, von dem Tal des Potomacflusses Besitz zu ergreifen, das durch Generationen von mutigen und arbeitsamen Pionieren, unter denen sich auch unsere Familie befand, bewirtschaftet worden war. Als sie uns mit Gewalt unsere Besitzungen entreißen wollten, hatten die verzweifelten Ansiedler zu den Waffen gegriffen. Mir wurde die Führung einer Abteilung anvertraut. Von einer großen Ü ermacht bedrängt, erlitten wir eine Niederlage, und die rachgierigen Sieger sparten nicht mit Galgen. Sie hetzten mich wie ein Stück Wild, doch es gelang mir, die Mündung des Jakuba zu erreichen, wo ich durch glückliche Umstände auf ein Kaperschiff entwischte. Später verschlug mich das Schicksal auf eine Insel in der Karibischen See, und nun hauste ich im Urwald am Orinoko. Ob den hochmütigen virginischen Lords meine Rettung zu Ohren gekommen war? Ob sie nun ihre grausamen Fänge nach mir ausstreckten? Ich kannte ihre verbissene Wut, doch nach einiger Überlegung erschien mir ein so ausgedehnter Rachezug unwahrscheinlich, zumal ich ihnen schon lange Zeit nicht mehr gefährlich war. Um so rätselhafter stand die quäIende Frage vor mir, warum die Engländer in diesem verlassenen Urwaldwinkel nach mir forschten. „Was glaubst du?’ fragte ich den jungen Indianer. „Ob es Freunde sind?” „Natürlich sind es Freunde”, gab dieser zur Antwort. „Wieviel Matrosen waren auf dem Schiff?” „Ungefähr dreimal soviel wie Finger an den Händen. Ich sah fast ausschließlich Weiße, Engländer.” In dem Augenblick zerriß der Donner eines Kanonenschusses die Luft. Er kam vom Itamaka her, von der Durchfahrt aus dem Potarosee in den Fluß. „Wir müssen sie auf unseren See lassen”, sagte ich zu Manauri. „Schicke einige Boote aus, sie sollen das Schiff mit Leinen zu unserer Siedlung schleppen.” „Jan”, erwiderte der Häuptling warnend, „bist du sicher, daß es Freunde sind?” „Du hast selbst gehört, was der Sohn Katawis berichtete. Nach all dem sind es Freunde, doch kann Wachsamkeit nie schaden!” Während sich sechs bemannte Itauben auf dem Weg zur Seemündung befanden, ließ ich Wagura zu mir kommen und sagte zu ihm in englischer Sprache: „Ich weiß nicht, wer diese Engländer sind und was sie von mir wollen. Wir müssen daher auf der Hut sein. Leider ist Arnak nicht im Dorf, er wäre jetzt von Nutzen. Such dir mit Wissen Manauris fünfzehn gewandte Krieger aus, möglichst aus unserer Sippe, verseht euch mit den besten Waffen und haltet euch an meiner Seite. Achtet auf alles, genauso wie damals, als die Spanier nach Serima gekommen waren. Bleibt ständig in meiner Nähe.” „Was soll das bedeuten, Jan?” platzte Wagura heraus und setzte eine leidvolle Miene auf. „Irgendwo am Fluß lauern die Akawois, um uns zu vernichten, die acht Burschen im Dorf hier würden uns am liebsten an die Gurgel springen, und jetzt rückt uns noch ein ganzes Schiff voller Leute auf den Hals, deren Absichten unklar sind; man weiß gar nicht, gegen wen man sich zuerst zur Wehr setzen soll. Wird das nicht langsam ein bißchen zuviel, Jan?’ fragte er mit gramverstelltem Gesicht und brach gleich darauf in fröhliches Lachen aus. „Du hast recht, es ist ein bißchen viel, doch soll der Kopf ruhig ein wenig schmerzen. Hauptsache, er bleibt uns erhalten!” In der Hütte angelangt, trug ich Lasana auf, schnell die spa- nische Kapitänsuniform hervorzusuchen und zu säubern, und zog mir, um den Glanz zu vervollständigen, sogar die Stiefel an. Nach-dem ich den Degen eingehängt hatte, nahm ich die silberne Pistole zur Hand, schüttete frisches Pulver auf und schob sie in den Gürtel. Kurze Zeit später erschien die Brigg am Ende des Sees. Die Durchfahrt bereitete keine Schwierigkeiten, da das Wasser ziemlich tief war. Obgleich im Augenblick kein Wind wehte, hatte das Schiff die Vollsegel gesetzt und erschien in dem engen grünen Rahmen wie ein Sagenbild aus einer anderen Welt, wie etwas überaus Majestätisches, das Furcht und Bewunderung zugleich hervorrief. Dem Zug der Leinen folgend, glitt der Segler langsam über das Wasser und näherte sich der Siedlung. Durch das Leben in der Wildnis war ich der Zivilisation bereits so sehr entwöhnt, daß mich der Anblick der stattlichen Brigg zutiefst aufwühlte, ja fast zu Tränen rührte. Erfüllt von einem eigenartigen Gefühl des Stolzes, spürte ich, wie mir die Augen feucht wurden. Was würde mir das prachtvolle Schiff bringen? Barg es ein Lächeln des Schicksals oder neues Leid und Ungemach? Um diese Frage kreisten meine Gedanken. Als die Brigg, die den Namen „Capricorn” trug, etwa zwanzig Fuß vom Ufer entfernt Anker geworfen hatte, bestiegen der Kapitän, ein Teil der Matrosen sowie Katawi und die Warraulen eine Schaluppe und ruderten an Land. Nach indianischem Brauch erwartete ich die Gäste in Gesellschaft Manauris und der übrigen Häuptlinge unter dem Dach eines geräumigen Tokios. Unweit davon, gewissermaßen als Leibgarde, hatten Wagura und seine Abteilung Aufstellung genommen. Alle Männner Kumakas standen unter Waffen, doch waren sie in verschiedenen Hütten des Dorfes versammelt und traten nicht in Erscheinung. Ich ging den Fremden entgegen. Auf halbem Wege trafen wir uns. Der Kapitän war ein großer, stattlicher Mann im Alter von vierzig Jahren, mit blondem Haar und himmelblauen Augen. Der Ausdruck seines von einem Backenbart umrahmten Gesichts ließ einen starken Willen, Selbstvertrauen und eine gewisse Neigung zum Starrsinn erkennen; doch wirkte sein Gesicht nicht abstoßend oder widerwärtig, sondern erweckte Zuneigung. Mit ausholender Bewegung die Hüte ziehend, reichten wir uns die Hände, wobei ich sagte: „Sir, ich begrüße Sie herzlich in unserer wenig gastfreundlichen Wildnis.” Der Kapitän trat zwei, drei Schritt zurück, betrachtete mich vom Kopf bis zum Fuß mit unverhohlener, peinlich wirkender Neugier und lächelte ein wenig spöttisch. Endlich unterbrach er das unnötig lange Schweigen und erwiderte in gutmütigem Tonfall: „Wie geht es Ihnen, Mr. John Bober? Well, genauso habe ich Sie mir vorgestellt, kein bißchen anders! So sieht also der Mensch aus, der in Virginia die Rebellion entfachte, auf dessen Kopf die rechtmäßigen Machthaber eine hübsche Summe ausgesetzt haben, der sich den Piraten anschloß, der bei der Verteidigung entflohener Sklaven zwei spanische Abteilungen bis auf den letzten Mann aufgerieben und ihnen einen stattlichen Schoner sowie eine Menge Feuerwaffen abgenommen hat, der Don Esteban, den Abgesandten des venezolanischen Corregidors in Angostura, ins Bockshorn gejagt und ihm nachher noch die Leute erschlagen hat, der das Vertrauen zweier Stämme, der Arawaken und der War-raulen, besitzt und faktisch der König des ganzen unteren Orinoko ist.” Ich folgte den Worten des Kapitäns mit ständig wachsendem Staunen. Woher waren diesem fremden Menschen so viele Begebenheiten aus meinem Leben bekannt? Als er seine Rede einen Augenblick unterbrach, nutzte ich die Gelegenheit und sprach: „Wenn Euer Gnaden mich mit diesen Worten überraschen wollten, so ist Ihnen das gründlich gelungen. Alle Achtung, ein ganz ausgezeichneter Nachrichtendienst! Nur zwei kleine Irrtümer sind richtigzustellen. „Was sagen Sie?” entsetzte er sich, als ginge es gegen seine Ehre. „Welche Irrtümer?” „Ich habe niemand von den Leuten Don Estebans erschlagen.” „Aber es sind doch einige ums Leben gekommen?” „Das stimmt. Einige sind umgekommen, aber nicht durch mein Dazutun. .. Auch der Titel ,König des unteren Orinoko' entspricht nicht den Tatsachen. Doch bitte ich, Sir, verraten Sie mir, auf welche wunderbare Weise diese Dinge zu Ihren Ohren gedrungen sind?” „Ich komme aus dem Süden, von unseren Faktoreien am Esse-quibo. Glauben Sie nicht, daß Sie dort ein Unbekannter sind.” „Und Sie sind nur deshalb den Orinoko heraufgefahren, um mir das Vergnügen zu bereiten, mich davon in Kenntnis zu setzen?” Ich lachte. „Ich befinde mich auf einer Reise von Guayana nach New York und bin in der Tat von meiner Route abgewichen, um mich mit Ihnen zu unterhalten, allerdings nicht wegen Ihrer Berühmtheit, sondern wegen einer sehr wichtigen Sache.” Inzwischen waren wir im Schatten des Toldos angelangt. Ich stellte dem Kapitän die Häuptlinge vor, dann nahmen wir Platz und versuchten die von Frauen dargebotenen Speisen. Ich bemerkte, daß dem Gast die einfache indianische Küche nicht besonders mundete, den Kaschiri wollte er überhaupt nicht probieren. Er winkte einen Matrosen herbei, der einem großen Korb mehrere Flaschen Rum entnahm und sie vor uns auf den Boden stellte. Ich war des Trinkens völlig entwöhnt, und als ich einen kleinen Schluck nahm, brannte es in meinem Mund wie Feuer, und mir wurde einen Augenblick ganz schwindlig. Mir war froh zumute, weil ich mich nach zwei ganzen Jahren wieder einmal mit einem Landsmann unterhalten konnte, der dazu noch freundschaftlich gesinnt war. Als der Kapitän auch die Häuptlinge mit Rum zu bewirten gedachte, wollte ich ihnen diesen besonderen Genuß nicht verderben, doch achtete ich darauf, daß jedem nur wenig eingegossen wurde. Mehr ließ ich nicht zu, denn weder sie noch ich waren an derartig scharfe Getränke gewöhnt. „Wozu diese übertriebene Mäßigkeit?’ fragte der Gast etwas verärgert. „Wir haben heute noch eine unangenehme Pflicht zu erfüllen: Es wird Blut fließen.” „Ein Blutvergießen?” „Ja. Die Akawois halten sich hier in der Nähe auf, mit ihnen werden wir heute kämpfen.” Der Kapitän sah mich an, als habe er den Faden verloren. Die Ruhe, mit der ich ihm das eröffnet hatte, brachte ihn völlig aus der Fassung. Als er seine Selbstbeherrschung wiedergefunden hatte, erwiderte er in etwas gereiztem Ton: „Der junge Mann geruht auf eigenartige Weise zu scherzen.” „Der junge Mann wünschte, daß es ein Scherz wäre”, gab ich in dem gleichen besonnenen Tonfall wie zuvor zur Antwort. „Leider ist es blutiger Ernst. Wir werden uns noch heute schlagen.” „Goddam you — und das sagen Sie mit einer solchen unerschütterlichen Ruhe?” „Ich kenne keinen Fall, Sir, in dem durch Haareausraufen ein Feind getötet worden wäre.” „Und wo stecken diese Akawois?” „Ihre Hauptabteilung hält sich ungefähr eine Meile flußaufwärts von hier am jenseitigen Ufer verborgen, und acht befinden sich in unserem Dorf.” „Gefangene?” „Nein, freie! Sie sind als Händler gekommen, um Späherdienste zu leisten.” Da ich die Verblüffung auf seinem Gesicht bemerkte, erklärte ich ihm ausführlich, wie die Dinge standen. Er hörte zu, wischte sich den Schweiß von der Stirn, betrachtete mich ab und zu mit scheelen Blicken, und als ich fertig war, sprang er auf und bat, ich möge ihn zu den acht Akawois geleiten. „Sehr gern”, erklärte ich. „Wir müssen uns sowieso von ihnen verabschieden, denn sie verlassen uns heute nachmittag.” Manauris Leute zogen die Itauba herbei, die für die Akawois bestimmt war. Dabaro und zwei seiner Gefährten untersuchten das Boot und rümpften die Nase wegen seines schlechten Zustandes. „Ein anderes können wir euch nicht geben”, sagte Manauri, „wir können nur dieses eine entbehren.” Nach einigen Einwänden stimmten sie zu. In diesem Augenblick sprach der Kapitän sie an, und zwar in ihrer Muttersprache: „Von wo kommt ihr?” Dabaro, der über die Sprachkenntnis des Kapitäns genauso verwundert war wie wir, antwortete: „Vom Cuyuni.” „Aus welchem Gebiet? Wer ist Euer Häuptling?” „Wir leben an der Mündung des Tapuru. Unser Häuptling heißt Aharo.” „Wo befindet er sich zur Zeit?” „Das weiß ich nicht.” „Du bist ein schlechter Krieger, wenn du nicht einmal weißt, wo sich dein Häuptling aufhält... An der Mündung des Tapuru liegt eine Faktorei der Holländer. Warst du schon einmal dort?” „Ja, ich habe Waren von den Holländern eingehandelt, um sie weiterzuverkaufen.” „Die Holländer brauchen Sklaven für ihre Plantagen. Weißt du davon?” „Davon weiß ich nichts, Herr.” „Dann bist du ein Kindskopf!” Der Kapitän machte eine wegwerfende Handbewegung, und wir kehrten zum Toldo zurück. Unterwegs übersetzte mir Fujudi die Worte des Gesprächs. Der Kapitän bot uns Zigarren von der Insel Jamaika an und verharrte in längerem Schweigen, er schien etwas zu erwägen. Endlich ließ er sich eine Karte von Guayana und Ostvenezuela bringen und breitete sie vor mir aus. Ich rief Pedro herbei, damit er sich die Karte einpräge, um sie später nachzuzeichnen, denn sie war natürlich viel genauer als unsere. „Hier, an der Mündung des Tapuru, am Mittellauf des Cuyuni, liegt jene Faktorei der Holländer”, erklärte er mir. „Sie ist ihr am weitesten nach Nordwesten vorgeschobener Stützpunkt. Er liegt im Hinterland unseres, des englischen, Einflußgebietes und durchkreuzt unberechtigterweise unsere Interessen; denn wir sind schon vor langer Zeit übereingekommen, daß der Berbice und dessen sich nach Südosten erstreckendes Stromgebiet die Einflußzone der Holländer bilden. Jetzt ist es soweit, daß die Holländer am Cuyuni nicht nur unsere Pläne untergraben, sondern sie verpflichten sich die von ihnen abhängigen Indianer und schicken sie gegen andere Stämme auf Sklavenjagd. Eure Aka-wois sind mit Booten den Cuyuni heraufgekommen, haben den Höhenzug des Piacoa überquert und gelangten so in das Quellgebiet des Itamaka. John Bober, hier liegt ein weiteres Glied unserer gemeinsamen Interessen!” Das Wort „unserer” sprach er mit besonderer Betonung und warf mir durch den aufsteigenden Rauch seiner Zigarre einen bedeutungsvollen Blick zu. „Ein weiteres Glied!” wiederholte ich. „Gibt es noch andere Glieder gemeinsamer Interessen?” Er war sichtlich zufrieden, daß ich diese Überlegung angestellt hatte. „Die gibt es”, erklärte er, „und sie beziehen sich auf Dinge von größter Tragweite, in denen Sie, Mr. Bober, nicht die letzte Rolle spielen sollen. Doch gestatten Sie zunächst, daß ich mich Ihnen vorstelle.” Er hieß James Powell und war nicht nur der Eigentümer der „Capricorn”, sondern besaß auch eine Faktorei und eine Plantage an der Mündung des Essequibo in den Atlantik. Die dort bestehende englische Unternehmer-Kompanie hatte ihren eigenen Gouverneur, und Powell war dessen Stellvertreter. Wie die holländische und französische Kolonie weiter im Südosten entwickelte sich auch diese Kolonie auf umstrittenem Boden. Die venezolanischen Spanier erhoben Anspruch darauf, waren aber faktisch außerstande, die Eindringlinge mit Gewalt zu verjagen, zumal diese Landstriche in allzu großer Entfernung von ihren Machtzentren im Westen lagen. Schon seit längerer Zeit liefen Verhandlungen zwischen London und den Vertretern der Engländer in Guayana wegen einer offiziellen Annexion dieser Kolonie durch England. Es war ein offenes Geheimnis, daß es früher oder später dazu kommen würde, wobei sich die Engländer mit der Absicht trugen, bei dieser Gelegenheit die Spanier auch gleich um die nördlich der Orinokomündung gelegene Insel Trinidad zu erleichtern. „Haben Sie die Güte und betrachten Sie einmal genau diese Karte”, forderte mich der Kapitän auf. „Ziehen Sie aus der Geographie Ihre eigenen Schlußfolgerungen. Im Norden liegt die In-sel Trinidad, im Süden der Essequibo, und was befindet sich in der Mitte? Die Mündung des Orinoko. Wenn sich der englische Staat die beiden Flügelpunkte einverleibt hat, so stellt die Besitzergreifung des mittleren Teiles, also der Orinokomündung, nur eine natürliche Folge dieser Züge dar, gewissermaßen deren Vervollständigung. Dann sind wir die Herren des ganzen nordöstlichen Teiles von Südamerika und werfen die Spanier weit nach Westen zurück, bis an den Fuß der Anden.” „Und welche Rolle soll ich dabei spielen?” fragte ich ihn. „Eine äußerst wichtige. Sie sind Engländer. Sie haben am Orinoko festen Fuß gefaßt, Ihr Einfluß auf die Arawaken ist unbegrenzt, Sie sind der große Freund und Verbündete der Warraulen. Als Besieger der Spanier und Verteidiger der Indianer umgibt Sie der Ruhm eines hervorragenden Häuptlings, und als Vertreter unserer Interessen werden Sie zu einer unbesiegbaren Macht am unteren Orinoko. Selbstverständlich können Sie in jeder Beziehung auf unsere Unterstützung zählen, wenn sie auch geheim bleiben muß. Wir werden Ihnen helfen, Angostura und andere spanische Stützpunkte am Mittellauf des Orinoko zu erobern und in Schutt und Asche zu legen. Ihr Einfluß wird die Indianer freundlich stimmen gegenüber den Engländern, sie werden unser Kommen herbeiwünschen, und wenn dann die große Glocke der Geschichte ihren Schlag ertönen läßt, übertragen Sie Ihre Herrschaft der englischen Krone. Selbstverständlich verbleiben Sie als Gouverneur am unteren Orinoko, und sollten Sie den Wunsch haben, Virginia zu besuchen, so können Sie versichert sein, daß es sich Lord Dunbury zur Ehre anrechnen wird, wenn Sie ihm freundschaftlich die Hand reichen.” Verlockende und süße Worte sprach der gute Kapitän Powell; er verstand es, verführerische Bilder zu malen. Nur daß sich der hochmütige Lord Dunbury durch den Händedruck John Bobers geehrt fühlen sollte, ließ leichte Zweifel in mir aufkommen. Diesen Herrn kannte ich zu gut. „Und wann wird nach Ihrer Meinung die Glocke der Geschichte ihren Schlag ertönen lassen?” fragte ich. „Solche Dinge lassen sich schwer voraussehen, denn sie sind davon abhängig, was in der großen Arena der Welt geschieht. Jedenfalls können Ihre Anwesenheit und Ihr Wirken am Orinoko den Lauf der Ereignisse erheblich beschleunigen.” Dann schilderte mir Powell, daß ich nicht der erste Engländer in diesem Gebiet sei, daß wir hier bereits unsere Tradition besäßen. Schon 1595 war Sir Walter Raleigh auf der Suche nach dem legendären Goldland mit seiner Flottille vierhundert Meilen den Orinoko hinaufgefahren. Zu jener Zeit waren hartnäckige Gerüchte im Umlauf, daß dieses Land irgendwo im Quellgebiet des Caroni, eines rechten Zuflusses des Orinoko, liegen solle. Raleigh konnte nur bis zu den ersten Stromschnellen des Caroni vordringen und kehrte ohne Gold zurück, dafür entstand aber auf dieser Expedition das erste englische Buch mit der Beschreibung des großen Flusses. Ein Jahr später legte Lawrence Keymis, ein Reisegefährte Raleighs, entlang der Küste den Weg von der Mündung des Amazonas zur Orinokomündung zurück. Ohne Zweifel war es seine genaue Beschreibung des Landes und der Indianer, die später die englischen Kaufleute dazu anregte, in Guayana Faktoreien zu gründen. „Wir stehen”, fuhr Kapitän Powell fort, „an der Schwelle neuer, schwerwiegender Ereignisse, in deren Verlauf uns riesige Streifen reichen Landes zufallen werden. Die Gelegenheit dazu ist außer-ordentlich günstig. Überlegen Sie doch, Mr. Bober, wie schwach die Spanier in diesen Breiten sind.” Das stimmte. Um den östlichen Teil Venezuelas hatten sich die Spanier wenig gekümmert; hier hatten sie im Gegensatz zum mittleren und westlichen Teil, den Mittelpunkten ihrer lebhaften kolonisatorischen Tätigkeit, nur wenig Stützpunkte angelegt. Sie waren also im Osten wirklich schwach. Dabaro ließ uns benachrichtigen, daß die Akawois mit dem Abschiedstanz beginnen wollten. Wir unterbrachen daher unser Gespräch und sahen den Tänzern zu. Der Tanz unterschied sich nur wenig von dem gestern gezeigten Kriegstanz. Die Akawois hielten sich an den Händen gefaßt, stampften mit den Beinen und stießen laute Schreie aus, während einer überaus laut die Trommel handhabte. Arasybo, der seit Tagesanbruch mit bewundernswerter Ausdauer Zauberformeln gegen sie schleuderte, störte gewissenhaft den Takt des akawoi-schen Trommlers. Ich ließ ihm sagen, er möge damit aufhören und seine Trommel ruhen lassen. Manauri warf mir einen fragenden Blick zu. „Sollen sie ihren Leuten ruhig mitteilen, was sich hier ereignet hat’, erklärte ich ihm und deutete mit den Augen auf Kapitän Powell. „Es ist nur zu unserem Vorteil und kann uns niemals schaden.” Wir hatten rechtzeitig zwei schnelle, kleine Boote ausgesandt, von denen sich das eine ungefähr eine Meile oberhalb und das zweite eine Meile unterhalb der Seeausfahrt auf die Lauer legen sollte, um zu erkunden, wohin sich die „Händler” wenden würden. Zwei Stunden später verließen die Akawois Kumaka. Die Sonne neigte sich langsam der westlichen Himmelsseite zu, und Arnak war mit seinen Leuten immer noch nicht vom anderen Ufer des Flusses zurückgekehrt. Trotzdem begannen die Vorbe- reitungen für unsere nächtliche Expedition, an der die Mehrzahl unserer Krieger, genau einhundertfünfzig Männer, teilnehmen sollte. Sie mußten in Gruppen eingeteilt werden und Itauben zugewiesen bekommen, die einzelnen Führer hatten Anweisungen zu erhalten. Zur Tarnung und zum Schutz ließ ich an den Seiten der Boote größere Zweige befestigen. Ich war unruhig und hielt immer häufiger nach Arnak Ausschau. Sollte ihm etwas zugestoßen sein? Ich bedauerte bereits, daß ich ihm leichtsinnig erlaubt hatte mitzufahren. Endlich, es fehlte kaum mehr eine Stunde bis zum Sonnenuntergang, erschien sein Boot auf dem See. Welche Freude! Niemand von der Besatzung fehlte. Ich sandte ihm einen Boten entgegen, der ihn über das Eintreffen der Engländer unterrichten sollte. Am Ufer erwartete ich den jungen Freund. Ich war ihm so zugetan, daß mir vor Freude das Herz klopfte und ich über das ganze Gesicht strahlte. Er dagegen war mißgestimmt, sprang aus dem Boot und sprach: „Wir haben das Lager nicht gefunden.” Das war ein Schlag! Die ganzen Pläne waren vergebens, die Akawois blieben unerreichbar. „Habt ihr den See hinter der Landzunge gründlich abgesucht?’ „Und wie. Jeden Fußbreit des Ufers. Deshalb hat es auch so lange gedauert.” „Keine Spuren? Nichts?” „Nichts.” „Das bedeutet, daß ihr Lagerplatz noch weiter flußaufwärts liegt, als wir angenommen haben.” „So ist es.” Manauri, Mabukuli und Jaki traten zu uns. Ich unterrichtete sie in kurzen Worten über die Lage und fügte hinzu: „Daraus er-gibt sich, daß wir uns wieder auf Verteidigung einrichten und noch wachsamer sein müssen als bisher. Es fragt sich, was diese Nacht am Fluß vorgehen wird. Bis wohin werden die acht Akawois fahren? Wir müssen den Fluß genau überwachen.” Nachdem die Wachen um Kumaka verstärkt worden waren, konnte ich ein wenig ruhen und meine Gedanken dem zuwenden, was James Powell erzählt hatte. Waren es nicht sehr verlockende Aussichten, die eine ganze Reihe schöner Zukunftshoffnungen wachriefen? Der Haß gegen die Spanier und deren grausames Auftreten gegen die Indianer war mir so in Fleisch und Blut übergegangen, daß ihre Vertreibung aus der Gegend als äußerst wünschenswert erschien. Würde durch die Machtergreifung Englands das Land an diesem Fluß nicht für immer von solchen Sorgen befreit werden, wie sie uns die Akawois im Augenblick bereiteten? Öffnete sich damit für mich nicht gleichzeitig der Weg zu hohem persönlichem Ansehen und großen Ehren? Es waren unabschätzbare Vorteile, und doch — warum riefen sie in mir nicht eine solche Begeisterung hervor, die sie, wenn man die Sache für sich betrachtete, verdient hätten? Ob die von den Akawois drohende Gefahr meine Vorstellungskraft dämpfte, mir den klaren Blick in die Zukunft verschleierte? England würde Ordnung in dieses Land bringen, wiederholte ich mir im Geiste; doch dann drängte sich mir unwillkürlich die Frage auf: Was für eine Ordnung? Was hatte diese englische Ordnung für die Indianer zu bedeuten? Ich wußte es nur zu genau aus den Ereignissen in den mir nahestehenden nordamerikanischen Kolonien. Früher, als ich dies alles mit dem Auge des weißen Pioniers betrachtet hatte, war mir die Ausrottung der Indianer als eine völlig natürliche, unausbleibliche Sache erschienen, heute aber war alles anders. Die Umstände hatten mich auf die Seite der Indianer geschlagen, und ich sah und bewertete die Handlungen der weißen Menschen oft mit dem Auge des Indianers. Als die Sonne die Wipfel des Urwalds auf der anderen Seite des Itamaka berührte, erteilte ich die letzten Anweisungen für die kommende Nacht. Dabei kreisten meine Gedanken ständig um das ferne Virginia. Erinnerungen an Ereignisse aus den nicht so sehr weit zurückliegenden Anfängen dieser Kolonie wurden lebendig, Erinnerungen, die für die Engländer äußerst belastend waren. Die ersten Pioniere waren jämmerliche Gestalten aus den Londoner Elendsvierteln gewesen, der Abschaum der Gesellschaft. Pohattan und seine Indianer hatten sie gastfreundlich aufgenommen und sie oftmals durch reichliche Geschenke vor dem drohenden Hungertode errettet. Solange die Ankömmlinge schwach waren, zeigten sie sich verträglich, als sie immer zahlreicher wurden, begannen sie sich stark zu fühlen, ließen die Maske fallen und gebärdeten sich frech und rücksichtslos. Nun betrachteten sie ihre bisherigen Wohltäter als Freiwild, das getötet werden mußte. Nicht einmal vierzig Jahre waren seit dem Eintreffen der ersten Engländer vergangen, als die Kolonisten die letzten Reste des einst großen und tüchtigen Volkes Pohattans vernichteten. Man sagt, dies sei der unabänderliche Lauf der Geschichte; angesichts der Härte, Energie und Spannkraft der Engländer müßten die Eingeborenen dieses Schicksal erleiden. Sollte ich dazu beitragen, daß so gefährliche Menschen hier am Orinoko Eingang fanden? Natürlich waren Guayana und die Orinokomündung nicht Virginia oder Massachusetts. Hierher kamen die Engländer bisher meist als Kaufleute, und so würde es auch in Zukunft bleiben. Sie würden Faktoreien gründen, später aber würden sich Plantagen anschließen, und auf den Plantagen braucht man die arbeitsamen Hände der Sklaven. Diese würden sie von den unterjochten indianischen Stämmen holen, wie es die Holländer bereits jetzt taten, und wenn sich die Stämme dagegen zur Wehr setzten, so waren genügend Beispiele dafür vorhanden, was dann mit ihnen geschah. Nein, es wäre nicht klug, sich solche gefährlichen Menschen ins Land zu bringen, man mußte sich vor ihnen hüten und ihren geschickten Machtgelüsten solange wie möglich hartnäckigen Widerstand entgegensetzen. Die Sonne war verschwunden, und die Dunkelheit senkte sich herab, als ich mit meinen Gedanken über diese ernste Angelegenheit ins reine gekommen war. Mir war klärgeworden, daß die Spanier, weil sie am Orinoko so schwach waren, die annehmbarste Herrschaft bildeten, da ihre beschränkten Machtmittel den hiesigen Stämmen eine verhältnismäßig große Unabhängigkeit und Freiheit sicherten. Das Erscheinen anderer europäischer Machthaber, insbesondere meiner Landsleute, würde das Leben der Eingeborenen beträchtlich erschweren. Bevor ich das Gespräch mit Powell fortsetzte, mußten Kundschafter auf den Fluß entsandt werden. Wir suchten vier kleine Jabotas aus. Jede wurde mit zwei Kriegern bemannt, die über ausgezeichnete Augen verfügten. Die Indianer tarnten ihre Boote geschickt mit Zweigen. Eine Jabota sollte sich in der Durchfahrt zum Fluß verbergen, die übrigen sollten auf den Fluß hinausfahren. Nach reiflicher Überlegung beschlossen wir, die Boote eine Dreiviertelmeile flußaufwärts mit Hilfe eines Steinankers mitten im Fluß ankern zu lassen, ein Boot so weit vom andern entfernt, daß sie die ganze Flußbreite vor Augen hatten und niemand unbemerkt vorüberfahren konnte. Als wir auch die Art der Nachrichtenübermittlung festgelegt hatten, konnte ich zum Abendessen gehen und anschließend Kapitän Powell zu einer Unterredung bitten. Im Scheine des Feuers setzte ich ihm in höflichen, aber klaren Worten meine Ansicht auseinander und verbarg auch die Beweggründe nicht, die mich davon abhielten, die englischen Pläne zu unterstützen. Ernst und freundlich hörte er zu, am Schluß meiner Ausführungen jedoch wurden seine Augen schmal, und eine senkrechte Falte erschien auf seiner Stirn. „Junger Mann”, sagte er, nachdem ich ihm alles dargelegt hatte, „Sie sind doch Pole, nicht wahr?” Ich lachte. „Wieso bin ich Pole? Ich spreche nicht einmal zehn Worte Polnisch. Wenn auch meine Mutter in Polen geboren wurde und mein Vater polnisches Blut von meinem Urgroßvater in den Adern hatte, so waren doch unsere Großmütter und Urgroßmütter geborene Engländerinnen, und ich wurde in englischem Geist und in englischer Umgebung erzogen. Ich bin Engländer und nicht Pole.” Er dachte nach, zog an seiner Zigarre und blies öfter Rauchwolken vor sich hin, um die Mücken zu verscheuchen. Schließlich sagte er: „Die Situation der Indianer am Orinoko kann man nicht mit dem vergleichen, was im Norden geschehen ist, wie Sie selbst ganz richtig erwähnt haben. Auch den Handelscharakter unserer Kolonie in Guayana haben Sie gut umrissen, und es wird Ihnen daher auch bekannt sein, daß wir Engländer in den Indianern niemals Arbeitsmaterial für die Plantagen erblickt haben. Sollten wir hier einmal Plantagen anlegen, so werden wir Neger herbeischaffen, die Indianer aber lassen wir in Ruhe, im schlimmsten Fall werden wir sie etwas tiefer in den Urwald verdrängen. Was die Spanier betrifft, so irren Sie sich und unterschätzen die Gefahr, die von dieser Seite droht. Heute sind sie schwach, was aber nicht bedeutet, daß es immer so bleiben muß. Schon in wenigen Jahren kann sich das von Grund auf geändert haben. Und wie grausam und despotisch sie mit den Indianern verfahren, das wissen Sie selbst am besten. In unserer Geschichte ist es vorgekommen, daß wir aus höheren Gründen der Staatsräson gezwungen waren, indianische Stämme zu bekämpfen; doch wiederhole ich, daß dies hier im Süden nicht geschehen wird! Und wenn wir Krieg geführt haben, so haben wir uns nie Grausamkeiten zuschulden kommen lassen.” Dies erklärte er mit erhobener Stimme und fast prahlerisch, wenn auch durchaus im Rahmen des guten Benehmens. Sichtlich war er von der Richtigkeit seiner Ansicht überzeugt und ließ die Möglichkeit, daß jemand anders darüber denken könnte, überhaupt nicht zu. Mir schoß das Blut in den Kopf, doch beherrschte ich mich und biß mir auf die Lippe. Erst nach einiger Zeit antwortete ich: „Wenn ich mich nicht irre, geschah es im Jahr 1644, also vor rund hundert Jahren. Durch die bloße Tatsache ihrer Existenz wurden damals die Indianer in Virginia für unsere immer zahlreicheren Kolonisten zu einem unerträglichen Hindernis. Man entschied daher, den Eingeborenen den letzten Schlag zu versetzen. Um diese Aufgabe gründlich zu erledigen, nahmen alle Kolonisten zu einem niederträchtigen Betrug Zuflucht. Sie änderten mit einem Schlag ihre Haltung gegenüber den Indianern und täuschten herzliche Freundschaft vor, um sie aus ihren Verstecken zu locken. Die aus Gründen der Staatsräson geübte List hatte vollen Erfolg, und es begann das letzte Morden am Volke Pohattans. Die Kolonisten, wie schon vordem des öfteren, brachten alle um, deren sie habhaft werden konnten, auch die Frauen und die Kinder, selbstverständlich nur aus Gründen der Staatsräson. Vergeblich setzten sich die Indianer zur Wehr und kämpften verzweifelt, sie wurden aufgerieben, und einer der letzten, die bezwungen wurden, war der greise Häuptling Opentschakanuk, ein Bruder des schon lange nicht mehr lebenden Pohattan. Durch einen merkwürdigen Zufall wurde der Alte nicht auf der Stelle getötet, sondern gefangengenommen und nach Jamestown verschleppt. Hier ersann unser Gouverneur eine ungewöhnliche Todesart für ihn. Auf dem großen Platz ließ er einen Käfig bauen und setzte den Gefangenen hinein, zum Gaudium des Pöbels. Die Vorübergehenden sparten nicht mit Schmähungen und Beschimpfungen, viele spien dem Greis ins Gesicht und stießen ihn mit Stöcken. Der Gouverneur verurteilte ihn zum Hungertod, und tatsächlich starb Opentschakanuk nach einiger Zeit an Entkräftung. Seine einzige Schuld, das mußten auch unsere Geschichtsschreiber zugeben, bestand darin, daß der greise Häuptling bis zum letzten Augenblick für sein Land und für sein Volk gekämpft hat. Nein, Sir, wir Engländer haben uns nie Grausamkeiten gegenüber den Indianern zuschulden kommen lassen, niemals, nicht wahr?” Der Kapitän nahm die Erzählung gelassen auf, sogar mit einem Anflug von Humor. Er betrachtete mich eine Zeitlang durch die aus seiner Zigarre aufsteigenden Rauchkringel, streckte sich dann, gähnte vernehmlich und erklärte mit einem feinen Lächeln: „Well, Mr. Bober, Sie haben einen eigensinnigen Schädel, außerdem sind Sie wahrscheinlich heute etwas nervös durch die ungeklärte Situation mit den Akawois. Wir werden uns morgen weiter unter-halten. Gute Nacht, junger Mann.” „Gute Nacht, Mr. Powell. Vergessen Sie nicht, auf der Brigg Wachen auszustellen. Und lassen Sie die Büchsen und Pistolen mit frischem Pulver versehen!” Es war bereits tiefe Nacht, als eines der beiden Boote zurückkehrte, die die acht Akawois beobachten sollten. Dabaro und seine Leute hatten sich nach dem Verlassen des Sees flußabwärts gewandt, waren aber nicht bis Serima gefahren, sondern waren gelandet und hatten sich im Ufergebüsch verborgen, um die Dunkelheit abzuwarten. Unsere Späher gingen auch an Land, um sich zu überzeugen, ob nicht noch mehr Akawois in der Nähe waren, jedoch fanden sie nichts. Nach Einbruch der Dunkelheit bestiegen die acht wieder ihr Boot, sie setzten aber ihren Weg nicht fort, sondern machten kehrt und fuhren den Fluß hinauf. Die Unsern waren ihnen gefolgt, hatten sie aber oberhalb der Einfahrt zum See aus den Augen verloren. Daher kehrte ein Boot zurück, während das andere in der Durchfahrt verblieb. Diese Nachricht bestätigte unsere Vermutung, daß sich der Lagerplatz der Akawois weiter flußaufwärts befinden müsse. Ich suchte meine Hütte auf. Als Lasana die Schritte vernahm, erhob sie sich sofort und fachte das erlöschende Feuer an. In der einen Ecke schlummerte Arnak, in der anderen lagen Wagura und Pedro, die beiden unzertrennlichen Gefährten. Sie schliefen den gesunden Schlaf junger Menschen, die schwere Arbeit geleistet haben, ihre Hände ruhten auf ihren Büchsen und Messern. Sie waren bereit zum Kampf wie die meisten Einwohner Kumakas in dieser Nacht. Nicht nur von den Waffen ging eine mildernde Ruhe aus, auch auf ihren Gesichtern lag ein Ausdruck völliger Entspannung. Die jungen Indianer schenkten mir blindes Vertrauen, und ich empfand plötzlich das unbezähmbare Verlangen, im Geiste den Schwur abzulegen, daß ich ihren Glauben niemals enttäuschen werde. Ich warf mich auf das Lager und schlief ein. Als ich geweckt wurde, dauerte es geraume Zeit, bis ich zu mir kam. Noch im Halbschlaf fühlte ich, daß die Menschen ungewöhnlich erregt waren. Es waren mehrere, sie umstanden mein Lager. Neben Lasana bemerkte ich Manauri, Mabukuli, Fujudi und eine ganze Anzahl Krieger. Die Hütte war fast voll, immer mehr Indianer eilten herbei. „Jan!” vernahm ich die eindringliche Stimme Manauris. „Steh auf, die Akawois sind aufgebrochen!” Im Augenblick war ich bei Sinnen, der Schlaf war verflogen. Während ich auf die Beine sprang, rief ich aus: „Wo sind sie?” „Auf dem Fluß.” „Auf dem Fluß?” „Ja. Sie fuhren an unserem Dorf vorbei, in Richtung Serima.” „Wurde festgestellt, wie viele es sind?” „Über achtzig, soviel unsere Späher im Dunkel erkennen konnten. Sie fuhren in neun Booten.” „Wann haben sie das Dorf passiert?” „Eben jetzt. Sie können noch nicht weit sein. Ich habe die ganze Siedlung wecken lassen.” „Gut. Verfolgt sie jemand?” „Zwei von den drei Jabotas, die am Fluß Wache hielten, fahren hinter ihnen her.” Wagura und Pedro waren bereits erwacht, Arnak schlief noch wie erschlagen; der arme Kerl hatte die letzte Nacht überhaupt kein Auge zugetan, und der außergewöhnlich heiße Tag hatte ihm den Rest gegeben. Ich schüttelte ihn leicht am Arm und sprach freundschaftlich, aber laut in sein Ohr, „Arnak, lieber Bruder, steh auf, es geht los!” Er riß die Augen auf und starrte uns an. Der Kampf auf dem Fluß In Kumaka summte es wie in einem Bienenstock. Serima ist in Gefahr! Alle beherrschte der gleiche Gedanke: Die Akawois hatten erkannt, daß wir in Kumaka auf der Hut waren und entschlossen, Widerstand zu leisten, weshalb sie den Beschluß faßten, nicht uns, sondern Serima zu überfallen. Sicher hatten sie erfahren, daß die Seuche bereits erloschen war. Wir mußten den Brüdern in Serima schnellstens zu Hilfe eilen. Trotz der Eile und der Dunkelheit entstand keine Unordnung, denn jeder Krieger wußte genau, in welches Boot er gehörte. Meine Itauba mit Männern aus unserer Sippe stieß als erste vom Ufer ab. Wie von Teufeln besessen, durchpflügten wir das Wasser. Im Nu lag der See hinter uns, und kurz darauf erreichten wir den Fluß. Hier war Vorsicht geboten, um nicht in eine Falle zu geraten. Aber so sehr wir die Augen auch anstrengten, wir konnten nichts entdecken. Das Wasser vor uns war ruhig und der Himmel tiefschwarz, da der Mond noch nicht aufgegangen war. Plötzlich tauchte ein Schatten auf. Ein Boot? Auf meinen geflüsterten Befehl zogen die Männer die Ruder aus dem Wasser. Es gab keinen Zweifel mehr, vor uns bewegte sich etwas, nun konnten wir bereits gedämpftes Rudergeräusch unterscheiden. Das Boot hielt genau auf uns zu. „Ho!” rief ich leise. Die Insassen des Bootes hatten den Ruf vernommen und antworteten. Es war eine der Jabotas, die den Akawois gefolgt waren. Nun kehrte sie mit einer wichtigen Meldung zurück. Die Akawois hatten Serima nicht überfallen, sie fuhren weiter dem Orinoko zu. Erleichtert atmeten wir auf. Die Gefahr war an Serima vorübergegangen, ein Entsatz war nicht mehr nötig. „Wo stecken die beiden anderen Jabotas, die mit euch auf dem Fluß waren?” fragte ich. „Sie folgen den Akawois.” „Das ist gut so!” Unterdessen waren die übrigen Itauben aus Kumaka herangekommen. Wir ließen sie dicht neben uns halten und gaben die Nachricht weiter. „Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als nach Kumaka zurückzukehren”, sagte Manauri, der über die Wendung der Dinge sichtlich erfreut war. „Ja, wir kehren zurück’, stimmte ich ihm bei. „Nur müssen wir genau wissen, wohin sie fahren — flußabwärts oder den Orinoko hinauf, was mir weniger wahrscheinlich dünkt.” „Richtig! Wir schicken ihnen das Boot sofort wieder nach.” Die Besatzung schien nicht sehr erfreut über diesen Befehl des Oberhäuptlings und murmelte unwillig. „Glaubt nicht, daß wir der Gefahr bereits endgültig entronnen sind”, sagte ich warnend. „Die Absichten der Akawois kennen wir nicht, und daß sie etwas im Schilde führen, ist gewiß! Nicht nur eine Jabota schicken wir hinter ihnen her, sondern zwei, damit ihnen ständig vier Boote auf den Fersen sind. Außerdem müssen alle Arawaken, die unterhalb Serimas am Itamaka und am Orinoko leben, möglichst bald von dem Geschehenen in Kenntnis gesetzt werden.” „Sie erfahren es noch in dieser Nacht!” versicherte Manauri. In gehobener Stimmung fuhren die Krieger ins Dorf zurück. Die Spannung war gewichen, sie fühlten sich freier. Nach der ersten enthusiastischen Freude, die auch mich erfaßt hatte, kehrte rechtzeitig die kühle Erwägung zurück. Die Akawois waren abgefahren, aber wohin und mit welchem Ziel? Selbst Kapitän Powell hatte bestätigt, daß sie Sklavenjäger seien, und da sie uns als zu stachligen und unsicheren Bissen hatten fahrenlassen und Serima aus Furcht vor der Seuche mieden, so erhob sich die Frage, auf wen sie sich nun werfen würden. Wer war der nächste? Entschieden die Warraulen, ein wenig kriegerischer Stamm von Fischern, der die Ufer des Orinoko bevölkerte. Wenn sich die Akawois also nach dem Verlassen des Itamaka flußabwärts wandten, dann mochten die Götter den Warraulen beistehen! Gleich nach dem Eintreffen in Kumaka ließ ich Manduka und seine neun Warraulen herbeiholen und teilte ihnen in Anwesenheit Manauris und Fujudis, der als Dolmetscher diente, meine Befürchtungen mit. Manduka war sofort im Bilde. „Wir kommen ihnen zuvor! Wir werden unsere Gefährten vor ihnen warnen!” rief er entschlossen aus. „Sicher wollen die Aka-wois über die Unsern herfallen, sie haben es schon öfter getan. Wir brechen sofort auf. Gebt uns aber die gleiche Itauba, mit der wir den Spaniern nachgesetzt sind.” „Nehmt sie euch”, brummte Manauri. Die Warraulen stürzten davon, um ihre Waffen und sonstigen Habseligkeiten zu holen. Ich eröffnete den Ältesten, daß auch wir nicht abseits stehen könnten, wenn es um das Schicksal unserer Freunde und Verbündeten ging. Die Häuptlinge vernahmen meine Worte ohne Begeisterung und zögerten. Daher verlangte ich, daß ganz Kumaka sofort zu einer Beratung zusammengerufen werde. Als sich die Einwohner im Schein mehrerer Feuer auf dem Platz vor meiner Hütte versammelt hatten, erläuterte ich ihnen die Lage. Ungeachtet der so günstig erscheinenden Umstände, durften wir uns nicht sorglos der Ruhe hingeben, denn solange sich der Feind hier in der Nähe umhertrieb, hing unser aller Leben an einem Haar. „Wir müssen den Warraulen helfen, und zwar unverzüglich!” rief ich laut. „Das ist unsere heilige Pflicht! Wenn wir die nächsten Jahre in Ruhe verbringen wollen, müssen wir uns auf unsere Verbündeten verlassen können und deshalb heute den Akawois einen solchen Schlag versetzen, daß ihnen ein für allemal die Lust vergeht, uns wieder zu behelligen.” In der Versammlung entstand ein unwilliges Murren, und irgend jemand zischelte: „Wir wissen noch nicht einmal, wohin sich die Akawois gewandt haben.” „Richtig. Doch wenn sie den Orinoko hinunterfahren, dann ist es fast sicher, daß sie die Warraulen überfallen wollen. Geschieht es nicht, um so besser! Jedenfalls breche ich sofort zum Orinoko auf, und wer mein Freund ist und ein mutiges Herz besitzt, der möge mit mir kommen.” „Sollen alle Krieger mit zum Orinoko?” fragte Manauri. „Auf keinen Fall, höchstens hundert. Die übrigen müssen hierbleiben, denn wir wissen noch nicht, ob alle Akawois abgezogen sind, vielleicht hält sich in der Nähe eine zweite Abteilung verborgen. Auch du, Manauri, mußt zurückbleiben! Also, wer schließt sich mir an?” Ich überflog die Gesichter der Zunächststehenden. Arnak und Wagura nickten mir zu und wollten sich eben melden, als aus unserer Sippe der Krieger Kokuj — es war der gleiche, der mit mir in der Itamakamündung die von den Spaniern gefangenen War-raulen befreit hatte — auf mich zutrat und mit fester Stimme verkündete: „Ich gehe mit dir! Du bist ein guter Häuptling und gewinnst jeden Kampf. Und mit mir kommen alle Krieger aus der Sippe des Weißen Jaguars, oder wollt ihr zu Hause bleiben?” Er drehte sich um und maß, plötzlich in Zorn geraten, die Anwesenden mit herausforderndem Blick. „Nein, wir gehen mit”, ertönten die Stimmen unserer Leute. Auch die fünf Neger mit Miguel an der Spitze meldeten sich sofort, dazu Pedro und Arasybo; dann trat ein kurzes Schweigen ein. „Ich gehe auch mit, Weißer Jaguar, wenn die Krieger es vorziehen, zu Hause zu sitzen”, sprach Lasana und trat einige Schritte vor. „Auch einige Freundinnen von mir, die den Bogen zu ge- brauchen verstehen! Wir werden die auf der faulen Haut liegenden Krieger nicht schlecht vertreten.” Daraufhin entstand eine große Bewegung, empörte Rufe wurden laut, und ein großer Teil der Anwesenden versicherte, daß sie ebenfalls bereit seien. Im gleichen Augenblick erreichte eine Jabota das Ufer und brachte die Nachricht, daß die Akawois den Orinoko hinuntergefahren seien. „Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!” rief ich aus. „Jetzt heißt es schnell zu handeln!” Ungefähr neunzig Männer und einige Frauen nahmen an der Expedition teil. Zehn Büchsen ließ ich Manauri zurück, die übrigen Feuerwaffen nahmen wir mit, außerdem Nahrungsmittel für vier Tage. Wir bestiegen fünf mit Zweigen getarnte Itauben und drei kleinere Boote. Die jungen Häuptlinge Jaki und Konauro hatten sich uns angeschlossen. In jeder Itauba befand sich eine Gruppe mit ihrem Führer, in meinem Boot saßen einige Späher und mehrere Krieger aus unserer Sippe sowie Fujudi, Pedro, Ara-sybo und Lasana mit zwei Frauen. Pedro hatte nicht vergessen, die Karte vom Unterlauf des Orinoko mitzunehmen, und Arasybo trug den Schädel des Jaguars bei sich. Es war unsere Absicht, die Warraulen zu warnen und möglichst vor den Akawois bei ihnen einzutreffen, was ohne Zweifel die kriegerischen Gelüste der Räuber abgekühlt hätte. Wir schonten daher weder uns noch die Ruder und flogen dahin wie von Dämonen gehetzt. An der Mündung des Itamaka gerieten wir in dichten Nebel, der über dem Orinoko lag. Die Sicht betrug kaum zehn Schritt im Umkreis, doch kannten sich die Ruderer in dieser Gegend gut aus, und wir fuhren mit unverminderter Schnelligkeit weiter. Am oberen Orinoko mußten starke Regenfälle niedergegangen sein, denn das Wasser stieg, und viele entwurzelte Bäume trieben im Fluß. „Der Nebel erschwert den Akawois das Vorwärtskommen”, bemerkte Fujudi. „Vielleicht hat er sie gezwungen, die Fahrt zu unterbrechen.” Diesen frommen Wunsch sprach Pedro aus. „Das bezweifle ich”, gab ich ihm zu verstehen, „die Strömung weist ihnen den Weg.” „Du hast recht, und die Akawois sind geübte Ruderer.” Allmählich verfärbte sich die schwarze Nebelwand, fahle Streifen schimmerten hindurch. Die Nacht ging zu Ende, der Morgen graute. Gleichzeitig erhob sich eine leichte Brise, die wir zwar nicht fühlten, da wir ständig in Bewegung waren, aber daran erkannten, daß sich der Nebel zu Wolken ballte, hin und wieder aufriß und merklich dünner wurde. Die Helligkeit nahm zu, schon konnten wir am rechten Ufer die bizarren Konturen des Urwalds wahrnehmen. Rosarote und goldene Strahlenschleier huschten über den Himmel und spiegelten sich im Wasser, und als schließlich die Sonne über die Wildnis emporstieg, zerflossen die letzten Nebelschwaden über dem Fluß. Vor unseren Augen lag der mächtige Strom in seiner ganzen Pracht — und bereitete uns eine gewaltige Enttäuschung. Auf der riesigen Fläche gab es weder eine Spur von einem Boot noch von einem Lebewesen, nur unzählige Wasservögel tummelten sich in der Luft und auf den Wellen, und hier und dort schnellte ein Flußdelphin aus der Tiefe empor. Nach einer Stunde verhielt das Wasser des Flusses seinen Lauf und begann bald darauf in die entgegengesetzte Richtung zu strömen: die Flut hatte eingesetzt. Da wir immer langsamer vorankamen und die Ruderer nach der durchwachten Nacht und den vorangegangenen aufregenden Tagen eine Ruhepause nötig hatten, fuhren wir an einer geeigneten Stelle ans Ufer, nahmen eine Stärkung zu uns und schliefen vier Stunden. Gegen Mittag ließ die Strömung nach. Ungeachtet der erbarmungslosen Hitze setzten wir die Fahrt fort. Der leichte, vom Meer her wehende Wind erfrischte uns ein wenig, und trotzdem mußten wir die ganze Kraft aufbieten, um die Ruder richtig zu handhaben und nicht vor Glut ohnmächtig zu werden. Als sich die Strömung wieder gewendet hatte und dem Meer zustrebte, glitten wir wieder so schnell dahin wie in der Nacht. Bald darauf erreichten wir die erste kleine Siedlung der War-raulen, die nur aus wenigen Hütten bestand. Die vom Fluß aus sichtbaren Behausungen erhoben sich auf einer etwas höher gelegenen kleinen Lichtung. Es fiel uns auf, daß nirgends ein Mensch zu sehen war. Arnak, dessen Boot dem Ufer am nächsten lag, erhielt den Auftrag, Nachrichten einzuholen, doch kaum war er bei den Hütten angelangt, als er uns aufgeregte Zeichen gab. Schnell fuhren wir ans Ufer und liefen zu ihm. Auf den ersten Blick war zu sehen, daß die Siedlung vor kurzem überfallen worden war. Zwar standen die Hütten unberührt, aber zwischen ihnen und dem Urwald fanden wir die Leichen eines Indianers und dreier Frauen. Wir konnten uns gut vorstellen, was sich hier vor wenigen Stunden ereignet hatte. Die Bewohner der Siedlung waren von den Angreifern überrascht worden und hatten versucht, in den Urwald zu fliehen; ihre Feinde aber hatten sie eingeholt und mit den Keulen erschlagen. „Unsere Befürchtungen bewahrheiten sich”, sagte ich leise. Nicht einmal die Kinder hatten die Akawois verschont. Ein Stückchen weiter lagen zwei kleine Jungen mit abscheulich zertrümmerten Schädeln. Eilig durchsuchten wir die nächste Umgebung, konnten aber niemanden entdecken. „Wenn jemand am Leben geblieben ist”, äußerte Konauro, „so haben sie ihn sicher gefangengenommen und mitgeführt.” „Ich möchte wissen, warum sie die Hütten nicht angesteckt haben”, fragte Wagura mit verwundertem Gesicht. „Damit der Rauch sie nicht verrate”, erklärte ich ihm. Die Hütten ihrem Schicksal überlassend, schleppten wir vom Waldrand riesige trockene und grüne Äste herbei, entzündeten ein mächtiges Feuer und eilten zu unseren Booten. Hinter uns stiegen dichte schwarze Rauchwolken zum Himmel, ein weithin sichtbares Zeichen der Warnung. Unsere Herzen waren von grimmiger Wut erfüllt, die die Arme der Ruderer zur Eile trieb. Zwei Stunden waren vergangen, als plötzlich jemand in meinem Boot ausrief: „Achtung, seht dorthin!” Durch die tarnenden Zweige hindurch deutete er auf etwas Verdächtiges, ganz weit vor uns. „Seht, dort!” wiederholten einige Stimmen in den anderen Booten. Tatsächlich hob sich auf der weiten Wasserfläche ein eigenartiger dunkler Fleck ab. Es war ein Strauch, der im Wasser lag. An diesem Tage trieben viele dem Land entrissene Bäume und Sträucher dem Meer entgegen, aber dieser Strauch verhielt sich merkwürdig. Er schwamm nicht mit dem Strom, sondern gegen ihn, kam langsam näher und hielt auf uns zu. Im Fernrohr konnte ich erkennen, daß sich hinter dem Gezweig ein kleines Boot verbarg. Nach einigen Minuten stellten wir fest, daß es sich um eine der Jabotas handelte, die zur Verfolgung der Akawois ausgeschickt worden waren. Wir gaben den Ruderern des Bootes das verabredete Zeichen. Als sie uns erreichten, erhielten wir eine genaue Nachricht über die Akawois. Sie befanden sich etwa zehn Meilen vor uns und fuhren in großer Eile stromabwärts. „Wie weit ist es von hier bis Kaiiwa?” fragte ich Fujudi. „Wenn man danach rechnet, was die Weißen Meile nennen, so sind es ungefähr siebzig.” „Vielleicht gelingt es uns, sie vorher einzuholen, was meint ihr?” wandte ich mich an die Krieger in den Itauben neben unserem Boot. „Wir holen sie ein, natürlich holen wir sie ein!” riefen sie. „Habt ihr sie gezählt?” fragte ich die Kundschafter. „Wieviel Akawois sind in den Booten?” „Es sind achtmal soviel wie Finger an beiden Händen. Sie haben neun Itauben.” „Für achtzig Menschen neun Itauben? Wozu so viele Boote?” „Es sind keine großen Itauben, sie sind kleiner als unsere. Acht Boote fahren vor uns her, entlang des südlichen Ufers.” „Hast du nicht von neun Booten gesprochen?” „Das neunte Boot, das größte, ist heute morgen, noch vor Sonnenaufgang, auf die andere Flußseite gefahren. Dort haben wir es aus den Augen verloren.” „Sie haben sich also in zwei Gruppen geteilt? Das schadet nichts. Wir verfolgen die in den acht Booten!” Wir ruderten aus allen Kräften. „Was war das für ein großer Rauch hinter euch?” erkundigte sich einer der Späher. „Ah, ihr habt ihn bemerkt? Das ist gut so.” In den Nachmittagsstunden erreichte die schwüle Hitze ihren Höhepunkt. Um diese Zeit lagen die Menschen gewöhnlich im Schatten, betäubt von der sengenden Glut. Die Sonne war über unseren Kopf hinweggewandert und brannte nun auf den Rücken. Ich bewunderte die Disziplin, die Härte und den guten Willen der Krieger, die trotz der höllischen Hitze in ihren Anstrengungen nicht nachließen. Wir preßten krampfhaft die Lippen aufeinander und ruderten schweigend und verbissen. Der Schweiß rann uns in Strömen den Körper herab. Ein Mann in Jaks Itauba erblickte als erster die fremden Boote, aber nicht vor uns, sondern hinter uns. Es gab viele Indianer, deren Augen von ungewöhnlicher Sehschärfe waren. Und doch blieb es mir ein Rätsel, wie er auf dieser gleißenden Wasserwüste, in der sich mit sprühenden Funken und flackernden Strahlen Tausende Nachmittagssonnen spiegelten, die Boote zu erkennen vermochte. Jedenfalls hatte er sie erspäht. „Die Akawois!” ging es durch die Reihen der Ruderer. „Dort sind die Akawois!” Auch durch das Fernrohr waren sie nicht leicht auszumachen. Der Orinoko war hier fünf bis sechs Meilen breit, und die Punkte, die wir bemerkt hatten, schwammen etwa vier Meilen weit hinter uns. Sie hielten auch nicht genau unsere Richtung, sondern bewegten sich quer über den Fluß, vom jenseitigen Ufer zu unserem. Ich zählte vier Boote. „Vielleicht sind es nicht die Akawois?” äußerte jemand. „Sie hatten doch nur ein Boot.” Die Entfernung, die uns trennte, war zu groß, um Einzelheiten unterscheiden zu können. In den rätselhaften Booten befanden sich vielleicht fünfzig Indianer, und alle ruderten; die Akawois aber, die im Morgengrauen an das jenseitige Ufer gefahren waren, konnten höchstens fünfzehn an der Zahl gewesen sein. Wer waren also diese Leute? Sollten doch mehrerer akawoische Boote ans andere Ufer gelangt sein? Oder waren es Warraulen? Nach einigem Überlegen beschlossen wir, das Rudern einzustellen und die fremden Boote herankommen zu lassen. Diese fuhren nun, da sie den Strom überquert hatten, in einer Entfernung von etwa zweihundert Schritt auf unserer Seite das Ufer entlang. Ich befahl deshalb, in einer Reihe hintereinander zu fahren und die fraglichen Boote zwischen uns und dem Ufer durchzulassen. Wir brauchten keine Furcht zu haben, daß man uns vorzeitig entdecken könnte, denn unsere Itauben waren so geschickt getarnt, daß sie, auch aus der Nähe, wie langsam dahintreibende kleine Inseln aussahen. Solche Inseln, allerdings echte, waren nicht selten in unserer Umgebung. Die vier Boote näherten sich rasch. Wir beobachteten sie ununterbrochen durch das Fernrohr, und als sie nur noch eine halbe Meile von uns entfernt waren, rief einer unserer Ruderer plötzlich: „Das sind ja Gefangene!” Es waren wirklich Gefangene. Wir erkannten es daran, daß alle Ruderer hintereinander saßen und mit dem rechten Handgelenk an eine Leine gefesselt waren, die sich vom Bug des Bootes bis zum Heck hinzog. Auf diese Weise miteinander verbunden, konnten sie sich nur im gemeinsamen, gleichmäßigen Takt der Ruder wiegen, während jede eigenmächtige Bewegung durch die Leine verhindert wurde. Selbstverständlich interessierten mich besonders die Männer in den Booten, die nicht ruderten, also keine Gefangenen waren. In jeder Itauba saßen mehrere solcher Männer, gleichmäßig auf Bug und Heck verteilt. Sie hielten lange Spieße in den Händen, mit denen sie von Zeit zu Zeit den Ruderern auf die Köpfe schlugen, um sie zur Eile anzutreiben. Auf den ersten Blick sah ich, daß es sich um Akawois handelte, denn sie trugen die gleichen Faser-binden um die Arme, die ich bei Dabaro und seinen Männern gesehen hatte. Die Angelegenheit hatte sich geklärt. Es war jene Gruppe von Akawois, die im Morgengrauen mit einer Itauba an das linke Ufer gefahren war, wie die Späher berichtet hatten. Offensichtlich war es ihnen gelungen, eine volkreiche Siedlung der Warraulen zu überfallen und dreißig oder mehr Gefangene zu machen, mit denen sie jetz in erbeuteten Itauben eiligst den Strom hinunterfuhren, um sich mit den übrigen Kriegern zu vereinigen. Einem Kampf konnten wir nicht aus dem Wege gehen, unsere Lage zwang ihn uns auf. Wir postierten uns so, daß die näher kommenden Boote in weniger als Pfeilschußweite an uns vorübergleiten mußten. Ich ließ die Schußwaffen laden und bereitlegen. Die Akawois hatten keine Ahnung von dem Hinterhalt, in den sie gerieten. Leider fuhren sie nicht dicht hintereinander. Nur zwei Itauben lagen näher zusammen, die dritte befand sich weiter ab, zwischen diesen beiden und dem Ufer, während die vierte in einem größeren Abstand folgte. Ich befahl, daß Arnak, der flußaufwärts gesehen im ersten unserer Boote saß, das letzte Boot des Gegners aufs Korn nehmen solle, ich, der letzte in unserer Reihe, wollte dem dritten Boot den Weg verlegen, und Jaki, Konauro und Wagura sollten sich auf die beiden hintereinander fahrenden Itauben stürzen. Die Akawois schonten ihre Ruderer nicht, und die Boote durchfurchten das Wasser mit großer Geschwindigkeit. Da sie nicht getarnt waren, konnten wir jede Einzelheit erkennen und Freund und Feind genau unterscheiden. Ich saß am Heck unserer Itauba und benutzte das Ruder als Steuer. Die Männer im Boot hielten gleichfalls die Ruder bereit, und neben jedem lag eine Waffe. Auf einmal entstand eine Bewegung in unserem Boot, die mich zwang, meine Aufmerksamkeit einen Augenblick vom Gegner abzuwenden. Lasana schob sich vorsichtig zu mir heran. „Was kriechst du hier herum?” flüsterte ich ihr wütend zu. „Arnak ist nicht bei dir”, antwortete sie geheimnisvoll mit herausforderndem Gesichtsausdruck. „Nein, er ist nicht hier. Ist das ein Grund, Verwirrung anzustiften?” „Heute werde ich über dich wachen!” Sie sprach dies mit so unvorstellbarem Ernst, daß ich unwillkürlich lächeln mußte. „Ach, mein Schutzengel! Du wirst die Pfeile der Akawois in der Luft abfangen, nicht?” „Das werde ich”, erwiderte sie und schob mir eine Frucht als Amulett in den Gürtel. „Da hast du dir einen Falschen ausgesucht, Zauberpalme! Du weißt doch, daß ich für eure Zauber nichts übrig habe.” „Ich weiß es, aber Arasybo hat mir aufgetragen, dir dies zu geben.” „Ach so, Arasybo!” Während der ganzen Zeit hatte ich die näher kommende Flottille nicht aus den Augen gelassen. Unsere Tarnung war so vollkommen, daß die erste Itauba in einer Entfernung von fünfzig Schritt an Arnaks Boot vorüberfuhr, ohne daß die Akawois auch nur den geringsten Verdacht schöpften. Dicht dahinter folgte die zweite Itauba. Als beide gleich darauf unser zweites Boot passierten, das Wagura befehligte, schrie ich aus vollem Halse: „Wagura, Konauro, Jaki — Feuer!” Einige Schüsse krachten gleichzeitig, ein wenig später folgten die nächsten. Als ich sah, daß sie unter den Akawois in beiden Itauben ihre Opfer fanden, wandte ich mich ab. „Vorwärts!” befahl ich meinen Ruderern. Wie von der Sehne geschnellt, schoß das Boot voran. Ich stieß mit voller Kraft das Ruder ins Wasser, um mit einer scharfen Rechtswendung dem Ufer zuzusteuern. Geschickt umfuhren wir die beiden Itauben, die, obgleich die Gefangenen aufgehört hatten zu rudern, in der alten Richtung weiterfuhren, und jagten auf das dritte feindliche Boot zu. Dort spielten sich abscheuliche Dinge ab. Als der steuernde Akawoi die Falle bemerkte, die wir ihnen gestellt hatten, sah er die einzige Rettung in der Flucht zum Ufer, um im Dickicht zu verschwinden. Er hatte aber nicht mit dem Widerstand der Gefangenen gerechnet. Die Warraulen hatten gleichfalls gemerkt, was vor sich ging, und dachten nicht daran, ihre Feinde zu unterstützen. Wohl hielten sie die Ruder noch in den Händen, doch weigerten sie sich, sie zu gebrauchen. Einige versuchten sogar, der Absicht des Steuermannes entgegenzuwirken. Es gab ein Durcheinander, und das Boot kam nicht von der Stelle. Mit entsetzlichem Gebrüll bemühten sich die Akawois, die Gefangenen zum Rudern zu bewegen, und als dies nichts fruchtete, begannen sie, den Zunächstsitzenden auf die Schädel zu schlagen. Schließlich kannte ihre Wut keine Grenzen mehr. Sie erschlugen einige der Gefangenen, griffen selbst zu den Rudern und trieben das Boot mit hastigen Schlägen vorwärts. Das half ihnen aber nicht viel. Sie waren noch ungefähr hundert Schritt vom Ufer entfernt, als wir sie einholten. Wir schoben uns zwischen sie und das Land und schnitten ihnen den Weg ab. Ihr Urteil war gesprochen, sie waren jedoch nicht gewillt, sich ihm ohne Widerstand zu unterwerfen. Fünf Akawois waren es, zwei vorn und drei im hinteren Teil des Bootes. Als wir sie gestellt hatten, griffen vier von ihnen zur Büchse — die Lumpen besaßen Feuerwaffen — und schossen auf uns. Gehacktes Blei sauste durch die Luft. Zwei oder drei von uns wurden verwundet, die übrigen hatten rechtzeitig hinter der Bordwand Deckung gesucht; außerdem konnten die Akawois in der schwankenden Itauba schlecht zielen. Wir ließen ihnen keine Zeit. Schnell zogen wir die Ruder ein, damit das Boot nicht schaukle, und feuerten ebenfalls eine Salve auf sie ab. Ich selbst nahm den Steuermann aufs Korn. Danach ruderten wir aus Leibeskräften auf die feindliche Itauba zu. Dem Steuermann war die Kugel durch den Kopf gegangen, er hing mit dem halben Oberkörper über der Bordwand, und drei weitere Akawois, die ebenfalls getroffen worden waren, lagen in den letzten Zügen. Der fünfte, ein hochgewachsener, muskulöser Bursche, schien unverletzt. Mit wutverzerrtem Gesicht griff er blitzschnell zum Speer und schleuderte ihn weitausholend gegen uns. Sein Wurf war gut gezielt, der Speer bohrte sich einem der Ruderer tief in die Brust. Gleich darauf sprang der Akawoi mit affenartiger Gewandtheit über Bord und verschwand in dem brodelnden Wasser. Er mußte ein guter Schwimmer sein, denn er hielt sich lange unter der Oberfläche. Da ich vermutete, daß er, mit der Strömung schwimmend, zum Ufer hin tauchten werde, lenkte ich das Boot in diese Richtung. Die Krieger beobachteten mit schußbereiter Waffe die Wasseroberfläche. Ich hatte mich nicht verrechnet. Nur wenige Schritte von uns entfernt tauchte der Bursche empor. Noch bevor er den Mund öffnen konnte, um Luft zu schöpfen, krachte schon ein Schuß, und die Kugel fuhr ihm in den Kopf. So endete der letzte der fünf Akawois. Auch der Kampf mit der vierten Itauba war glücklich zu Ende gegangen. Das Schießen war verstummt, und Arnak fuhr auf das Boot zu. Der Lärm machte einer tiefen Stille Platz. Über dem Wasser hingen Rauchfetzen, die sich langsam auflösten. Die blutige Arbeit war getan, und wir atmeten befreit auf. Unser Gefährte, den der Speer getroffen hatte, war nicht mehr am Leben. Ich wollte gerade Lasana das Fruchtamulett zurück-geben und hatte schon einen boshaften Scherz auf den Lippen, als die Warraulen, die wir eben befreit hatten, unsere Aufmerksam-keit auf sich zogen. Während wir noch den fünften Akawoi gejagt hatten, war es ihnen gelungen, sich von der Fessel zu befreien. Sie warfen die Leichen der Feinde ins Wasser, griffen nun zu den Rudern und trieben das Boot mit panikartiger Hast der Mitte des Flusses zu. „Hallo, wohin wollt ihr so eilig?” rief ihnen Fujudi in ihrer Sprache nach. Sie gaben keine Antwort. Schweigend, ohne auf ihre Umgebung zu achten, jagten sie wie die Wahnsinnigen davon und handhabten die Ruder so heftig, daß das Wasser hoch aufspritzte. „Sind sie verrückt geworden?” fragte ich verwundert. „Warum fürchten sie sich vor uns?” „Die haben Angst, es sind Wilde”, brummte Arasybo verächtlich. „Wilde aus dem Moor!” „Sage ihnen schnell, wer wir sind!” trug ich Fujudi auf. Der Indianer legte die Hände an den Mund und schrie, so laut er konnte: „Wir sind Freunde! Wir fahren nach Kaiiwa, um Oro-napi vor den Akawois zu retten! Die Akawois sind vor uns! Wir sind Freunde! Haltet ein!” Weithin hallte die Aufforderung über das Wasser, und alle Warraulen mußten sie gehört haben, doch blieb sie ohne Eindruck. Das Gegenteil trat ein: die Flüchtenden ruderten noch hastiger. Als die Warraulen in den übrigen drei Itauben die panische Flucht ihrer Stammesbrüder bemerkten, sprangen sie auf, um das gleiche zu tun; auch sie jagten dahin, als sei die Pest hinter ihnen her. Es gab nur die Erklärung dafür, daß die Angst den Gefangenen den Verstand geraubt hatte. Die überstürzte Art, in der sie sich davonmachten, erinnerte an eine Herde aufgeschreckter Affen. Die Arawaken begannen daher immer lauter zu lachen. Schließlich verfolgte die Flüchtlinge ein wahrer Sturm von Heiterkeit, und spöttische Rufe hallten laut über das Wasser: „Feiglinge! Feiglinge!” Mir tat es nur leid, daß die Warraulen einige wertvolle Büchsen mitgenommen hatten, die in ihren ungeübten Händen nutzlos waren. Der ganze Vorfall hatte höchstens eine halbe Stunde gedauert und war zum Glück ohne größere Verluste an Menschenleben abgegangen. Wir hatten einen Toten zu beklagen und einige Leichtverletzte, die nach der Behandlung ihrer Wunden wieder ihre Arbeit verrichten konnten. Die Strömung war jetzt sehr stark, wir kamen schnell voran. Bis zum Sonnenuntergang verblieben noch drei Stunden, und bis Kaiiwa waren noch vierzig Meilen zurückzulegen. Der Puma und die Affen Nach fünfzig, sechzig Ruderschlägen waren wir bereits eine halbe Meile von der Stätte des Kampfes entfernt. Wenn wir zurückblickten, konnten wir die Warraulen sehen, die sich in der Mitte des Flusses vereinigt hatten, aber nicht mehr ruderten. Es schien, als hielten sie eine Beratung ab. Plötzlich kam Bewegung in sie, verschiedene Ruderer stiegen aus einer Itauba in die andere, gleich darauf setzten drei Boote die Fahrt zum jenseitigen Ufer fort, während das vierte hinter uns herkam. An dem schnellen Eintauchen der Ruderblätter, auf denen sich die Sonne spiegelte, erkannten wir, daß ihnen daran gelegen war, uns möglichst bald einzuholen. „Was sie wohl von uns wollen?” knurrte Fujudi mit verächtlicher Stimme. „Möchten sie sich etwa doch noch bei uns bedanken? Oder wollen sie uns um Entschuldigung bitten?” „Vielleicht bist du nicht weit von der Wahrheit entfernt”, antwortete ich. „Wir müssen es ihnen erleichtern. Fahren wir doch langsamer.” „0 nein, das tun wir nicht! Sollen sie sich nur ein wenig anstrengen und zeigen, was sie können.” Wir fuhren also weiter, als ginge es um die Wette. Der Urwald veränderte merkbar sein Gesicht. Immer seltener war das Ufer trocken, immer öfter bestand es meilenweit nur aus Morast. Die ganze Gegend verwandelte sich allmählich in einen Sumpf, der nur hier und dort von trockenen Werdern unterbrochen wurde. So weit das Auge reichte, erhob sich der Urwald unmittelbar aus dem Wasser, und trotzdem war er nicht weniger dicht, nicht weniger üppig. Je mehr wir uns dem Meer näherten, um so häufiger wurden die von Pedro als Mangroven bezeichneten eigenartigen Bäume. Ihre Wurzeln erhoben sich hoch über den breiigen Schlamm und vereinigten sich erst in der Luft zum Stamm, was den unheimlichen Eindruck hervorrief, als bewegten sie sich auf langen Stelzen. Wenn wir von Zeit zu Zeit, um den Weg abzukürzen, dicht am Ufer entlangfuhren, dann mochten wir glauben, die in grotesken Windungen und Verrenkungen empor-strebenden Wurzeln seien Wesen aus einer anderen Welt. Und in der Tat entstammten sie nicht der Erde, sondern waren Ausgeburten der riesigen Sümpfe. Der Mensch, der mit seinem Blick in die unergründliche Tiefe dieses Gewirrs gespenstischer und wunderlicher Erscheinungen einzudringen versuchte, schauderte unwillkürlich und blickte sich um, ob nicht plötzlich irgendwo ein gräßliches Ungetüm seine dämonischen Fühler ausstrecke. In der Nähe dieser Mangrovenwälder lebten Apias, die von den Spaniern auch Wasserkühe genannt wurden, doch gefährliche Bestien bekamen wir nicht zu Gesicht. Abhängig von Ebbe und Flut des immer noch weit entfernt liegenden Meeres, stieg und fiel das Wasser und legte überall trügerisches Bruchmoor frei, in dem der Mensch, der sein Boot verlassen wollte, sofort bis an die Brust versinken würde. In dem klebrigen Schlamm wäre er ohne fremde Hilfe dem sicheren Tod preisgegeben. Sollten die Akawois ans Ufer flüchten, so würden sie nicht weit kommen. Zwei Stunden lang legten wir etliche Meilen zurück, dann begann die schnelle Strömung nachzulassen. Während der ganzen Zeit fuhren die Warraulen hartnäckig hinter uns her und waren uns bis auf etwa eine Dreiviertelmeile nahe gekommen. Wir waren neugierig, was sie veranlaßte, uns so bald wie möglich einzuholen, trotzdem aber mäßigten wir keinen Augenblick unser Tempo. Jede halbe Stunde lösten wir uns am Steuer ab, und als Pedro an der Reihe war, hielt er mit der einen Hand das Ruder, mit der andern breitete er die Karte, die er immer bei sich hatte, vor sich aus. Soweit ihm die Steuerführung dazu Zeit ließ, vertiefte er sich in sie. Schließlich rief er mir zu, daß er mir etwas auf der Karte zeigen möchte. „Ist es etwas Ernstes?” Ich wollte meinen Ruderplatz nicht gern verlassen. „Ich glaube, daß es einen Blick wert ist, Jan”, antwortete er mit der bei ihm üblichen gedämpften Stimme. „Vielleicht später, bei der Rast?” „0 nein!” widersetzte sich Pedro liebenswürdig, aber lebhaft. „Das mußt du dir ansehen!” Ich legte das Ruder beiseite und setzte mich stirnrunzelnd zu ihm, etwas mürrisch, weil er mich zwang, meine Ruderarbeit zu unterbrechen. „Zwei, drei Meilen von hier”, begann er zu erklären und deutete auf die Karte, „wendet sich der Hauptarm des Flusses, auf dem wir fahren, scharf nach Norden. Später beschreibt er einen Bogen und fließt dann in südlicher Richtung, um nach einer bestimmten Zeit wieder seinen östlichen Lauf fortzusetzen. An dieser Stelle aber liegt Kaiiwa. Stell dir vor, Jan, wenn wir den Bogen vermeiden und diesem Arm folgen könnten, der genau die Sehne des Bogens bildet, um wieviel würden wir den Weg abkürzen, was meinst du?” Die Entdeckung Pedros, dieses Prachtjungen, war in der Tat wichtig. Ein ausgezeichneter Gedanke! Existierte aber dieser Seitenarm, der den Bogen durchschnitt, auch wirklich? „Ich habe meine Karte mit der des Herrn Powell verglichen”, versicherte Pedro. Es erhoben sich noch andere Zweifel. Die Gegend war von einer Unzahl größerer und kleinerer Wasserläufe durchzogen, es gab mannigfaltige Gräben und Rinnen, so daß man sich in diesem Gewirr von Wasserwegen leicht verirren konnte, besonders während der Nacht! Die vor uns fahrenden Akawois waren fremd hier und würden auf keinen Fall den Hauptarm des Flusses verlassen, der auch für uns der sicherste Weg war. Ich ließ die Boote dicht aneinanderrücken und teilte, ohne daß wir die Fahrt verlangsamten, den Gefährten mit, welche Entdeckung Pedro gemacht hatte. Als ich meinen Blick zufällig nach hinten wandte und die Warraulen sah, die immer noch hinter uns herjagten, schlug ich mir plötzlich an die Stirn. „Natürlich, die Warraulen!” rief ich aus. „Es ist doch ihr Gebiet, ihr Fluß!” Alle hatten mich verstanden. Wir zogen die Ruder ein, und nach einigen Minuten hatten uns die Warraulen erreicht. Ich ließ ihnen sagen, sie möchten so nahe herankommen, daß mein und ihr Boot Bord an Bord lägen. Ich zählte achtzehn Männer, meist noch jung an Jahren, und soweit ich bereits in den Gesichtern der OrinokoIndianer zu lesen verstand, waren es keineswegs Feiglinge, sondern mutige Burschen, die uns beweisen wollten, daß unser höhnisches Gespött ungerechtfertigt gewesen war. Ihre Mienen waren verlegen, sie wußten nicht, wie wir sie aufnehmen würden. Wir sahen, daß sie sich die Waffen der getöteten Akawois angeeignet hatten. Als sie bei unserem Boot anlangten, sprach der Steuermann, der sichtlich der älteste von ihnen war, mit rechtfertigender Stimme: „Ihr dürft euch nicht über uns wundern! Wir waren wie betäubt, wir hatten den Kopf verloren...” Ich winkte ab und unterbrach seine Worte in freundschaftlichem Ton: „Hör auf, davon zu sprechen. Das ist unwichtig. Wollt ihr mit uns nach Kaiiwa fahren?” „Ja, das wollen wir.” „Habt ihr alle Waffen?” „Jawohl.” „Und was habt ihr mit den Feuerwaffen gemacht?” „Sie sind hier. Wir können damit nicht umgehen.” „Dann reicht sie uns herüber!” „Hier, nehmt.” Es waren fünf Büchsen, die sich in einem fürchterlichen Zustand befanden, außerdem einige Bambusrohre sowie Pulver und Blei. Als ich die Büchsen genauer betrachtete, fand ich auf dem eisernen Beschlag des Schaftes ihr Herkunftszeichen. Neben dem durch Rost unleserlich gewordenen Namen des Ortes konnte ich das Wort „Nederland” entziffern. „Wie heißt du, Freund?” fragte ich den Steuermann. „Kuranaj.” „Bist du Häuptling?” „Ich bin jetzt der Führer dieser Männer”, antwortete er ausweichend. „Von jetzt ab wirst du mir gehorchen und ohne meinen Befehl nichts unternehmen! Kennt ihr den Fluß und seine Nebenarme gut?” „Wir kennen ihn, Herr.” „Dann weißt du auch, daß der Orinoko einen Bogen nach Norden macht?” „Natürlich, Herr, ganz genau weiß ich das. Deshalb haben wir uns ja so beeilt. Wir kennen einen kürzeren Weg, er heißt Guapo ...” „Der den Bogen abschneidet?” „Ja, und er ist besser, denn auf dem Guapo ist die Strömung vom Meer nicht so stark wie auf dem Hauptstrom.” „Während der Flut?” „Ja, Herr.” „Du kommst uns wie gerufen, Kuranaj. Vorwärts, führe uns über den Guapo!” Zwei Stunden vor Sonnenuntergang begegneten wir einer Jabota mit zwei arawakischen Spähern. Wir erfuhren, daß die Akawois einen Vorsprung von gut zehn Meilen hatten und in großer Eile den Hauptstrom hinunterführen. Ein wenig später öffnete sich auf der rechten Seite der Urwald, und wir sahen, daß sich der Fluß gabelte. Der rechte Teil bildete zunächst eine Art Bucht, die sich in der Ferne zu einem mäßig breiten Fluß verengte. Dieser Fluß wurde von den Warraulen Guapo genannt. Hier mußten wir einbiegen. Da die Strömung im Hauptarm fast aufgehört hatte und die Warraulen versicherten, daß wir Kaiiwa noch vor dem Morgengrauen erreichen würden, wenn wir die Fahrt vier, fünf Stunden später fortsetzten, so wurde beschlossen, an dieser Stelle eine kurze Rast zu halten. Das etwas höher gelegene Ufer schob sich hier mit einem sandigen Keil zwischen den Fluß und dessen Seitenarm. Dieser Zipfel schien uns der geeignete Lagerplatz zu sein. Bald darauf prasselten fröhlich die Feuer, und in der Luft lag der angenehme Geruch frisch gebratenen Fleisches. Der Wald mit seinem üppigen Grün reichte bis auf zwanzig Schritt an unseren Lagerplatz heran, nahm uns aber nicht die Aussicht auf das Ufer des mächtigen Stromes. Im wärmenden Licht der bereits sinkenden Sonne tummelten sich ganze Schwärme von Tagesinsekten, über unseren Köpfen gaukelten gelbe und himmelblaue Schmetterlinge, und aus dem Dickicht er-tönten der abendliche Gesang und das Kreischen der Vogelwelt. Noch hatten wir uns nicht gesättigt, als in den Baumkronen am Rande des Urwalds eine ungewöhnliche Bewegung entstand und ein schneidendes Kreischen und Pfeifen zu hören war. Ohne Zweifel bedeutete es Angst. Der Lärm kam immer näher. Dort mußte etwas Besonderes vor sich gehen. „Akalima!” riefen die Schmausenden an den Feuern, als sie die Tiere an der Stimme erkannt hatten. Sie sprangen auf, griffen zur Waffe und eilten dem Dickicht zu. „Affen, eine Affenherde”, erklärte mir Lasana. „Der Akalima hat gutes Fleisch.” Arasybo schnalzte mit der Zunge, rührte sich aber nicht von der Stelle. Lasana ergriff gleich den andern ihren Bogen und wollte zum Wald eilen. Ich hielt sie am Arm fest. „Du bist mir zu teuer, meine Palme, als daß ich dich allein in den Wald lassen würde, noch dazu ohne Waffe!” „Laß mich los, ich habe Pfeil und Bogen bei mir! Ich bin nicht allein, viele sind bereits hingelaufen. Siehst du es nicht?” „Ja, sie sind hingelaufen, aber alle ohne Feuerwaffe.” „Die brauchen sie nicht. Affen kann man auch mit Bogen schießen.” „Glaubst du etwa, Lasana, die Affen kreischen nur zum Spaß? Hörst du denn nichts?” „Ja, sie werden von irgend jemand gejagt. Nun laß mich aber los!” Trotzig funkelten ihre Augen. Wie immer sah sie in ihrer mädchenhaften Empörung bezaubernd aus. „Und wenn dieser Jemand ein Jaguar ist?” Ich blickte sie freundlich an. Sie gab sofort nach, aber nicht aus Furcht vor dem Raubtier. Eine Welle der Freude huschte über ihr Gesicht. „Soviel ist dir an mir gelegen?” fragte sie leise. „Ja, Lasana.” Ich ließ sie los, sie lief aber nicht weg. Meine silberne Pistole steckte noch im Gürtel. Ich ergriff die Büchse, und dann eilten wir den andern nach, die bereits im Busch verschwunden waren. Wir hatten etwa zweihundert Schritt zurückgelegt, als wir die Affen auch schon zu Gesicht bekamen. Es waren mittelgroße, schmächtige Tiere mit großen Köpfen und wolligem, dichtem Fell. Der Bauch war weiß, der Rücken dagegen dunkelrot bis schwarz gefärbt. Sie blickten verängstigt umher und stießen klagende Schreie aus. Mit außerordentlicher Gewandtheit schwangen sie sich von Ast zu Ast — sie flohen vor einer unbekannten Gefahr. Wir zählten fünfzehn bis zwanzig Affen, die aber längst nicht die ganze Horde ausmachten. Bald kamen die nächsten. Viele Mütter trugen Junge auf dem Rücken, die sich krampfhaft festklammerten. Alle waren außer sich vor Angst und lamentierten aus Leibeskräften. Einige Affen hielten sich gleich kleinen Menschen mit beiden Händen den Kopf; ihr ganzes Gehaben drückte Verzweiflung aus. Andere, wahrscheinlich waren es Männchen, knurrten wütend, verhielten von Zeit zu Zeit, drohten mit der geballten Faust nach hinten und bleckten die Zähne. Doch konnten auch sie das Entsetzen nicht überwinden, von dem die ganze Horde befallen war, und flüchteten weiter. Der Urwald gab dem menschlichen Auge eine der vielen Tragödien preis, die sich so oft in seinen düsteren Gründen abspielen. Wer aber war der Urheber des Entsetzens, wo steckte der Feind, der solchen Schrecken verbreitete? Die Wildnis verbarg ihn unseren Blicken. Unterdessen hatten die Pfeile unserer Jäger bereits mehrere Tiere von den Bäumen heruntergeholt. Die Affen entdeckten bald den neuen Feind und gerieten nun völlig außer Rand und Band. Stumm vor wahnsinniger Angst, stoben sie in alle Richtungen auseinander. Plötzlich wurde in einiger Entfernung vor uns im Blattwerk für einen Augenblick das fahlgelbe Fell eines Raubtieres sichtbar, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Der Räuber war den letzten Affen der Horde auf den Fersen. Er mußte gerade ein Tier gerissen haben, denn in der Luft zitterte ein Schrei, der einem das Blut in den Adern erstarren ließ. Dann hörten wir nur noch ein Röcheln, das immer schwächer wurde. So schnell es unsere Kräfte ermöglichten, drangen wir durch das dichte Unterholz vor. „Das ist ein Puma!” flüsterte mir Pedro, den wir eingeholt hatten, zu. Bald erkannten wir, daß schon andere Jäger am Schauplatz eingetroffen waren und mit ihren Geschossen den Räuber zum Rückzug zwangen. Der Puma kam nicht auf die Erde herunter, er bewegte sich genauso gewandt in den Bäumen wie die Affen. Plötzlich konnten wir ihn sehen. Als ich die große gelbe Katze über uns gewahrte, war mein erster Gedanke Bewunderung. Es schien mir geradezu erstaunlich, daß ein so schweres Tier — es war nicht viel kleiner als ein Jaguar — derart elastisch und schnell dahinglitt. Mit gewaltigen Sprüngen und mit der unwahrscheinlichen Leichtigkeit einer schwebenden Ballettänzerin suchte es sich seinen Weg. Ich spannte den Hahn der Büchse. Uns drohte jedoch keine Gefahr, denn der Puma zeigte nicht die geringste Lust, uns anzugreifen. In seinem Rücken steckten zwei Pfeile. Obwohl sie nicht tödlich waren, ließen sie ihm doch die Gefahr bewußt werden, die ihm von den zweibeinigen Gegnern drohte. Ich wollte nicht schießen, um nicht unnötigen Lärm zu verursachen. Lasana aber, die neben mir stand, schoß einen Pfeil ab. Sie traf den Räuber. Da er gerade schnell einen Ast entlanglief, bohrte sich ihm das Geschoß in den Bauch. Die Katze ließ nur ein zorniges Knurren hören. Vielleicht siebzig Schritt weiter stand ein hoher, alter Baum mit weitausladender Krone. Der Puma klomm den Stamm empor und verkroch sich in das dichte Blättergewirr des Wipfels. Er hoffte vergeblich, daß ihn die Verfolger dort nicht finden würden. Ohne sich lange zu besinnen, erstiegen mehrere Jäger die umliegenden Bäume und überschütteten von hier aus das Raubtier mit einem Hagel von Pfeilen. Trotz aller Katzenzähigkeit brachte der Puma nicht mehr die Kraft zur weiteren Flucht auf. Sein Körper war mit Pfeilen gespickt. Allmählich wurde er schwächer und stürzte schließlich auf den Waldboden herunter, wo er kurz darauf unter Keulenschlägen sein räuberisches Leben aushauchte. Der Tod des Pumas erfüllte die Indianer mit wilder Freude. Siegestrunken hüpften und tanzten sie wie übermütige Kinder, schwatzten ungereimtes Zeug und überhäuften das verendete Tier mit Verwünschungen. Arasybo kam herbei und beteiligte sich an dem eigenartigen Tanz. Bald darauf ließ er aber die allgemeine Beschwörung abbrechen und das erlegte Tier zum Lagerplatz schaffen. „Du darfst dich nicht wundern”, erklärte er mir, „daß die Krieger so ausgelassen sind. Sie wissen jetzt genau, daß wir die Akawois besiegen werden.” „Der Puma hat ihnen diese Gewißheit gegeben?” fragte ich. „Natürlich! Dieses Raubtier, der Uosabia, ist unser Feind, und wir haben ihn zur Strecke gebracht. Der Feind liegt am Boden. Wir werden ihn jetzt aufessen.” Abgesehen von der magischen Kraft, die von dem erlegten Puma ausging, brachte er uns auch einen spürbaren irdischen Genuß. Die Indianer lobten das Fleisch des Pumas als einen besonderen Leckerbissen, und ich konnte mich bald darauf selbst überzeugen, daß diese Behauptung kein leeres Gerede war. Die Jäger hatten acht Affen erlegt, darunter leider auch drei Weibchen, an deren Fell sich ängstlich je ein Junges festkrallte. Die jungen Äffchen waren beim Fall nicht verletzt worden, und die Männer wollten sie nun töten, um sie zu verzehren wie die Mütter. Lasana hinderte sie aber daran. Vom Mitleid übermannt, entriß sie die Tiere den groben Händen der Krieger und trug sie ins Boot. Bald darauf verzehrten wir unser reichliches und schmackhaftes Abendessen. Obgleich es noch hell war, ordnete ich allgemeine Ruhe an, doch waren wir alle so angeregt, daß keiner Lust zum Schlafen verspürte. Am morgigen Tag, vielleicht sogar noch in dieser Nacht, erwartete uns eine schwere Auseinandersetzung mit einem unerbittlichen Feind, und doch waren die Krieger guter Stimmung und von kämpferischem Geist erfüllt. Die geheimen Mächte, davon hatten sich die Indianer überzeugt, waren uns günstig gesinnt. Das verlieh unseren Männern außerordentlichen Mut. Sie brannten darauf, zu kämpfen und zu siegen. Die Versicherungen der Warraulen, daß wir viel Zeit hätten und vier, fünf Stunden rasten könnten, vermochten mich nicht recht überzeugen. Über den Guapo waren es, grob gerechnet, immer noch dreißig Meilen bis Kaiiwa. Sollte sich uns unterwegs ein unvorhergesehenes Hindernis in den Weg stellen, so könnten wir einige Stunden verlieren und unsere Hilfe käme sicher zu spät. Die Akawois, die den Hauptarm des Orinoko hinunterfuhren, hatten zwar den längeren Weg und mußten mehrere Stunden gegen die starke Flut ankämpfen, doch wenn sie sich entschlossen, keine Ruhepause einzulegen, so konnten sie Kaiiwa mit Sicherheit noch vor Tagesanbruch erreichen. Während ich am Feuer saß und mir diese Überlegungen durch den Kopf gehen ließ, kamen mir immer stärkere Zweifel. Mit blutigrotem Schein verschwand die Sonne hinter dem Horizont, dunkle Schatten breiteten sich über den Urwald und senkten sich auf das Wasser hernieder. Gleichzeitig legte sich eine eigenartige Melancholie auf meine Seele. Die Tatenlosigkeit wurde mir schließlich so unerträglich, daß ich den in der Nähe ruhenden Freunden meine Bedenken mitteilte. Außerdem ließ ich den Warraulen Kuranaj herbeirufen. „Wann müssen wir nach deiner Meinung aufbrechen?” fragte ich ihn. „Wie soll ich das wissen? Vielleicht in zwei, drei Stunden. Dann geht der Mond auf, und wir haben gute Sicht.” „Der Himmel ist klar. Kann man nicht auch beim Schein der Sterne rudern?” „Natürlich kann man das, doch ist es nicht notwendig, denn wir haben genug Zeit, und bei Mondlicht fährt es sich besser.” „Und wenn uns etwas aufhält?” „Was sollte uns aufhalten?” Sein Gesicht drückte Verwunderung und Mißtrauen aus. „Zum Beispiel ein Baum, der auf dem Fluß treibt. Du selbst hast uns gesagt, daß der Guapo stellenweise recht schmal ist. Mehrere Bäume könnten eine Barriere bilden und uns zwingen, die Boote um das Hindernis herumzutragen, wodurch wir Zeit verlieren würden. Was meinst du?” Kuranaj wurde verlegen und kratzte sich den Kopf. Schließlich murmelte er: „Daran habe ich nicht gedacht.” Arnak erhob sich und rief aus: „Brechen wir auf, Jan! Wir haben uns satt gegessen und neue Kräfte gesammelt. Genug gefaulenzt!” Bereits zehn Minuten später fuhren unsere Boote in einer Reihe hinter der Itauba der Warraulen her. Wir durchquerten die Bucht und erreichten den eigentlichen Guapo. Die dichten Wände des Urwalds rückten bis auf hundert Schritt zusammen, und es wurde Nacht. Völlige Finsternis herrschte aber nicht, denn unzählige Sterne blinkten am Himmel und spiegelten sich im Fluß. Der Wind ließ allmählich nach, und aus dem warmen Wasser stiegen kräuselnde Dämpfe empor, die sich schnell verdichteten. Bald darauf umgab uns wallender Nebel, der nur auf Steinwurfweite die Sicht freigab. Wir waren gezwungen, langsamer zu fahren, doch trösteten wir uns damit, daß auch die Akawois nur mühsam vorwärts kämen. „Und wenn auf dem Hauptstrom kein Nebel ist?” brummte der Neger Miguel. Es war eine wahnwitzige Fahrt, ein quälendes Rennen. Wenige Meilen weiter strebte der Feind dem gleichen Ziel entgegen wie wir. Dieser peinigende Gedanke verließ uns keinen Augenblick. Mit ständig wachsender Ungeduld trieben wir die Boote voran. Wir waren uns bewußt, daß jede Verzögerung den sicheren Unter-gang unserer Freunde zur Folge haben und vielleicht auch unser Schicksal besiegeln konnte. Jeden schwimmenden Baumstamm, der unseren Weg kreuzte, empfanden wir als Drohung nahenden Unglücks, jedes Hindernis wurde uns zum Feind. Die Warraulen erwiesen sich als gute Führer, und doch war es nicht immer möglich, allen Hemmnissen glatt auszuweichen. Der Mond ging auf, und wir kamen schneller voran, wenn auch der Nebel immer noch über dem Fluß hing. Die Stunden verrannen in drückendem Schweigen; nur das rhythmische Klatschen der Ruder klang wie das monotone, bedeutungsvolle Ticken einer großen Uhr. Nicht Menschen schienen sich durch den nebligen Dunst vorwärts zu schieben, sondern dämonische Wesen, Gespenster des Urwalds. Die verbissene Wut in unseren Herzen war so groß, daß wir weder Anstrengung noch Ermüdung empfanden. Als der Nebel gegen Morgen zu weichen begann und ein fahler Schein den baldigen Anbruch des Tags verkündete, passierten wir die Hütte eines Fischers. Nun war es nicht mehr weit bis Kaiiwa. Das Dorf lag zwei Meilen flußabwärts, hinter einer Krümmung verborgen, an der Stelle, wo sich der Guapo wieder mit dem Orinoko vereinigte. Der Sitz Oronapis war auf einer Insel errichtet worden, die vom Hauptarm, vom Guapo und dessen Verästelungen umschlossen wurde. Der Fischer stand am Ufer und bereitete sein Boot zur Ausfahrt vor. Auf unsere Frage erklärte er, daß sich in der Siedlung nichts ereignet habe. Er zeigte sich verwundert über unsere Unruhe. „Dem Himmel sei Dank’, seufzte Pedro erleichtert. „Wir sind zur rechten Zeit gekommen.” Auf der Insel der blutigen Ernte Als wir einige Minuten später die Krümmung des Flusses erreichten, stockte uns vor Schreck der Atem. Durch die Entfernung gedämpft, hallten wilde Schreie von der Siedlung herüber, und am Horizont zuckte Feuerschein auf: dort stand das dürre Flechtwerk einer Hütte in Flammen. Der ersten Feuersäule folgten weitere, und bald war der ganze Himmel hinter dem Nebelschleier von rötlichem Schein überzogen, dem düsteren Wahrzeichen einer Katastrophe. Wir hielten die Boote dicht nebeneinander und ruderten aus Leibeskräften. Der schreckliche Anblick, der sich unseren Augen am Ende der Biegung bot, zwang uns, im Schatten des Ufers anzuhalten. Der Nebel wich, und im lodernden Feuerschein waren alle Einzelheiten gut wahrzunehmen. Auf der ungefähr dreihundert Schritt entfernten Insel stand eine lange Reihe von Hütten in Flammen. Im Licht des grausigen Brandes spielten sich entsetzliche Szenen ab. In dem uns zugekehrten Teil Kaiiwas war der bewaffnete Widerstand der War-raulen, falls sie sich überhaupt zur Wehr gesetzt hatten, offensichtlich zusammengebrochen, und nun wurden die Menschen mit Gewalt aus den von der Feuersbrust noch nicht erfaßten Hütten geschleppt. Viele Einwohner suchten ihre Rettung in kopfloser Flucht, die Angreifer aber setzten ihnen nach und streckten sie mit Keulenschlägen zu Boden. Es war ein höllisches Toben grausamer Gewalt, verzweifelter Schreie und verbissenen Sträubens. Die Akawois wollten lebendige Gefangene haben; doch ging das Getümmel nicht ohne Blutvergießen ab, hier und dort lagen bereits Tote auf der Erde. In dem wilden Durcheinander war schwer zu erkennen, wo die Hauptkräfte des Feindes standen und wie diese am besten anzugreifen waren. Also zogen wir uns an herabhängenden Asten hoch und kletterten ans Ufer. Dort erstiegen die Führer der Boote sowie Fujudi, Pedro und ich die umliegenden Bäume, von wo aus sich ganz Kaiiwa übersehen ließ. Mit einem Blick erfaßte ich die allgemeine Lage. Die Akawois hatten die Insel zwischen zwei Feuer genommen. Die Hälfte war am Ufer des Hauptstromes gelandet, während die übrigen Krieger in den Guapo eingebogen waren und von der Urwaldseite her an-gegriffen hatten. An den Landesteilen lagen die Itauben der Akawois sowie alle Boote der Warraulen, deren sich der Feind rechtzeitig bemächtigt hatte, um den Überfallenen die Flucht unmöglich zu machen. Je vier oder fünf Krieger hielten sich an den beiden Landeplätzen auf. Ihre Hauptaufgabe war nicht die Bewachung der Boote, sondern das Fesseln der Gefangenen, die von den Akawois in großer Eile aus dem Dorf herbeigetrieben wurden. Aber das war noch nicht alles. Vom entfernteren Ende der Insel, das noch im Dunkeln lag und durch vorüberziehende Nebelschwaden verhüllt wurde, drangen Geräusche herüber, die annehmen ließen, daß dort der Kampf noch immer tobte. An dieser Stelle mußte eine Gruppe von Warraulen besonders hartnäckigen Widerstand leisten. Daraus ergab sich ein einfacher und klarer Plan für unser Handeln. Wir mußten beide Landeplätze in unsere Hand bringen und gleichzeitig den kämpfenden Warraulen zu Hilfe eilen. Da es die Akawois mit allem, was sie taten, sehr eilig hatten, kletterten auch wir schnell von unserem Ausguck herunter und sprangen in die Boote. Während der Fahrt traf ich alle notwendigen Anordnungen. Die Warraulen und das Boot Waguras sollten die Aka-wois auf dem näher gelegenen Landeplatz am Guapo überrumpeln. Jaki und Konauro bekamen den Befehl, mit ihren Leuten die Landesteile am Orinoko anzugreifen. Arnak hatte die restlichen vier Jabotas so schnell wie möglich an das untere Ende Kaiiwas zu führen. Alle sollten nach der Landung auf die Mitte des Dorfes vorrücken. Ich selbst würde zwischen den beiden Liegeplätzen an Land gehen, um die Flanken im Auge zu behalten. „Jagt den Puma! Tötet den Puma!” begannen einige Hitzköpfe zu rufen. „Ruhe!” herrschte ich sie an. „Seid ihr verrückt geworden? Wir müssen sie überraschen!” Zum Glück waren die Akawois zu weit entfernt, um unsere Stimmen vernehmen zu können. Unsere kleine Flottille stob auseinander. Die einen wandten sich nach rechts, die anderen nach links, und meine Itauba blieb allein. Da wir den kürzesten Weg zurückzulegen hatten, ruderten wir langsam. Ringsumher wurde es ungewöhnlich still, und die plötzliche Einsamkeit ließ ein eigenartiges Gefühl in uns aufkommen. Der Plan, Kaiiwa von vier Seiten zugleich anzugreifen, entsprach der augenblicklichen Lage bestimmt am besten, denn der Feind hatte sich über die ganze Insel verteilt. Auf diese Weise würden wir ihm jede Möglichkeit zur Flucht nehmen. Sollte es den Akawois allerdings gelingen, auch nur die Hälfte ihrer Kräfte an einer Stelle zu vereinigen und gegen eine unserer Abteilungen zu werfen, bevor diese Hilfe erhalten konnte, so wäre das äußerst gefährlich. Fest entschlossen, dies unter keinen Umständen zuzulassen, steuerte ich das Boot dem Ufer Kaiiwas zu. Vor uns lag eine kleine Bucht, die sich etwa fünfzig Schritt in das Land hineingefressen hatte. Eine sechs Fuß hohe Bodenwelle ließ uns unbemerkt landen. Als wir aus der Itauba stiegen, krachten plötzlich rechter Hand, wohin ich Wagura und Kuranaj geschickt hatte, mehrere Schüsse. Ich überließ das Boot der Obhut Arasybos und zweier Frauen und eilte mit den übrigen Kämpfern die Böschung hinauf, wo uns einige kleine Sträucher leidlichen Schutz boten. Auf der ganzen Insel waren nur vereinzelte Bäume des ehemaligen Urwalds zurückgeblieben. In dem Halbdunkel am Ufer hatte niemand unsere Landung wahrgenommen. Auf der rechten Seite, wo die Schüsse gefallen waren, entspann sich ein Gefecht. Die Leute Waguras und Kuranajs waren ungefähr zweihundert Schritt von uns entfernt. Sie schwärmten aus und machten Jagd auf die akawoischen Wachen, die beim ersten Zusammenstoß nicht ihr Leben gelassen hatten. Einige andere Akawois, die sich in der Nähe befanden, eilten den Wächtern zu Hilfe, doch entkamen nur zwei oder drei den wohlgezielten Musketenschüssen unserer Männer. Sie flohen Hals über Kopf in die Tiefe der Insel. Dort hatten die Akawois bereits die Gefahr erkannt; sie ließen die Warraulen laufen, schrien sich etwas zu und rotteten sich zusammen. Während die Gruppe Waguras stehenblieb, um die Büchsen neu zu laden, und Kuranaj`s Leute ihren Stammesbrüdern, die neben den Booten lagen, die Fesseln durchschnitten, setzten sich die Akawois auf der linken Seite, wo Jaki und Konauro an Land gehen wollten, energischer zur Wehr. Offensichtlich hatten sie die beiden verdächtigen Boote schon auf dem Fluß entdeckt. Den Schüssen nach zu urteilen, war es den Unseren gelungen, das Ufer zu erreichen und die Wächter von den Booten zu vertreiben. Wie ich später erfuhr, waren unvermutet fünfzehn Akawois aufgetaucht, die eine große Schar gefangener Warraulen, Männer, Frauen und sogar Kinder, mit brutalen Stockhieben vor sich hertrieben. Sobald sie erkannten, was am Ufer vor sich ging, ließen sie von den Gefangenen ab und stürzten vorwärts. Natürlich bemerkten die Männer Jakis und Konauros die wütend heranstürmenden Krieger. Ihre Büchsen hatten sie zum größten Teil leergeschossen und konnten mit ihren Pistolen keinen großen Schaden anrichten. Also griffen sie zu den Bogen, verwundeten einige Angreifer und streckten auch hier und dort einen der Akawois nieder. Sie konnten aber nicht verhindern, daß die übrigen Angreifer wie Raubtiere über sie herfielen. Es entspann sich ein erbitterter Kampf Mann gegen Mann, ein Kampf mit Keulen und Spießen, mit Messern und Fäusten. In einem solchen Ringen waren die Akawois unerreichte Meister. Die Sicht wurde immer klarer. Von rechts her, wo Wagura und Kuranaj den Sieg davongetragen hatten, kam ein Akawoi herbeigerannt. Er lief nicht wie die anderen der Mitte des Dorfes zu, sondern wandte sich seitwärts, so daß er unweit unseres Standortes vorüber mußte. Offensichtlich wollte er seine Gefährten an der zweiten, links von uns gelegenen Landestelle erreichen. Wie alle Krieger seines Stammes trug er weiße Faserbinden um die Arme. Die Sträucher, hinter denen wir standen, verbargen uns seinem Blick. Sein blutverschmierter Spieß ließ erkennen, daß er einen der Unseren niedergestochen hatte. Mit mächtigen Sprüngen eilte der Bursche an uns vorbei. „Der hat es gar zu eilig!” zischte der Neger Miguel mit zusammengebissenen Zähnen und stürzte aus dem Versteck, um dem Akawoi den Weg abzuschneiden. Der gewahrte ihn sofort, wich aber keinen Schritt von seiner Richtung ab, sondern rannte nur noch schneller. Als Miguel ihm bis auf ungefähr fünfzig Schritt nahe gekommen war, schoß der Akawoi, ohne im Lauf innezuhalten, einen Pfeil auf ihn ab. Er war ein ausgezeichneter Schütze und hätte den Neger genau in die Brust getroffen, wenn sich dieser nicht blitzschnell wie eine Katze geduckt hätte. Miguel richtete sich wieder auf und stieß einen herausfordernden Schrei aus. Er stemmte die gespreizten Beine fest gegen den Boden und neigte den Oberkörper weit zurück, die rechte Hand mit dem Speer nach hinten gestreckt, während die Linke auf den Feind zielte. Einen Augenblick ähnelte er mehr der erhabenen Statue eines römischen Legionärs als einem lebenden Menschen, dann aber sauste der Speer mit Wucht durch die Luft. Der Wurf war kräftig, und der Gegner lief sehr schnell. Aber Miguel besaß ein unfehlbares Auge. Seine mit dem notwendigen Vorhalt geschleuderte Waffe hätte sich unweigerlich in den Körper des Akawois gebohrt, wenn der nicht genauso gewandt und umsichtig gewesen wäre wie kurz zuvor der Neger. Er blieb unvermittelt stehen und entging so dem Speer. Als dieser dicht neben ihm ins Leere flog, quittierte er den Fehlwurf mit höhnischem Gebrüll. Sein Widersacher Miguel war aber doch noch gewitzter als er: er schien die Haltung des Gegners vorausgesehen zu haben. Eine halbe Sekunde nach dem ersten Speer hatte er den zweiten geschleudert. All das war so schnell gegangen, daß sich das erste Geschoß noch nicht in die Erde gebohrt hatte, als das zweite bereits durch die Luft schwirrte. Und dieser zweite Speer fand sein Ziel, er senkte sich tief in die Brust des Feindes. Der stand noch eine Weile mit entsetzten, aus den Höhlen tretenden Augen aufrecht, dann versagten ihm die Beine den Dienst, und er sank kraftlos zu Boden. Miguel sprang herbei, stemmte seinen Fuß gegen den Körper des Gestürzten und zog ihm den Speer aus der Brust. Dann nahm er dem Toten die Waffen ab, holte den zweiten Speer und kam zu uns zurück. „Nun hat er keine Eile mehr”, knurrte er erbittert. Da wir sahen, daß die Männer Jakis und Konauros in Bedrängnis gerieten, eilten wir ihnen zu Hilfe. Durch die befreiten War-raulen, die nach allen Richtungen auseinanderstoben, wurden wir etwas aufgehalten. Nur die Neger, die der siegreiche Zweikampf Miguels entflammt hatte, stürmten unaufhaltsam wie ein Orkan vorwärts und erreichten als erste den Schauplatz des Ringens. Voller Entsetzen gewahrten die Akawois die kräftigen Gestalten und wutentbrannten Gesichter der plötzlich auftauchenden Angreifer. Sie versuchten sich zurückzuziehen, doch dazu war es bereits zu spät. Sie befanden sich in der Zange, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich zu verteidigen. Sie taten es verbissen und rasend, wie ein in seinem Schlupfwinkel aufgestöbertes Raubtier. Diese fürchterlichen Totschläger beherrschten ihr Mörderhandwerk so vollkommen, daß sie manchen der Unsern niederstreckten, bevor sie selbst der Übermacht erlagen. Diesmal entkam keiner von ihnen, alle wurden überwältigt. Es gefiel mir nicht, daß sich auch Lasana in den Kampf stürzen wollte, in dem sie so leicht das Leben lassen konnte. Ich packte daher ihren Arm und zog sie aus dem Getümmel. Wir hielten uns etwas abseits und gaben acht, daß in dem Wirrwarr niemand unbemerkt entweichen konnte. In der Tat versuchten zwei Akawois zu fliehen, doch wurden sie von unseren Geschossen niedergestreckt. Als das grausame, verbissene Gemetzel vorüber war, begannen unsere wutschäumenden Krieger, die verwundeten Feinde zu erschlagen. Ich schrie ihnen zu, sie sollten davon ablassen, und es gelang mir, einige Akawois vor diesem Schicksal zu bewahren. Zwar war es mir klar, daß ich ihren Tod nur um einige Stunden hinausschob, doch konnte ich bei meinen Freunden rohe Grausamkeit nicht vertragen. Sie gehorchten und fesselten sechs verwundete Akawois. Kein Wunder, daß die Arawaken so erbittert waren! Von den Kriegern Jakis und Konauros waren sieben gefallen, und zwei hatten so schwere Wunden erhalten, daß sie nicht mehr kämpfen konnten. Es gab überhaupt niemanden, der keine Verletzung davongetragen hatte. Ein Mann meiner Bootsbesatzung war getötet worden. Mit diesen Verlusten hatten wir den Sieg über neunzehn vernichtete Feinde erkauft. Die befreiten Einwohner Kaiiwas liefen aufgeregt hin und her. Daher gab ich Kuranaj den Auftrag, Ordnung auf der Insel zu schaffen. Die Frauen, Kinder und Greise sollten so schnell wie möglich in Booten auf das gegenüberliegende Festland gebracht werden, die Männer dagegen sich bewaffnen und in Abteilungen aufstellen. Auf dem Festland unweit von Kaiiwa wohnten ebenfalls viele Warraulen, ihre Hütten schimmerten durch das Dickicht auf der anderen Seite des Guapo. Sie waren von den Akawois nicht behelligt worden, und nun kamen sie, ermutigt durch unseren Entsatz, in Scharen auf die Insel. Da sich keine Häuptlinge darunter befanden, unterstellte ich sie alle dem Kommando Kuranajs und ordnete an, daß die Hälfte mit ihren Booten die Ufer der Insel bewachen solle, damit kein einziger Akawoi entkomme. Die kampfgeübteren Männer sollten mit Kuranaj an unserer Seite bleiben. Es waren an die sechzig, eine ganz ansehnliche Streitmacht, und von der anderen Seite ruderten immer neue heran. Die soeben beschriebenen Ereignisse spielten sich viel schneller ab, als man sie mit Worten schildern kann. Noch hing der Pulverdampf der letzten Schüsse in der Luft, als wir bereits in geschlossener Ordnung auf die größten Hütten Kaiiwas zustürmten. Genau wie zuvor bildete die Besatzung meines Bootes die Mitte, am linken Flügel befanden sich die Gruppen Jakis und Konauros sowie eine Anzahl Warraulen, auf der rechten Seite gingen die Abteilung Waguras und die warraulischen Krieger Kuranajs vor. Als vor einigen Minuten die letzten Akawois von Jakis und Konauros Leuten niedergerungen worden waren, hatten wir vom unteren Ende Kaiiwas mehrere Büchsenschüsse vernommen. Das bedeutete, daß die Abteilung Arnaks den Kampf aufgenommen hatte. Es war zu befürchten, daß der Feind seine immer noch furchtbare Stärke auf Arnak konzentrieren und ihn vernichten würde. Er tat dies jedoch nicht, denn wie sich bald herausstellte, leisteten an jener Stelle etwa dreißig Warraulen verzweifelten Widerstand. Die Akawois entschlossen sich offensichtlich dazu, Kaiiwa mit der bisher gewonnenen Beute zu verlassen. Hastig gingen sie auf die beiden Landeplätze am oberen Teil der Insel zurück, wo sich ihre Boote und die Wächter befanden, und blieben wie vom Donner gerührt stehen, als sie unsere breite Front erblickten, die ihnen den Weg zu den Booten versperrte. Wenn sie auch durch die Schüsse und den Kampfeslärm über unsere Anwesenheit unterrichtet worden waren, so hatten sie doch nicht vermutet, daß wir so stark seien. Es war bereits sehr hell geworden. Die Sonnenscheibe war noch nicht über den Horizont heraufgestiegen, und der östliche Teil des Himmels glühte im rosafarbenen Licht des Morgens. Unsere Gesichter waren dieser Helle zugewandt, und so schienen wir den Akawois wie von einem magischen Schein umgeben. Vor ihren Augen schwärmten mehr als ein und ein halbes Hundert Feinde, während sie selbst kaum mehr sechzig zählten. Trotz allem hätte dieser Haufe unerschrockener Kämpfer noch eine kaum zu bezwingende Macht dargestellt, wenn die Überraschung den Akawois nicht die Überlegung genommen hätte. An Mut fehlte es ihnen nicht, aber die nüchterne Urteilskraft hatten sie eingebüßt. Sie wußten, daß die Boote und damit die Freiheit hinter unseren Reihen lagen, und sie sahen, daß in unsere Linie zwei Lücken klafften, eine zwischen der Schar Waguras und meiner Abteilung und die andere zwischen mir und den Kriegern Jakis und Konauros. Anstatt mit vereinter Kraft auf eine dieser Breschen loszustürmen, verloren sie den Kopf, teilten sich in zwei Gruppen und versuchten an beiden Stellen durchzubrechen. Die kleinere Schar griff einige Sekunden früher an als die große. Die Akawois rannten genau auf die Gruppe Waguras zu, als wollten sie diese erschrecken oder überrennen, doch war dies nur eine plumpe List, denn sobald sie auf Pfeilschußweite herangekommen waren, bogen sie plötzlich nach rechts ab, um die Lücke zwischen Wagura und mir zu erreichen. Wagura aber ließ die Gelegenheit nicht vorübergehen. Sofort stürzte er sich mit seinen Kriegern in das Loch und zog die Warraulen Kuranajs hinter sich her. Der freie Raum zwischen unseren beiden Abteilungen war höchstens noch einhundertfünfzig Schritt breit und wurde zusehends enger. Trotzdem waren die Akawois entschlossen, um jeden Preis durchzubrechen. Sie beschleunigten ihre Sprünge, um Wagura zuvorzukommen. Ihre Kräfte waren bis zum äußersten angespannt. Zu spät! Eingedenk meiner Belehrungen ließ Wagura sie so nahe wie möglich herankommen. Erst als sie nur noch vierzig Schritt entfernt waren, eröffnete er das Feuer aus den mit gehacktem Blei geladenen Büchsen. Die Wirkung war verheerend. Eine ganze Anzahl der Stürmenden fiel getroffen zu Boden, die übrigen blieben ruckartig stehen, wie vor den Kopf gestoßen, nur zwei liefen starrsinnig weiter. Es waren Selbstmörder. Nach kaum fünfzehn Sprüngen brachen sie unter einem Hagel von Pistolenkugeln und Speeren zusammen. Gleich darauf warfen sich die Arawaken und die Warraulen mit unwiderstehlicher Gewalt auf den von der mörderischen Salve halb betäubten Rest der Feinde. Diese nahmen den Kampf nicht auf, sondern wandten sich zur Flucht und rannten zurück ins Dorf. Die Verfolger blieben ihnen auf den Fersen und sandten ihnen unaufhörlich ihre Geschosse nach. Da ich von Anfang an überzeugt war, daß bei Wagura alles nach Wunsch verlaufen werde, richtete ich meine ganze Aufmerksamkeit auf die zweite Gruppe der Akawois. Sie bestand aus mindestens vierzig Kriegern und strebte der Lücke zu meiner Linken zu. An der Spitze lief ein großer starker Bursche. Seinen Hals zierte eine Kette aus Raubtierzähnen, und auf seinem Kopf wippten mehrere bunte Federn. Ohne Zweifel war er der Häuptling. Rasch zog ich meine Abteilung mehr nach links, um ihnen besser den Weg zu verlegen. Auch Jaki und Konauro schoben sich mit ihren Leuten zu mir herüber. Ich besaß eine treffsichere, weittragende Muskete, und mir stand immer noch das Bild vor Augen, wie prachtvoll sich Miguel vor einigen Minuten im Zweikampf mit dem Akawoi geschlagen hatte. Wollten mich meine Sinne zum Wettbewerb herausfordern? Es muß wohl so sein, denn ich vergaß alle Warnungen, die ich anderen gegeben hatte, und wollte durch einen außergewöhnlichen Schuß Ruhmeslorbeeren ernten. Schnell legte ich die Muskete auf die Gabel und nahm den stattlichen Anführer aufs Korn. Ich kannte die Tragweite meiner Waffe und wußte, daß das Ziel noch zu weit war, doch plagte mich die Versuchung allzusehr. Also zielte ich etwas über den Kopf des Häuptlings, verbesserte noch einmal und krümmte den Finger. Getroffen! Der Anführer schleuderte die Arme hoch und stürzte wie vom Blitz gefällt zur Erde, wo er sich noch einmal überschlug. In das entsetzliche Wutgebrüll der Akawois mischte sich das Freudengeschrei aus unseren Reihen, und ich — ich will es nicht verhehlen — war über alle Maßen erstaunt. Die Heranstürmenden ließen sich durch den Tod des Häuptlings nicht aufhalten. Unsere drei Abteilungen verfügten ungefähr über zwanzig Büchsen, die gute Hälfte davon lag in sicheren Händen. Wie geblendet liefen die Akawois direkt in unseren Schußbereich hinein. Als die Feuerwaffen ihr Werk getan hatten, als die Sehnen der Bogen surrten, die Speere durch die Luft sausten und gleich darauf die Pistolen krachten, war das letze Gericht über die bisher unbesiegten Krieger gekommen. Dem Rest des kläglich zugerichteten Haufens war die Lust am Kampf vergangen. Sie machten kehrt und rannten Hals über Kopf den Hütten zu, genau wie die Überlebenden am rechten Flügel, denen Wagura auf den Fersen war. Es waren kaum mehr zwanzig, die jetzt gehetzt wurden, mehr waren von der Expedition nicht übriggeblieben. Auch zwischen den Hütten fanden die Fliehenden keine Ruhe, denn hier warfen sich ihnen Arnaks Leute und die bewaffneten Warraulen entgegen. Die Akawois wurden von vorn und von hinten bedrängt und verschanzten sich in einer großen, auf Pfählen errichteten Hütte, deren Wände aus festem Flechtwerk bestanden. Es war Oronapis Speicher. Wir bildeten einen dichtgeschlossenen Kreis um diese letzte Zufluchtsstätte und waren nun sicher, daß die wütende Ratte fest in der Falle saß. Noch biß sie aber verzweifelt um sich. Als einige Warraulen allzuweit vordrangen, schwirrten viele Pfeile aus dem Versteck, und die Kühnen bezahlten ihre Unachtsamkeit mit dem Leben. Unter den an der Seite Arnaks kämpfenden Warraulen befanden sich Oronapi und Manduka, der erst kurz vor dem Morgengrauen in Kaiiwa eingetroffen war. Kaum hatte er den Oberhäuptling geweckt, als die Akawois bereits über das Dorf herfielen. Der Häuptling selbst war äußerst betrübt über das Unglück, das den Stamm betroffen hatte, und zutiefst gerührt über unser Kommen. Er preßte mit beiden Händen meine Rechte und erging sich in überschwenglichen Darikesbeteuernngen Ich aber unterbrach freundschaftlich seinen Redeschwall, deutete auf den Speicher und gab ihm zu verstehen, daß die widerwärtige Arbeit noch nicht zu Ende sei. „Die räuchern wir aus”, erwiderte er und gab sofort die entsprechenden Befehle. An dem, was nun folgte, wollte ich keinen Anteil haben. Ich ging mit Lasana etwas zur Seite, und wir sahen von weitem dem Ende des Kampfes zu. Durch Pfeile, an denen brennende Strohbüschel befestigt waren, wurden Wände und Dach des Speichers in Brand gesetzt, doch die Akawois verließen ihn nicht. Das dürre Astwerk stand bald in hellen Flammen. Die Belagerten suchten hinter altem Gerümpel und vollen Körnersäcken Schutz. Einige gewandte Warraulen krochen unter die Hütte und entfachten zwischen den Pfählen ein Feuer aus Reisig. Der ausgetrocknete Holzfußboden des Speichers begann sofort zu brennen. Damit war das Schicksal der Eingeschlossenen besiegelt. Da sie nicht zu Tode geschmort werden wollten, sprangen sie ins Freie. Aber auch hier erwartete sie der sichere Tod — sie fielen den Kugeln, Pfeilen und Speeren zum Opfer oder wurden mit Keulen erschlagen, so wie giftige Schlangen durch Stockschläge ihr Ende finden. Manchmal erschienen mehrere zugleich, um sich besser verteidigen zu können, doch es half ihnen nichts. Einer der letzten war Dabaro, jener Kundschafter und angebliche Händler. Wie durch ein Wunder entging er den Geschossen und niedersausenden Schlägen, durchbrach blitzschnell die Kette unserer Krieger und flog davon wie ein Pfeil. Unsere Krieger schossen hinter ihm her, doch trafen sie ihn nicht. Er rannte genau auf uns zu. Als er mich gewahrte, flackerten seine Augen bösartig wie die eines Wolfes. Sofort nahm er Richtung auf mich, und seine erhobene Hand umspannte das todbringende Messer. Ich hatte die Muskete zur Seite gestellt, nun blieb keine Zeit mehr, auf ihn anzulegen. So riß ich die Pistole aus dem Gürtel, zielte auf die Brust des Angreifers und drückte ab. Der Hahn knackte, doch ging der Schuß nicht los. Dabaro stieß einen triumphierenden Schrei aus. Seine Augen funkelten. Schnell griff ich nach dem Messer, doch da sprang Lasana vor. Sie hielt eine kleine Keule in der Hand und schleuderte sie dem Rasenden entgegen. Am Kopf getroffen, strauchelte Dabaro und verlor einen Augenblick die Herrschaft über sich. Ich lief auf ihn zu und stieß ihm mit voller Kraft die Faust zwischen die Augen. Er ließ das Messer fallen und sackte zusammen. Schon waren die Verfolger heran und wollten ihm den Schädel einschlagen, aber ich rief ihnen zu: „Wir brauchen ihn lebend! Bindet ihn!” Sie nahmen meinen Befehl mit mißfälligem Gemurmel entgegen, führten ihn jedoch aus. Gerührt blickte ich auf Lasana. Noch war die Erregung nicht von ihr gewichen, sie bebte am ganzen Körper. „Wie oft noch werde ich dir mein Leben zu verdanken haben?” knurrte ich scheinbar gereizt. „Sooft es notwendig sein wird”, antwortete sie mit weicher Stimme. Unterdessen waren die letzten Akawois überwältigt worden, und es trat eine unheimliche Stille ein. Alle schwiegen, als hätte sie eine schwere Arbeit zu Tode erschöpft. Wir waren wie betäubt und empfanden im Kopf eine fast schmerzliche Leere. Augen und Ohren bestätigten, daß die schrecklichen Ereignisse zu Ende seien und keine Gefahr mehr drohe. Unser Verstand aber konnte diese Wahrheit noch nicht fassen, er glaubte sie nicht, er schenkte den Augen kein Vertrauen. Erst jetzt machte sich die Spannung bemerkbar, in der wir Tage und Nächte hindurch gelebt hatten, und wir fühlten, daß wir uns vor Müdigkeit kaum mehr auf den Beinen halten konnten. Ich forderte Oronapi auf, er möge uns eine Stärkung zubereiten lassen. Nach dem Essen hielt ich mit den warraulischen Häuptlingen und den ältesten der Arawaken eine Beratung ab, in die ich auch die jungen Freunde Arnak und Wagura einbezog, und traf schnell die dringendsten Anordnungen. Ich vergaß nicht, eine mit Warraulen bemannte Itauba zu entsenden, die Manauri die Kunde von unserem Sieg und gleichzeitig die Versicherung überbringen sollte, daß am Itamaka und am Orinoko wieder Ruhe und Frieden eingekehrt seien. Außer der von uns vernichteten Expedition befanden sich keine weiteren Akawois hier im Norden. Eine Zählung ergab, daß etwa einhundert Krieger daran beteiligt gewesen waren, von denen wir vierzehn lebend gefangengenommen hatten. Alle übrigen waren umgekommen. „Was tun wir mit den Gefangenen?” fragte mich Oronapi. „Ich weiß es nicht’, antwortete ich aufrichtig. „Sie müssen bestraft werden, denn sie wollten uns vernichten. Du aber siehst es nicht gern, daß Gefangene getötet werden.” „Nein!” „So werden wir sie in die Sklaverei verkaufen.” „An die Spanier?” „Nein, auf das große englische Schiff, das vor einigen Tagen zu dir gekommen ist. Es soll die Akawois weit nach Norden mitnehmen.” Dies war eine Lösung, wenn sie auch, das gebe ich zu, nicht gerade nach meinem Geschmack war. Da die übergroße Müdigkeit uns kaum noch klare Gedanken fassen ließ, beschlossen wir, über alle diese Fragen später zu entscheiden. Wir vertrauten die Gefangenen und uns der Obhut der Warraulen an und suchten unser Lager auf, um zu schlafen. Die Bande der Freundschaft und der Waffenbrüderschaft, die in diesen Tagen ihre große Probe bestanden und uns alle noch näher gebracht hatten, die Bande des Vertrauens zueinander währten auch im Schlaf: in den uns abgetretenen Hütten lagen wir einer neben dem andern, Indianer, Neger und ein Weißer, verbunden durch die gemeinsamen schweren Stunden des Kampfes und durch den gemeinsamen Sieg. Und jeder von uns schlief nach alter Gewohnheit mit der Hand auf der Waffe. Morgenröte über dem Urwald Ein Kanonenschuß riß uns aus dem Schlaf. Es war heller Tag. Wir hatten zwanzig Stunden ohne Unterbrechung geschlafen. Nun erwachten wir gestärkt, heiter und hungrig wie Wölfe. Gleich darauf erschien Oronapi mit besorgter Miene. „Das große englische Schiff ist den Orinoko heruntergekommen, eben wirft es vor unserer Insel Anker”, verkündete er. „Was sollen wir tun?” „Sie freundlich willkommen heißen”, gab ich ihm zur Antwort. „Es sind Freunde! Vorher aber laß uns etwas zu essen bringen.” Noch während ich aß, wurde mir mitgeteilt, daß Kapitän Powell an Land gekommen sei und Oronapi ihn nach dem am Orinoko üblichen Zeremoniell feierlich begrüßt habe. Ich schickte Arnak, Wagura und Fujudi als Dolmetscher zum Oberhäuptling. Powell, den die etwas lange dauernde Begrüßungszeremonie ungeduldig machte, entschuldigte sich höflich, aber entschieden bei Oronapi und forderte Arnak und Wagura auf, ihn bei einem Rund-gang auf der Insel zu begleiten und ihm den Ablauf der Ereignisse zu schildern. Als wir uns eine Viertelstunde später zwischen den Hütten begegneten, eilte er entzückt auf mich zu und rief schon von weitem: „Well, Bober, das nenne ich ganze Arbeit leisten! Marlborough oder Francis Drake hätten es auch nicht besser machen können. Sie haben den Akawois eine Tracht Prügel verabreicht, an die sie nach Generationen noch denken werden. Mit dem Weißen Jaguar werden die Mütter ihre unfolgsamen Kinder schrecken! Und es ist tatsächlich niemand der Falle entronnen?” „Soviel uns bekannt ist, niemand.” „Goddam you, das ist wirklich saubere Arbeit! Wissen Sie, was das bedeutet? Junger Mann, sind Sie sich eigentlich der Tragweite dessen, was Sie getan, bewußt?” „Nein”, stieß ich belustigt hervor. „Ich hatte noch keine Zeit, darüber nachzudenken.” „Lachen Sie nur, lachen Sie über sich selbst! Ich will es Ihnen noch einmal erklären: Es bedeutet, daß die Spanier am unteren Orinoko schwach sind, daß sie froh sind, wenn sie in Ruhe atmen dürfen, und daß Sie ihnen entsprechenden Respekt eingeflößt haben. Es bedeutet, daß Sie die Akawois kreuzlahm geprügelt haben und daß diese es nicht mehr wagen, hier zu erscheinen, und es bedeutet, daß Ihre Indianer jetzt für Sie durchs Feuer gehen, daß Sie sie ganz in der Hand haben. Mit einem Wort, John Bober, Sie sind der unumschränkte Herrscher am unteren Orinoko! Es liegt jetzt nur bei Ihnen, diese Herrschaft zu festigen, indem Sie die englische Macht um Hilfe ersuchen.” „Ach, schon wieder das alte Lied! Geht es immer noch um?” gab ich spöttisch zur Antwort. „Ja, es geht immer noch um, und es wird so lange umgehen, bis es an der Mündung dieses Flusses reale Gestalt annimmt, bis Sie klüger geworden sind und Ihre Stelle als the big governor, als Gouverneur des englischen Königs, eingenommen haben.” „Mr. Powell, ich bin bereit, Gouverneur zu sein, aber in den Herzen dieser Indianer und nicht in der Verwaltung Seiner Königlichen Majestät!” „Schließt denn das eine das andere aus? Als englischer Gouverneur werden Sie die Eingeborenen doch in Ihre persönliche Obhut nehmen.” „Dieses Trugbild von der englischen Obhut ist mir zu schön, Sir. Es ist nur schade, daß Sie nicht mehr an das denken, was ich Ihnen über das Schicksal des Volkes Pohattans in unserem Virginia und über den Tod des unglücklichen Opentschakanuk erzählt habe.” „Diese Geschehnisse liegen weit hinter uns, sie gehören einer längst vergangenen Epoche an.” „Das ist leeres Gerede!” Ich wiederholte noch einmal alles, was ich ihm in Kumaka erklärt hatte, und fügte hinzu, ich würde meinen ganzen Einfluß aufbieten, um zu verhindern, daß sich Kolonisten einer europäischen Nation am unteren Orinoko ansiedelten. Nur wenige der vierzehn Gefangenen waren völlig unverletzt, wie zum Beispiel Dabaro; die übrigen hatten mehr oder weniger ernste Verwundungen davongetragen, die aber alle heilbar waren. Oronapi erwähnte es, als er Kapitän Powell das Angebot machte, die Akawois als Sklaven zu kaufen. „Ich soll die Akawois kaufen?” Powell starrte den Häuptling entgeistert an und schüttelte den Kopf. „Möge mich das Schicksal davor bewahren!” „Ich verkaufe sie billig’, versuchte Oronapi den Kapitän zu locken. „Und wenn du sie mir schenken würdest, Häuptling, eine solche Dummheit würde ich nie begehen.” „Warum sollte es eine Dummheit sein?” Jetzt war es der Häuptling, der große Augen machte. Auch ich, obgleich ich mich an der Unterredung nicht beteiligte, war verwundert. „Warum es eine Dummheit wäre?” antwortete der Kapitän. „Weil die Akawois im Süden zu Hause sind, und zwar in der Nähe unserer Faktoreien am Essequibo. Sie würden nur zu bald von meiner Tat erfahren, und sie sind grimmige Kämpfer, wie man ihresgleichen nicht bald wieder findet, und erbitterte Rächer ihrer Ehre. Ihr könnt mit ihnen tun, was ihr wollt, ihr dürft sie töten, mißhandeln, lebendig eingraben — das ist euer Kriegsrecht, denn sie haben euch überfallen und wurden besiegt. Wenn ich es aber wagen sollte, sie in die Sklaverei zu entführen, dann hätten wir Engländer in Guayana keinen ruhigen Tag mehr. Nein, Oronapi, schafft sie euch selbst vom Halse, ihr dürft es tun!” Er machte eine abwehrende Handbewegung, zum Zeichen, daß er davon nicht mehr zu sprechen wünsche. Oronapi war verlegen geworden. Mißmutig und ängstlich blickte er zu mir herüber, dann forschte er in den Zügen der Freunde, als suchte er bei ihnen den erlösenden Rat. Ihre Mienen waren jedoch genauso verschlossen wie die meine. Die Sache war äußerst unangenehm und kompliziert. Zwei Möglichkeiten waren völlig ausgeschlossen: Die Gefangenen durften nicht kaltblütig umgebracht werden, dagegen wehrte sich mein inneres Empfinden; aber man konnte ihnen auch nicht einfach die Freiheit schenken, dagegen standen die Moralbegriffe und die Bräuche der Indianer. Da diese beiden Lösungen wegfielen, mußte ein dritter Ausweg gefunden werden, und das wollte uns nicht gelingen. Weil die Angelegenheit so ernst war, rief Oronapi die Häuptlinge und die ältesten Krieger seines Stammes zu einer Beratung zusammen, an der auch die Arawaken und die Neger teilnahmen. Die vierzehn Gefangenen lagen an einer erhöhten Stelle unweit des Versammlungsplatzes. Ihr ständiger Anblick reizte die Männer und ließ die allgemeine Erbitterung gegen sie noch wachsen. Mir wurde zuerst das Wort erteilt. Vorsichtig brachte ich die Rolle, die ich bei der Vernichtung der feindlichen Expedition gespielt hatte, in Erinnerung, verwahrte mich gleichzeitig gegen die Überschätzung meiner Verdienste und sprach dann standhaft die eindringliche Bitte aus, die Gefangenen zu schonen, wofür ich zwei Gründe anführte. Erstens sei es mein unumstößlicher Grundsatz, Gefangene niemals zu töten, und zweitens werde sich die Großherzigkeit, den Gefangenen die Strafe zu erlassen, in Zukunft reichlich bezahlt machen, da sie uns im Süden Freunde schaffe. Meine Worte rührten diesmal weder an den Verstand noch an die Herzen der Zuhörer. Vielleicht war ich zu übermüdet, vielleicht wirkte auch das mit Powell geführte Gespräch über den politischen Appetit der Engländer in mir nach. Wenn ich von den Indianern etwas forderte, das gegen ihre Ansichten war, so pflegten sie leidenschaftlich zu widersprechen. Dieser oder jener ließ alle möglichen Einwände vom Stapel, und mir fiel es dann zu, mit der Unterstützung Arnaks und Waguras die stürmischen Meinüngsströmüngen in ein für uns günstiges Bett zu leiten. Heute aber war es völlig anders. Meine arawakisch gesprochene Rede, die Fujudi ins Warraulische übersetzte, wurde von den Indianern kühl, auffallend fügsam und ohne jeden Widerspruch hingenommen. Sie verschlossen sich mir, und das war ein schlechtes Zeichen für mich. Das Schweigen wurde schließlich unerträglich, es war geradezu beschimpfend; da räusperte sich endlich Jaki und erklärte mit aufrichtiger Stimme: „Weißer Jaguar, unser großer Freund! Du hast viele Worte gesprochen, um uns zu über-zeugen, aber du hast vergessen, daß ein Wort von dir, ein kurzer Befehl, genügt, und wir, deine ergebenen Freunde, werden ihn erfüllen, selbst wenn uns das Herz darüber brechen sollte. Warum hast du kein solches Wort gesprochen, warum redest du nur von Großherzigkeit und vom Erlassen der Strafe? Weißt du nicht, daß die Akawois einen derartigen Entschluß nach dem Recht der Wildnis als Furcht auslegen würden, daß sie uns verachten würden und nur darauf bedacht wären, so schnell wie möglich wieder-zukommen und uns zu vernichten? Es wäre unbesonnen, uns gegenüber diesen Mördern so dumm zu verhalten.” Seine Worte überzeugten die Krieger, und das allgemeine Murmeln bestätigte, daß Jaki ihnen aus dem Herzen gesprochen hatte. Als wieder Ruhe eingetreten war, fragte ich, was die Krieger also mit den Gefangenen tun wollten. Keiner konnte mir antworten, bis auf Konauro, der folgenden Vorschlag machte: „Der Weiße Jaguar hat uns aufgefordert, den Gefangenen die Freiheit zu geben. Lassen wir sie also frei. Da sie aber eine Strafe verdient haben und damit ihnen die Lust vergeht, sich in Zukunft wieder an uns zu vergreifen, werden wir ihnen die rechte Hand abschlagen.” Dieser Vorschlag gefiel den Indianern sehr. Abwartend blickten sie mich an. Leider wurden sie abermals enttäuscht, denn ich schüttelte energisch den Kopf und brachte auf diese Weise wortlos meinen Widerspruch zum Ausdruck. „Das Abschlagen der rechten Hand ist keine so grausame Strafe”, setzte Konauro auseinander. „Ich erinnere mich, einmal einem englischen Matrosen begegnet zu sein, der mir von ähnlichen Bräuchen in seiner Heimat berichtet hat. Er versicherte mir, daß es in England bereits bei einem kleinen Diebstahl üblich sei, dem Missetäter die rechte Hand abzuschlagen. Vielleicht hat der Matrose gelogen.” „Er hat nicht gelogen, es ist wirklich so”, gab ich zur Antwort. „Nur gibt es in England Ärzte, die den Armstummel sofort verbinden, so daß der Dieb nicht zugrunde geht. Wenn aber wir den Gefangenen die Hand abschlagen, so werden sie verbluten. Nein, diesen Vorschlag können wir nicht annehmen.” In den Augen der Indianer erschien ich als widerspenstiger Starrkopf. Sie wurden ungeduldig, und ich fühlte, daß sich die Unruhe gegen mich richtete, daß ich langsam den Boden unter den Füßen verlor. Mit sorgenvollem Ausdruck sah Arnak zu mir herüber. Sollte ich den Bogen überspannt haben? Plötzlich zwinkerte mir Arasybo verständnisvoll mit seinem schielenden Auge zu und verzog den Mund zu einem Lächeln, womit er die Häßlichkeit seines Gesichts, das in diesem Augenblick der abstoßenden Fratze eines bösen Dämons glich, noch unterstrich. Dann erhob er sich, damit ihn alle besser sehen und hören konnten. „Eben habe ich die Stimmen großer Krieger vernommen, außerordentlicher Kämpfer”, begann er mit heuchlerischem Spott, „doch verstehen sie sich sichtlich besser darauf, einen Gegner niederzuringen als in ihrem Kopf einen vernünftigen Gedanken zu fassen. So viele Krieger sitzen hier beisammen und wissen nicht, was sie mit einem Häufchen verfangener Feinde beginnen sollen? Ich weiß, warum dem so ist! Ihr wollt selbst einen Aus-weg finden und erkennt nicht, daß dafür der menschliche Verstand zu schwach ist. So werde ich euch sagen, wo ihr ratlosen Männer die Antwort darauf suchen müßt, was ihr mit den Gefangenen beginnen sollt.” Er verstummte und freute sich wie ein Kind über den Eindruck, den er hervorgerufen hatte. „Wenn du Rat weißt, Zauberer, dann halte damit nicht zurück!” rief Kokuj. „Ich werde euch raten”, antwortete Arasybo. „Wo sollen die Menschen Zuflucht suchen, wenn sie nicht wissen, was sie tun sollen? Bei den unsichtbaren Mächten! Sie sind es, die am besten über Leben und Tod entscheiden.” In mir regten sich sofort Vorbehalte gegen Arasybos Trick mit den Geistern; doch die Indianer waren anderer Meinung, sie nahmen die Worte des Zauberers äußerst beifällig auf. „Sprich deutlicher”, forderte ich Arasybo auf, ohne meinen Unwillen zu verbergen. „Hast du etwas Bestimmtes im Sinn?’ „Ja, Weißer Jaguar, etwas ganz Bestimmtes! Das Wasser wird uns die Antwort geben, welcher Gefangene es verdient, am Leben zu bleiben, und welcher umkommen muß. Das Wasser ist ein gerechter Richter.” Dann erklärte er seinen Vorschlag näher. Die Warraulen hatten ihm erzählt, daß sich der Guapo unterhalb Kaiiwas auf eine Breite von nicht einmal hundert Schritt verenge und daß es an dieser Stelle von räuberischen Fischen, den Humas, nur so wimmle. Wenn die Gefangenen diese Flußenge durchqueren müßten, so würden die geheimen Mächte ihr Urteil fällen, zum Nutzen oder zum Untergang der Schwimmer. Sie, nicht die Menschen, würden richten, und das Urteil würde gerecht sein. „Euer Zauberer ist klug, er weiß trefflichen Rat!” rief Oronapi erregt. Auch die übrigen billigten das Vorhaben Arasybos. Der allgemeinen Begeisterung konnte ich mich nicht länger widersetzen — schließlich mußte ein solches Gottesgericht nicht unbedingt mit dem Tode der Gefangenen enden. „Und wenn sie das andere Ufer erreichen, dann sind sie frei und können gehen, wohin sie wollen?” wollte ich noch wissen. „Dann sind sie völlig frei”, antwortete Arasybo, und Oronapi wiederholte diese Versicherung. Wir beschlossen, die Gefangenen sofort an die enge Stelle des Guapo zu bringen, doch tauchte eine neue Schwierigkeit auf: Fünf der Akawois hatten. so schwere Wunden, daß sie keiner Anstrengungen fähig waren. Unmöglich waren sie in der Lage, um ihr Leben zu schwimmen. Ich erreichte bei den Warraulen, daß diese fünf jetzt verschont wurden und erst nach einem Monat, sobald sie zu Kräften gekommen waren, der Probe unterzogen werden sollten. Die Stelle, an der die Gefangenen den Fluß durchschwimmen sollten, war tatsächlich nicht breiter als achtzig Schritt. Das langsam dahinfließende Wasser sah friedlich und unschuldig aus. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, daß unter seiner ruhigen Oberfläche die blutgierigen Humas lauerten. Ich war ihnen erst einmal begegnet, und zwar an dem Tage, da wir im Potarosee die Apias jagten. Jedesmal wenn ich daran dachte, schüttelte es mich vor Ekel. Vielleicht waren die mörderischen Bestien gerade nicht in der Nähe, denn Fische wandern doch von einer Stelle zur andern! Mehrere Warraulen setzten auf das andere Ufer über, um von der Zielseite her das Schauspiel zu verfolgen. Als Herrscher über das umliegende Gebiet übernahm Oronapi die Aufsicht über die Vollstreckung des Urteils und bestimmte, daß Dabaro zuerst den Fluß durchschwimmen solle. Als den Akawois bekanntgegeben wurde, was ihnen bevorstehe, veränderten sie kaum ihren Ausdruck, ihre Gesichter blieben nach wie vor stolz und verschlossen. Diese Krieger sahen dem Tod kaltblütig ins Auge, in ihrer Selbstbeherrschung ähnelten sie sehr den Indianern Nordamerikas. Als gewähre er eine Gnade, öffnete Dabaro ein wenig den Mund und fragte: „Wenn wir das andere Ufer erreichen, dann geschieht uns nichts weiter?” „Nein”, antwortete der Oberhäuptling, „dann könnt ihr an den Cuyuni zurückkehren.” Dabaro verzog die Lippen zu einem ironischen Lächeln und knurrte: „Aber wie? Wir besitzen kein Boot!” Oronapi, der überzeugt war, daß alle Gefangenen durch die Humas zugrunde gehen würden, lächelte wohlwollend über die Umsicht dieses Verurteilten und versprach bereitwillig: „Sei unbesorgt, wir geben euch eine Itauba.” Dabaro, dem einige Minuten vorher die Fesseln abgenommen worden waren, stieg daraufhin vorsichtig in den Guapo. Er ging langsam, um das Wasser nicht aufzuwühlen, und schwamm ganz ruhig, ohne die Glieder viel zu bewegen. So schob er sich allmählich vorwärts und hoffte, der Aufmerksamkeit der Humas zu entgehen, wenn sie sich in der Nähe aufhalten sollten. Er schien tatsächlich richtig zu handeln, denn er schwamm immer weiter, ohne angefallen zu werden. Wir verfolgten jede seiner Bewegungen mit wachsender Spannung. Die meisten wünschten seinen Tod und wurden ungeduldig, als er unangefochten die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte. Ein hitzköpfiger Warraule — die Akawois hatten seine Frau und seinen Bruder erschlagen — schleuderte Dabaro einen größeren Ast nach, der in der Nähe des Schwimmenden ins Wasser fiel und durch das plätschernde Geräusch die Humas anlocken sollte. Zornig schrie ich ihn an, daß man die verborgenen Mächte nicht durch betrügerische Listen hintergehen dürfe. Oronapi und Arasybo stimmten mir zu. Immer noch schwamm der Indianer unangefochten dahin. Noch dreißig Schritt fehlten ihm bis zum Ziel, jetzt waren es nur noch zwanzig. Drei Viertel der Strecke, die Leben und Freiheit bedeutete, lag bereits hinter ihm. Mehrere hundert Augen hingen gebannt an jeder seiner Bewegungen. In einigen Indianern war der Wunsch, er möge untergehen, so stark, daß sie unwillkürlich die geballte Faust hoben und ihm mit wutverzerrten Gesichtern drohten. Das rettende Ufer kam immer näher. Dabaros Bewegungen wurden hastiger, mit kräftigen Stößen versuchte er das Land schneller zu erreichen. Plötzlich, als habe ihm jemand einen Schlag versetzt, tauchte er mit einem verzweifelten Schwung weit aus dem Wasser empor und entschwand gleich darauf unseren Augen. Als er wieder auftauchte, schlug er wie rasend um sich. „Sie haben ihn!” Ein vielstimmiger Freudenschrei hallte über das Wasser. „Sie haben ihn! Es geht mit ihm zu Ende!” Es gab keinen Zweifel, die Humas hatten zugepackt, aber es waren nur noch wenige Schritte bis zum Ufer. Der sich wie wahnsinnig gebärdende Dabaro legte sie zurück und zog seinen Körper mit letzter Kraft aus dem Wasser. Wir sahen von weitem, daß einige der gefräßigen Fische hoch aus dem Wasser sprangen, um ihn zu erreichen, doch er befand sich bereits in Sicherheit. Drei Schritt vom Ufer entfernt lag er auf dem Sand und blutete aus vielen Wunden an Bauch, Brust und Beinen. „Er hat es geschafft!” stellte Arnak ruhig fest. „Er wird leben.” Der nächste Akawoi zögerte, denn er sah, was sich im Wasser abgespielt hatte, und verlor den Mut. Er wurde mit Gewalt in den Fluß gestoßen. Hastig schwamm er vorwärts und peitschte mit den Armen die Oberfläche des Wassers. Noch hatte er nicht die Hälfte der Enge erreicht, als die Bestien über ihn herfielen. Er warf sich verzweifelt nach allen Seiten, doch nach etwa zwanzig Stößen, die immer schwächer wurden, verschwand er in der Tiefe und kam nicht wieder zum Vorschein. Diesmal war es kein Freuden-schrei, sondern ein lang anhaltendes, sich steigerndes Murmeln, das die Genugtuung der Menge zum Ausdruck brachte. „Der nächste!” rief Oronapi. Immer mehr und mehr der blutdürstigen kleinen Fische kamen herbei, an einigen Stellen drängten sie sich dicht unter der Oberfläche des Wassers und verursachten Wirbel, manche sprangen über das Wasser empor und zeigten einen Augenblick ihre glitzernden Schuppen. Diese Fische bewiesen eine wahrhaft teuflische Gefräßigkeit. So war es kein Wunder, daß der nächste, der dritte, und gleich darauf der vierte und auch der fünfte Akawoi nach kurzem Kampf im Wasser versanken. Darauf schickte Oronapi drei auf einmal in den Fluß. Die beiden vorderen fielen bald den Humas zum Opfer, die sich in Scharen auf sie warfen, während der dritte Indianer, der etwas abseits und weiter hinten schwamm, anfangs unbeachtet blieb, so daß es ihm gelang, wenn auch mit zahlreichen Bißwunden, glücklich das jenseitige Ufer zu erreichen. Der Haß in den Herzen der Warraulen war so stark, daß sie die Rettung des zweiten Akawois mit Verwünschungen begleiteten. „Was für ein wildes Volk’, sagte ich laut zu Arnak und Wagura. „Es achtet seine eigenen Worte nicht!” Plötzlich bemerkte ich auf der anderen Seite der Enge eine Bewegung. Mehrere mit Spießen bewaffnete Warraulen näherten sich von hinten den beiden liegenden Akawois. Entschieden hegten sie böse Absichten. Als ich Oronapi darauf aufmerksam machte, schrie ihnen der Häuptling zu, sie sollten sofort zurückkehren. Daraufhin blieben sie stehen, setzten aber ihren Weg gleich wieder fort. Jetzt hatte der erste Dabaro erreicht und hob den Spieß, um zuzustoßen. Ich griff zur Büchse und zielte. Zugleich mit dem Krachen des Schusses stieß der Warraule einen Schmerzensschrei aus, ließ seine Waffe fallen und hielt sich den rechten Unterarm. Genau dorthin hatte ich gezielt, die Kugel hatte richtig getroffen. Der getroffene Warraule rannte davon, und seine Gefährten folgten ihm. Unter den Indianern, die mich umstanden, herrschte Grabesstille. Alle waren wie versteinert. Während ich die Büchse wieder lud, schrie ich Oronapi wütend an, um ihn gar nicht erst zur Besinnung kommen zu lassen: „Ein rohes Volk ist das! Ein verräterisches Volk!” Doch der Oberhäuptling war ganz zahm. Er hatte gar nicht im Sinn, sich gegen mich aufzulehnen. „Das war gut so, Weißer Jaguar”, bekannte er offen. „Den Schädel hätte man ihm zerschmettern sollen.” Um mich zu besänftigen, schlug Oronapi vor, dem letzten Akawoi das Leben zu schenken und ihn nicht ins Wasser zu schicken. Alle Anwesenden, einschließlich Arasybo, waren sofort damit ein-verstanden. So blieben drei Gefangene vor dem Tode bewahrt. Etwas später kam Kapitän Powell, der in der Nähe gestanden hatte, zu mir. Seine Augen flackerten vor Erregung. „Ich habe den Vorfall mit Oronapi beobachtet”, sagte er und ergriff meine Hand. „Unglaublich, wie die Indianer Sie verehren! Sie haben sie völlig in der Hand, ich werde an der richtigen Stelle darüber Meldung erstatten. Wie herrlich haben Sie diese Szene gespielt, es war großartig, wie Sie den Erzürnten vorgetäuscht haben!” „Ich habe überhaupt nichts vorgetäuscht, ich war wirklich zornig!” Powell trat einen halben Schritt zurück, als könne er mich so besser betrachten. „Sie haben nicht gespielt? Das war keine Täuschung?” „Nein.” „Unglaublich, by Jove!” Seine Verwunderung steigerte sich noch. Ich wurde langsam ungeduldig. Dann konnte ich nicht mehr an mich halten und stieß hervor: „Es erscheint Ihnen nur deshalb verwunderlich und unverständlich, weil Sie ausschließlich in Ihrer allzu engen Vorstellungswelt leben. Ich täusche die Indianer nicht, ich spiele ihnen nichts vor, und darin besteht der ganze Unterschied zwischen Ihnen und mir. Meine Freundschaft zu den Eingeborenen ist echt!” „Goddam you, wer soll Sie verstehen?” brummte Powell vor sich hin und schien in Gedanken versunken. Eine Stunde später trafen zahlreiche Gäste vom gegenüberliegenden nördlichen Ufer des Orinoko bei uns ein. Dort lebte ein volkreicher Zweig der Warraulen, die nicht der Herrschaft Oro-napis unterstanden. Fünfzehn mit Kriegern bemannte Itauben brachten uns Hilfe. Sie wurden von Abassi, dem Oberhäuptling des Stammes, angeführt, einem Menschen mit sehr energischem Gesichtsausdruck und noch jung an Jahren. Auch diesen Warraulen hatten die Akawois böse mitgespielt. Ihnen gehörte jenes Dorf, das die Räuber überfallen hatten. Es waren ihre Männer, die wir auf dem Hauptarm des Flusses befreit hatten. Sie waren nicht nur gekommen, um Hilfe zu bringen, sondern äußerten die Bitte, ob sie nicht mit den Arawaken ein Bündnis schließen könnten, wie dies Oronapi getan hatte. Ob wir dazu bereit wären? „Dazu sind wir bereit!” versicherte ich ihnen freundschaftlich. In den Nachmittagsstunden wurde im Verlauf einer großen Beratung, an der alle anwesenden Häuptlinge und viele erprobte Krieger teilnahmen, ein Beschluß gefaßt, der für die Indianer am unteren Orinoko von unabsehbarer Tragweite war. Zwischen den Stämmen der nördlichen und der südlichen Warraulen sowie der Arawaken vom Itamaka wurde ein feierliches Verteidigungsbündnis geschlossen und mir der Oberbefehl in diesem Bündnis übertragen. Sechzig junge Warraulen sollten mit uns auf unbestimmte Zeit nach Kumaka fahren, um sich dort im Umgang mit Feuerwaffen zu üben und sich die allgemeinen Regeln der Kriegskunst anzueignen. Oronapi und Abassi verpflichteten sich, nicht nur die Nahrungsmittel für die sechzig Krieger zur Verfügung zu stellen, sondern darüber hinaus noch einmal soviel Lebensmittel, Matten und Itauben der Sippe des Weißen Jaguars aIs Entschädigung anzubieten. Wir alle begrüßten das Zustandekommen des Bündnisses mit heller Begeisterung, auch Kapitän Powell zeigte sich darüber äußerst erfreut. Er hegte die feste Hoffnung, daß der gegen die Tyrannei der Spanier gerichtete Bund früher oder später dazu beitragen werden, den Engländern die Besitzergreifung des Orinokogebietes zu erleichtern. Und damit die Indianer bereits jetzt die Freigebigkeit der Engländer kennenlernten, schenkte der durchtriebene Powell dem eben gegründeten Bund zehn neue Büchsen sowie dreißig Pfund Pulver und einen Zentner Blei nebst den zum Gießen der Kugeln benötigten Geräten. Ich veranlaßte die Warraulen, dem Engländer nichts schuldig zu bleiben und ihm eine Anzahl Matten, von denen sie einen großen Vorrat besaßen, als Gegengeschenk anzubieten. Selbst erklärte ich dem Kapitän: „Meinen besten Dank für dieses schöne Geschenk. Bedenken Sie aber, daß ich meinen Standpunkt zur Zukunft dieser Indianer und dieses Landes niemals ändern werde. Es würde mir sehr leid tun, wenn die uns von einem Engländer geschenkten Büchsen einmal Engländer töten müßten, die sich ohne rechtlichen Grund am Orinoko festsetzen wollten.” „Kommt Zeit, kommt Rat, und Sie werden Ihre Ansichten ändern.” „Zeit kommt, aber meine Ansichten werde ich niemals ändern”, gab ich mit fester Stimme zur Antwort. Als nach einer Stunde die Ebbe einsetzte und Kapitän Powell mit seiner Besatzung die letzten Vorbereitungen zur Abfahrt der Brigg traf, wandte ich mich an Pedro, der neben mir am Ufer stand: „Noch ist es Zeit, überlege es dir! Kapitän Powell kommt an Trinidad vorüber und wird dich gern in einem spanischen Hafen der Insel an Land setzen.” „Willst du mich mit Gewalt loswerden, Jan?” rief der Jüngling vorwurfsvoll. „Aber nein! Nur mußt du dich jetzt entscheiden, mein Freund.” „Ich habe mich entschieden: Ich bleibe bei euch! Hier habe ich noch eine Mission zu erfüllen.” „Eine Mission?” „Ich werde die Indianer lesen und schreiben lehren.” „Donnerwetter!” platzte ich verwundert heraus. Als ich dann aber über meine eigene Zukunft nachdachte, entdeckte ich, daß auch ich nicht mehr so sehnsüchtig an die Rückkehr nach Virginia dachte, als hätte ich hier meine Heimat und die Erfüllung meines Herzenswunsches gefunden. Und band mich nicht wirklich mein Herz hier fest? Nach der Abreise Powells ließ ich die drei Gefangenen herbeiführen. Sie zeigten äußerst betrübte Mienen, was ich nicht ganz begreifen konnte. Arnak gab ihnen ihre Waffen zurück, Oronapi ließ ihnen Reiseverpflegung herrichten und schenkte ihnen eine kleine Jabota. „Ihr seid nun frei”, teilte ich den Akawois mit, „und ihr könnt alles tun, was einem freien Krieger zusteht. Nur kommt nicht etwa auf den dummen Gedanken, uns jetzt noch einen Schaden zuzufügen. Dann würden eure fünf Stammesgenossen, die wir als Geiseln hierbehalten, sofort getötet werden. Ich glaube, daß es mir gelingen wird, sie nach ihrer Genesung gesund nach Hause zu schicken.” „Wir haben nicht die Absicht, euch zu schaden”, knurrte Dabaro. „Auf welchem Wege wollt ihr an den Cuyuni zurückkehren?’ „Entlang der Küste.” „Warum seid ihr so mißmutig?’ fragte ich ihn geradeheraus. „Bist du nicht froh, daß ich dir das Leben gerettet habe?” „Nein! Es wäre mir lieber, ihr hättet mich hier erschlagen wie einen Hund.” „Ach so. Du schämst dich, weil ihr besiegt wurdet?’ „Ja, ich schäme mich. Unsere Gefährten am Cuyuni werden uns verachten und verspotten, vielleicht sogar töten.” „So sage ihnen, daß wir schon größere Gegner besiegt haben, zum Beispiel die Spanier, obgleich sie bis an die Zähne bewaffnet waren. Ich möchte dir überhaupt den Rat geben, deine Stammesbrüder am Cuyuni zu warnen. Erzähle ihnen alles, was du hier gesehen hast, sie sollen wissen, daß wir stechen und beißen wie Hornissen und Jaguare und daß man uns besser in Ruhe läßt.” Ich konnte schwer erraten, was sich hinter der düsteren Miene Dabaros verbarg, doch waren es wohl kaum Gedanken der Rache, sondern eher Scham und das bittere Empfinden der erlittenen Niederlage. „Ja, man läßt uns besser in Ruhe!” schrie ich laut und deutete mit der Hand gegen den Himmel. „Sieh, Dabaro! Sieh doch!” Hunderte schwarzer Geier waren aus allen Richtungen herbeigeflogen und kreisten als hungrige Meute über der Insel Kaiiwa. Die toten Warraulen und Arawaken waren schon am Tage zuvor vom Kampfplatz entfernt worden, doch die Leichen der Akawois lagen noch umher. Sie waren es, die die Aasfresser zum Totenschmaus anlockten. Es war ein widerwärtiger Anblick, wenn die ekelhaften schwarzen Vögel die Leichen der gefallenen Krieger in Stücke rissen. Ich trug deshalb Oronapi auf, alle noch vorhandenen Toten so schnell wie möglich vergraben zu lassen. Dann schickte ich die drei Akawois auf die Reise. So ging die Periode der gewaltsamen Ereignisse und bedeutsamen Entscheidungen zugleich mit dem Ablauf dieses Tages zu Ende. Allmählich wurde es kühler, und Ruhe kehrte ein. Am Himmel verbreitete sich der blutigrote Schein der untergehenden Sonne, der Erde entströmten die ersten Dünste des heraufziehen-den Abends, und die Menschen fanden langsam das Gleichgewicht ihrer Seelen wieder. Nach all den Aufregungen empfanden wir eine bleierne Müdigkeit und betrübende Gedankenschwere. Viel-leicht lag es daran, daß noch immer der Geruch des Brandes und des vergossenen Blutes in der Luft lag. Als dann noch unsere neuen Freunde, Abassi und seine Warraulen, Kaiiwa verließen, wurden die Ruhe und die Leere noch drückender. Die schwarzen Geier kreisten bis zum späten Abend über der Insel. Am nächsten Tag aber waren sie nicht mehr da, auch die Trauer war verflogen. Mit den ersten Sonnenstrahlen brachen wir auf und fuhren Kumaka entgegen. Der Urwald rings um uns erwachte. Die Vögel schmetterten ihr Morgenlied, überall prangte die ewig grüne Pracht, die Wildnis strotzte vor Lebenslust. In den goldenen Strahlen der morgendlichen Sonne flogen große Vögel von einem Ufer zum andern, keine schwarzen Vögel und keine Raubvögel. Es waren die edlen Papageien, die Araraunas. Sie prangten in so leuchtenden und herrlichen Farben, daß sie mir in diesem Augenblick als die vollkommensten Geschöpfe unter den Tieren des Himmels erschienen. Ihr Anblick war so bezaubernd, daß er meine Hingabe an die unaussprechliche Macht der Wildnis und an ihre überwältigende, unvergängliche Schönheit festigte. Ist es verwunderlich, daß mein Herz an diesem Morgen freudig schlug? Hoch oben glitten zauberhafte Vögel dahin, und hier unten, dicht an meiner Seite, war Lasana, waren Arnak und Wa-gura und Pedro, waren alle meine Freunde — und ringsum erklang das muntere Geräusch der Ruder, mit denen wir gemeinsam den Ufern unseres Itamaka zustrebten. Worterklärungen Buenas dias    spanisch „Guten Tag” Englische Meile    1609 m Fuß    etwa 30 cm Kaiman    bis zu 4 m lange krokodilartige Panzerechse Klafter    1,883 m Konquistadoren    „Eroberer”, die in Amerika für Spanien Land in Besitz nahmen Llano    südamerikanische Grassteppe Rancho    Niederlassung von Viehzüchtern Temblador    spanisch „der Erschütternde” oder der elektrische Zitteraal We must kill them all    Wir müssen sie alle töte